close

changeX Login

Bitte loggen Sie sich ein, wenn Sie Artikel lesen und changeX nutzen wollen.

Sie haben Ihr Passwort vergessen?
Jetzt neu registrieren.
Barrierefreier Login

Das soziale System im Blick

Ein Interview mit den Autorïnnen des Mini-Handbuchs Systemisches Coaching
Interview: Winfried Kretschmer

Den Blick weiten. Ihn aufs soziale System lenken. Und so eine für dieses System und die gegebene Situation passende Lösung finden. Dabei möchte Systemisches Coaching unterstützen. Das Ziel: Im System und mit dem System selbst eine Lösung zu finden. Ein Interview über die Grundlagen.

p_koenig_volmer_koenig_montage_620.jpg

Prof. Dr. Eckard König und Dr. Gerda Volmer sind die Begründer des Systemischen Coachings in Deutschland und führen seit 30 Jahren Ausbildungen in Systemischer Organisationsberatung und Systemischem Coaching durch. Mareike König, Diplompädagogin, rechts im Bild, ist interner Coach in einem Großunternehmen und Trainerin für die Master-Ausbildung Systemisches Business-Coaching.
 

Sie sprechen vom systemischen Blick. Was zeichnet diesen systemischen Blick aus? 

Gerda Volmer: Üblicherweise sind wir in unserer Arbeit auf den Inhalt ausgerichtet: Wir analysieren Probleme, entwickeln Lösungen und versuchen, sie umzusetzen. Doch das greift nicht selten zu kurz. Probleme sind eingebunden in einen sozialen Kontext, in ein Geflecht verschiedener Personen, die Erwartungen oder Befürchtungen haben, in geltende Regelungen einer Organisation - in ein soziales System. Die Aufmerksamkeit darauf zu richten, ist der systemische Blick.
 

Geben Sie uns ein Beispiel? 

Gerda Volmer: Machen wir es an einem Beispiel aus einem unserer Coachingprozesse fest. Eine selbständige Gesellschaft in einer Kommune bekommt eine neue Geschäftsführerin. Zuvor war die Stelle längere Zeit nicht besetzt, jede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter machte gleichsam, was er oder sie wollte. 

Die neue Geschäftsführerin bekommt den Auftrag, die Gesellschaft wieder profitabel zu machen. Sie geht das Thema mit hohem Engagement und hoher fachlicher Kompetenz an. Erste Erfolge zeigen sich. Aber: Die Mitarbeitenden kommen damit nicht zurecht; einige werden krank, einige kündigen. Ein Mitarbeiter schickt eine Überlastungsanzeige. 

Was ist hier passiert? Die neue Geschäftsführerin hat den Blick nur auf den Inhalt gerichtet, aber nicht auf das soziale System: darauf, dass von ihren Maßnahmen Personen betroffen sind, die bestimmte Befürchtungen haben, etwa dass gewohnte Abläufe plötzlich geändert werden. Es entstehen Verhaltensmuster: Die Geschäftsführerin macht zunehmend Druck, die Mitarbeitenden reagieren zunehmend mit Abwehr.
 

Ganz allgemein gefragt: Was muss man wissen, um systemisches Denken zu verstehen? 

Eckard König: Systemisches Denken ist ein Modell, das uns hilft, komplexe Situationen zu verstehen und "bewusster" und letztlich auch erfolgreicher zu handeln. Unser Grundverständnis von systemischem Denken lässt sich in sechs Fragen formulieren: 

Erstens: Welche Personen spielen hier eine Rolle? Das sind sicherlich die neue Geschäftsführerin, die einzelnen Teammitglieder, aber auch der Aufsichtsrat. 

Zweitens: Was denken und empfinden die einzelnen Personen? Die Geschäftsführerin sieht sich unter Druck, sie will erfolgreich sein. Auch die Mitarbeitenden sehen sich unter Druck, sie sind der Überzeugung, dass sie die Menge an Arbeit nicht schaffen können. 

Drittens: Es entstehen immer wiederkehrende Muster, die sich wechselseitig verstärken - in der Systemtheorie sprechen wir hier von Regelkreisen: Die Geschäftsführerin stellt Forderungen, Mitarbeitende wehren ab - "das schaffen wir nicht" -, die Geschäftsführerin macht mehr Druck. 

Viertens: Welche Regeln spielen hier eine Rolle? Zuvor galt die Regel, dass jeder Mitarbeiter oder jede Mitarbeiterin für sich entscheiden konnte, wie er oder sie vorgeht. Die neue Geschäftsführerin führt neue Regeln ein, zum Beispiel, dass die einzelnen Aufgaben mit ihr abzusprechen sind, dass sie die Ausgaben kontrolliert et cetera. 

Fünftens: Welchen Einfluss hat die Systemumwelt und wie ist die Grenze zur Umwelt? Umwelt ist zum einen die materielle Umwelt, zum Beispiel das Ablagesystem. Umwelt ist aber auch der Verwaltungsrat der Stadt, der mit Forderungen an die Gesellschaft herantritt. Dabei werden auch Systemgrenzen deutlich: Es gibt keine klare Systemgrenze zwischen Verwaltungsrat und Geschäftsführerin - alle Forderungen des Verwaltungsrats gibt sie ungefiltert weiter. Zugleich entsteht zunehmend eine Systemgrenze zwischen der Geschäftsführerin und dem Team, es bilden sich Fronten. 

Schließlich sechstens: Welche Bedeutung hat die Vorgeschichte? Hier lassen sich verschiedene Phasen unterscheiden: Die Phase des vorigen Geschäftsführers, der einsame Entscheidungen getroffen hat, und eine relativ lange Phase, in der die Leitung nicht besetzt war.
 

Ihr Buch widmet sich dem systemischen Coaching. Was setzt systemisches Coaching voraus? Gibt es eine Grundhaltung, eine Prämisse, eine nicht hintergehbare Annahme dabei? 

Gerda Volmer: Systemisches Coaching bedeutet, den oder die Coachee zu unterstützen, immer auch das soziale System in den Blick zu nehmen. Dieses Grundprinzip ist zugleich mit einer Grundhaltung des oder der Coachïn verbunden: Es ist nicht seine oder ihre Aufgabe, die "richtige" Lösung vorzugeben. Sondern was in dieser Situation "richtig" ist, "entscheidet das System". Coaching kann damit immer nur bedeuten, den oder die Coachee zu unterstützen, den Blick zu weiten, das soziale System in den Blick zu nehmen und auf dieser Basis die für dieses System, für diese Situation "richtige" Lösung selbst zu finden. Wir formulieren es häufig in unseren Coachingprozessen: Wir haben als Coaches Vertrauen in die Kompetenzen unseres oder unserer Coachees - aber auch Vertrauen in uns, diesen Prozess achtsam und kompetent zu begleiten.
 

Wollen wir das an einem Beispiel durchspielen? Nehmen wir Selbstmanagement, ein Kapitel in Ihrem Buch. Was unterscheidet systemisches Selbstmanagement von anderen Selbstmanagementansätzen? 

Mareike König: Bleiben wir bei obigem Beispiel: Der Stellvertreter der neuen Geschäftsführerin, er war schon lange in dieser Position, klagte über Überlast. Die Erwartung der neuen Geschäftsführerin zielte eindeutig in Richtung Selbstmanagement: "Sie müssen Ihre Arbeitsmethodik verbessern." Doch das brachte keine Lösung, sondern verstärkte nur den Druck. Im Coaching mit der Geschäftsführerin und ihrem Stellvertreter wird klar: Hier spielen die verschiedenen Faktoren eines komplexen sozialen Systems mit hinein. Gehen wir diese Faktoren anhand des obigen Beispiels durch: 

Personen: Im Coaching wird klar, dass im Hintergrund der Verwaltungsrat steht, der Erwartungen an die neue Geschäftsführerin hat. Die neue Geschäftsführerin stellt viele Anforderungen an das Team und die Teammitglieder. 

Subjektive Deutungen: Die Wahrnehmung der Geschäftsführerin und ihres Stellvertreters ist problemorientiert: Sie sehen nur die Probleme und verschärften dadurch ihr Stressempfinden. Die Veränderung der subjektiven Deutungen schafft neue Ansatzpunkte. Im konkreten Beispiel schärfen die Geschäftsführerin und auch ihr Stellvertreter den Blick für das, was sie mittlerweile geschafft haben. Mit dieser neuen Bedeutung geht es beiden tatsächlich deutlich besser. 

Regeln: Regeln können persönliche Regeln oder Regeln im Umgang miteinander sein. Die persönliche Regel der Geschäftsführerin "ich muss die Anforderungen des Verwaltungsrats umsetzen", aber auch die Regel, dass alle Berichte über ihren Schreibtisch gehen müssen, sind in diesem Beispiel Schlüsselfaktoren. Diese Regeln bewusst zu machen und erste Schritte der Veränderung zu gehen, war einer der Erfolgsfaktoren im Coaching. 

Regelkreise: Regelkreise können innere Regelkreise sein wie etwa langes Grübeln, das dazu führt, dass dann die Arbeit nicht erledigt wird. Es können aber auch Regelkreise zwischen verschiedenen Personen sein - wie der Regelkreis "die Geschäftsführerin macht mehr Druck - die Teammitglieder reagieren mit Widerstand". Der Blick auf den Regelkreis und das Herausarbeiten von Veränderungsansätzen ist hier der Schlüssel, im systemischen Selbstmanagement Veränderungen anzustoßen. 

Die Umwelt: Hier war bereits die materielle Seite in Form von sehr ungeordneten Unterlagen und Ablagesystemen ein Aspekt des Stresserlebens. Als soziale Umwelt kam der Verwaltungsrat in den Blick - und die Systemgrenze zwischen Verwaltungsrat und Team sowie zwischen der neuen Leitung und dem Team. 

Entwicklung: Die Situation hat eine Vorgeschichte: die autoritäre Führung des vorherigen Geschäftsführers, dann die lange Zeit, in der die Leitungsposition nicht besetzt war, und jetzt der plötzliche Wechsel. Ein soziales System braucht Zeit, einen solchen Wechsel zu verarbeiten - eben das hat die neue Geschäftsführerin übersehen. 

Zusammengefasst: Systemisches Selbstmanagement richtet den Blick auf die oben beschriebenen Systemfaktoren. Es hilft damit, Ursachen zu finden - aber auch Ansatzpunkte, die nicht "auf der Hand liegen". Die Lösung in obigem Beispiel lag nicht in der Verbesserung der Arbeitsmethodik, sondern darin, auf der Systemebene Veränderungen anzustoßen.
 

Nehmen wir an, jemand kommt mit seinen Aufgaben nicht zurecht - zu viele E-Mails, zu viele Meetings, die eigentliche Arbeit bleibt liegen. Diese Person kommt zum Ergebnis, zu unstrukturiert zu arbeiten, und beschließt, sich die entsprechenden Methoden anzueignen. Macht sie da was falsch? 

Mareike König: Nein, falsch macht diese Person erst mal nichts - aber … Verschiedene Methoden wie das Pareto-Prinzip, um es als Beispiel für Zeitmanagement zu nehmen, sind natürlich hilfreich. Aber nehmen wir wieder obiges Beispiel: Die Teammitglieder kommen mit ihren Aufgaben nicht zurecht, weil ihre Chefin ihnen fortwährend neue Themen zuschiebt. Dann die eigene Arbeitsmethodik optimieren zu wollen, führt nur zu einem neuen Regelkreis: Die Person optimiert ihr Vorgehen - und bekommt immer mehr Druck. Hier wird deutlich: Die Ursache liegt im sozialen System. Die Lösung wird dann eher sein, sich gegenüber der Vorgesetzten oder dem Verwaltungsrat mehr zu behaupten, neue Regeln einzuführen et cetera.
 

Führen die üblichen Methoden des Zeit- beziehungsweise Selbstmanagements also in die Irre? 

Eckard König: Sie führen in die Irre, wenn man glaubt, damit alle Themen des Selbstmanagements lösen zu können. Auf der anderen Seite sind sie natürlich hilfreich - auch in unseren Coachingprozessen geben wir unseren Coachees die eine oder andere Regel des Zeitmanagements mit. Aber wir unterstützen sie darüber hinaus, "über den Tellerrand" zu schauen und den Blick auf das soziale System zu lenken: Welche Personen spielen hierbei eine Rolle? Was denken und erwarten diese Personen? Welche Regelkreise entstehen und welche Regeln beeinflussen die Situation? Und welche Bedeutung hat die Vorgeschichte? Daraus ergeben sich neue Lösungsansätze: zu überlegen, welche Erwartungen ich erfüllen kann und will, Regelkreise zu unterbrechen, vielleicht Besprechungsregeln abzuändern - ein Ergebnis war zum Beispiel die Einführung eines wöchentlichen Jour fixe zwischen Geschäftsführerin und ihrem Stellvertreter. Oder die Systemgrenze zwischen Vorgesetzter und Team zu thematisieren, aber auch die zwischen der Einrichtung und dem Verwaltungsrat. Oder vielleicht die Vorgeschichte zu reflektieren. 

Das ist es, was uns am systemischen Denken fasziniert: Es ist ein integratives Modell, in das sich Methoden des Selbst- und Zeitmanagements integrieren lassen, das aber zugleich den Blick auf das soziale System ausweitet und damit neue Lösungen für anstehende Herausforderungen ermöglicht.
 

Das Interview haben wir schriftlich geführt.
 


Zitate


"Systemisches Coaching bedeutet, den oder die Coachee zu unterstützen, immer auch das soziale System in den Blick zu nehmen." Interview Systemisches Coaching

"Coaching kann immer nur bedeuten, den oder die Coachee zu unterstützen, den Blick zu weiten, das soziale System in den Blick zu nehmen und auf dieser Basis die für dieses System, für diese Situation "richtige" Lösung selbst zu finden." Interview Systemisches Coaching

 

changeX 07.07.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

beltz

Verlagsgruppe Beltz

Weitere Artikel dieses Partners

Spielend nachdenken

Was bitte ist ein Soziodrama? - ein Interview mit Christoph Buckel, Uwe Reineck und Mirja Anderl zum Interview

Die Kraft innerer Bilder

Olaf-Axel Burow und Christel Schmieling-Burow über das Potenzial innerer Bilder zum Interview

Agil als Haltung und Arbeitsweise

Agiles Arbeiten für Coaches und Trainer - ein Interview mit Horst Lempart zum Interview

Ausgewählte Links zum Thema

Quellenangaben

Zum Buch

: Mini-Handbuch Systemisches Coaching. Beltz Verlag, Weinheim und Basel 2020, 223 Seiten, 24.95 Euro (D), ISBN 978-3-407-36735-8

Mini-Handbuch Systemisches Coaching

Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon

nach oben