Fast jeder Zweite führt

"Führung ist eine Funktion, keine Position" - ein Gespräch mit Ulrich Loth
Interview: Winfried Kretschmer

Flache Hierarchien. Gelten heute als Erfolgsbedingung für zeitgemäße Unternehmen. Als hip. Da lohnt es, sich ein Unternehmen genauer anzusehen, das seit jeher andere Wege geht: Gore. Dort begreift man Führung als Funktion, nicht als Position. Führung kristallisiert sich heraus, wird nicht vergeben. Sie ist geteilt und verteilt. So hält man es seit der Gründung vor gut einem halben Jahrhundert. Zu einer Zeit, da die meisten Unternehmen noch hierarchisch durchgestufte Pyramiden mit militärisch-direktivem Führungsmodus waren. Ein zweiter Blick auf ein Unternehmen, in dem fast jeder Zweite sich als Führungskraft begreift.

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"Führung mal anders." So hatte Ulrich Loth, bis 2016 Geschäftsführungsmitglied von W. L. Gore in Deutschland, seinen Vortrag im Musterbrecher-Express über das Führungsverständnis des Unternehmens überschrieben. Ein Führungsverständnis, das auch heute, beinahe 55 Jahre nach Gründung der Firma, noch aktuell ist. Das war der Grund, im Gespräch mit Uli Loth genauer nachzufragen. 

Ulrich Loth ist ehemaliges Mitglied der Geschäftsführung der W. L. Gore & Associates GmbH Deutschland. Er gehörte dem Unternehmen 34 Jahre an. Bis zu seinem Ausscheiden im Jahr 2016 war er Leader Legal Department Europe/Global. In unserem Interview berichtet er über seine Erfahrungen im Unternehmen.
 

Bei Gore gibt es keine Manager. Wie das? 

Der Gründer Bill Gore hat gesagt: "Was sind Manager? Wir managen uns selbst. Wir brauchen keine Manager, und wir werden auch nicht gemanagt." Das ist die einfachste Antwort. Wir brauchen niemanden, der uns sagt, was wir machen sollen.
 

"Führung mal anders" - was ist der Kerngedanke dieses Führungskonzepts? 

Ich verstehe darunter eine Aufteilung von Leadership. Zum einen in Business-Leadership: Sie betrifft das gesamte Unternehmen, ein Team oder eine Einheit. Zum anderen in Mitarbeiter-Leadership: Jeder Mitarbeiter hat einen Sponsor, den er sich persönlich aussuchen kann.
 

Was genau ist ein Sponsor? 

Der Sponsor ist eine Führungskraft, die den Mitarbeiter betreut. Ihn berät, ihm Hilfestellung sowie Feedback gibt und - meiner Meinung nach sehr wichtig - beteiligt ist an seinem persönlichen Wachstumsprozess: Wo kann der Mitarbeiter sich weiterentwickeln, wo kann er auch langfristig eine gute Leistung ins Unternehmen bringen - und dies dann auch an seiner Gehaltsentwicklung erfahren? Sponsees führen ja auch ein privates Leben, haben Familien, Partnerschaften, Verpflichtungen. Der Sponsor ist mitverantwortlich, dass sowohl Leistung als auch Gehalt längerfristig gewährleistet sind. Das ist seine soziale Verantwortung.
 

Es müssen wohl beide, Sponsee und Sponsor, einverstanden sein, bevor sie eine Beziehung miteinander eingehen? 

Sponsorsein ist eine Aufgabe, die jemand neben seiner Kernaufgabe fürs Unternehmen erledigt. Eine freiwillig übernommene Zusatzaufgabe. Damit ein Sponsor genug Energie dafür aufbringen kann, damit ihn die Aufgabe im besten Fall beflügelt, muss die Beziehung zwischen Sponsor und Sponsee passen. Beide müssen einverstanden sein, sie müssen wirklich innerlich Ja sagen. Auch weil es eine Abhängigkeit gibt: Der Sponsor wird daran gemessen, wie erfolgreich er seinen Sponsee zum Wachsen bringt. Das kann nur funktionieren, wenn beide tatsächlich zusammen arbeiten und zusammen wachsen. Denn es ist keine Einbahnstraße. Das ist ganz wichtig.
 

Inwiefern? 

Nicht nur der Sponsee wächst - zum Wohle seiner selbst, für sich, für sein Einkommen und für den Ertrag des Unternehmens. Auch der Sponsor wächst. Wird reicher an Erfahrungen, an Kenntnissen. Wenn beiden das Ganze auch noch Spaß macht, dann hat man, glaube ich, ein Ideal für die Arbeitswelt gefunden. Vor allem, wenn ich darüber nachdenke, wie viele sich jeden Morgen zur Arbeit schleppen und nur darauf warten, wieder gehen zu können.
 

Wachstum an Kenntnissen - das betrifft auch den fachlichen Bereich. Fachliche Führung definiert sich ebenfalls nicht über ein Vorgesetztsein? 

Nein. Fachliche Führung können beide Funktionen ausführen, der Leader oder auch der Sponsor. Sie können fachlich mitführen, fachlich fördern, das sollen sie auch. Das kommt eigentlich am häufigsten vor, dass man fachlich mitlernen kann. Aber es ist kein Muss, denn keiner ist der Spezialist - es sei denn, jemand sucht sich explizit einen Spezialisten als Sponsor, von dem er oder sie fachlich sehr viel lernen kann.
 

Und der Leader wiederum definiert sich über Followership? 

Der Leader definiert sich dadurch, dass er die persönliche Verantwortung für ein ganzes Team trägt, für eine ganze Geschäftseinheit bis hin zu den Erträgen und Ressourcen. Trotzdem steht er nicht alleine da. In dem Team sind ja die Sponsoren, die sich für die einzelnen Mitarbeiter starkmachen. Man kann sich das vorstellen wie einen Regenschirm. Wenn alle Gitterstäbe intakt sind, ist der Schirm stabil und man kann entlang des Randes, gleichmäßig verteilt, Gewichte dranhängen. Der Regenschirm, das Dach, ist quasi das Unternehmen, das sich über alle Mitarbeiter spannt. Die Gewichte am Rand sind die Sponsoren, an denen wiederum Mitarbeiter hängen, die sich ebenfalls untereinander sponsern können.
 

Führung ist breit verteilt im Unternehmen? 

Die Zufriedenheitsumfrage, die wir jährlich durchführen, zeigt, dass sich 45 Prozent der Mitarbeiter als Führungskräfte sehen. Bei 1200 Arbeitskräften in Deutschland sind das rund 600.
 

Das heißt: Fast jeder Zweite führt? 

Fast jeder Zweite führt oder sieht sich als Führungskraft. Das bringt die Sponsorship mit sich. Jeder Sponsor sollte maximal acht Mitarbeiter führen. Im Schnitt sind es aber weniger, so um die fünf. Bei einer Werksgröße von 200 hätten wir dann schon alleine 40 Führungskräfte. Und das sind nur die Führungskräfte, die die Sponsorship übernehmen. Jetzt kommen für jede Business- oder Teameinheit noch die geschäftlichen Businessführer und die technischen Führer dazu. Wir nennen sie "Functional Leaders", die funktionalen Führer einer Einheit, die beispielsweise für die Fertigung verantwortlich sind oder die Vorarbeit.
 

Führung wird also zu einer Funktion in der Organisation? 

Sehr gut, ja. Führung ist eine Funktion, keine Position.
 

Und Führung muss man sich erarbeiten, indem man Follower schafft oder sie an sich bindet? 

An sich bindet. Sagen wir mal, ich verfolge ein bestimmtes Ziel, und dafür stelle ich mir ein Team zusammen. Das sagt dann: Okay, ja, für dieses Ziel, für dieses Projekt bist du jetzt unser Leader. Nachdem die Aufgabe erledigt ist, kann sich so ein Team auch wieder auflösen, und die Mitarbeiter gruppieren sich für ein neues Projekt um einen neuen Teamleader herum. Bei der Leadership ist das anders. Menschen, die ein Business führen, also die gesamte Vertriebsverantwortung tragen, übernehmen ihre Führungsaufgabe wesentlich länger, zumindest solange sie richtig anerkannt sind.
 

Es gibt also keine Hierarchie, sondern eine Art Gitterorganisation. Wie kann man sich das bildhaft vorstellen? 

Indem wir eine Pyramide flach drücken.
 

Sehr schönes Bild. 

Wir erhalten dann eine Platte. Eine Platte mit einer Gitterstruktur. Und in dieser Platte bilden sich Teams heraus mit ihrem jeweiligen Teamleader - das ist ein natürlicher Prozess, aus jedem kleinen Team bildet sich irgendwann ein natürlicher Führer heraus. Und dann gibt es welche, die die Verantwortung tragen in den Teams. Hinzu kommen die Teamverantwortlichen, die mehrere Teams unter sich haben und mit den Teamverantwortlichen aus anderen Businessbereichen in Kontakt stehen. Dadurch entsteht diese Gitterstruktur. Alle reden miteinander, soweit es geht und möglich ist, bis hin zur weltweiten Kommunikation. Das wird einfach gemacht und wird zu einer alltäglichen Sache. Wenn jemand den Bedarf hat, jemandem etwas mitzuteilen, ihn mit einzubinden, dann ruft er ihn an oder geht vorbei. Direkte Kommunikation. Direkte, kurze Wege, schnelle Entscheidungen. Das ist ein Wettbewerbsvorteil, den wir ständig nutzen.
 

Zitat "natürlicher Prozess", "natürlicher Führer" - was bedeutet "Natural Leadership" bei Gore? 

Wir hatten ein Leadership-Entwicklungsprogramm, in dem Verantwortung verteilt und von den jeweiligen Associates freiwillig übernommen worden ist. Da wurden Projekte besetzt, und die Mitarbeiter haben sich beweisen können. Da hat sich gezeigt, ob jemand nicht nur fachliche Kenntnisse besitzt, sondern auch Menschen führen kann. Denn eine Führungsperson ist diejenige, auf die andere zugehen und fragen: Was sollen wir machen? Wie sollen wir es machen? Eine Führungsperson hat Antworten. Sie hat nicht nur das Fachwissen, sondern bringt auch Lösungen zustande. Wer gefragt wird, der hat eine Führungsrolle inne - ganz natürlich, für sich.
 

Wenn man den Leuten Raum gibt, sich zu entfalten und diese Kompetenz zu entwickeln, dann kristallisiert sich heraus, wer Führung übernimmt? 

Das kristallisiert sich heraus. Es zeigt sich wie gesagt daran, wer gefragt wird. Im Team heißt es dann: Frag den doch mal. Das ist ein Zeichen, dass sich jemand entwickelt. Von Natur aus. Und die anderen müssen folgen wollen, freiwillig. Dann hat diese Person Anerkennung, Respekt und Vertrauen der anderen gewonnen. Sie besitzt eine natürliche Kompetenz in der fachlichen und menschlichen Führung. Man sieht dann auch sofort: Solche Mitarbeiter können sich Ziele setzen. Sie haben den Mut, Entscheidungen zu treffen, unternehmerisch zu denken und zu handeln. Die gehen voran. Die wollen was bewegen. Das sind auch die Veränderer.
 

Wie flach sind die Hierarchien denn konkret? Wie viele Hierarchieebenen gibt es? 

Maximal sind es drei, eigentlich zwei: die Führungskraft und ihre Associates.
 

Jetzt kam zweimal ein neuer Begriff: Associates? Was sind Associates? 

Die Mitarbeiter bei Gore sind nicht bloß Mitarbeiter, sondern auch Teilhaber, englisch Associates. Sie sind mit einem Teil ihres Bruttojahresgehalts am Unternehmen beteiligt. Bill Gore, der Gründer, wollte, dass alle am Erfolg des Unternehmens teilhaben. Er wollte alle beteiligen, finanziell und auch am Namen der Firma. Deshalb W. L. Gore & Associates. Die Associates, das sind die Mitarbeiter.
 

Ah, das wusste ich noch nicht ... Kurz zurück zur Struktur: Wie groß sind die Teams? 

Die Teams waren immer klein, acht bis zehn Leute, mehr nicht. Oder auch nur zwei. Bei kleinen Teams kann man noch persönlichen Kontakt halten. Du weißt, wen du sprechen willst, und musst dich nicht durchfragen. Bei Gore gab es keine Barrieren über Ebenen oder über Landesgrenzen hinweg. Und es gab keine Vorzimmer. Es galt: Du hast eine Frage an mich? Dann kannst du mich ansprechen.
 

Direkte Kommunikation setzt nicht nur flache Hierarchien voraus, sondern auch überschaubare Organisationseinheiten. Bei Gore gibt es das Prinzip, Werke ab einer Größe von 150 oder 200 Mitarbeitern zu teilen? 

Die Zahl war nicht so wichtig. Sondern: Können die Aufgaben noch ordentlich erfüllt werden? Gibt es genug Raum und Spielraum für Wachstum in der Zukunft? Oder was hindert uns, weiter zu wachsen? Sind es zu enge Räume, zu viele Leute in einem Werk? Wenn es wirtschaftlich Sinn ergeben hat und Zukunftsprojekte anstanden, dann wurde ein neues Werk angemietet oder gebaut. Und es wurde eine neue wirtschaftliche Einheit eröffnet.
 

Und wie werden Entscheidungen getroffen? 

Nicht immer im Konsens, wie man vielleicht meinen möchte. Zuerst muss die Fakten- und Sachlage erörtert und das Ziel festgelegt werden. Drei Punkte müssen allen klar sein, und darüber muss auch Einigkeit herrschen: Wo stehen wir heute, wo wollen wir hin und wie erreichen wir das? Und über dieses Wie entscheidet letztlich der Teamleader. Natürlich kann er das Team um Rat fragen - und das Team kann sagen, wir tragen die Entscheidung mit. Aber die Verantwortung trägt der Teamleader alleine.
 

So eine Organisationsstruktur setzt großes Vertrauen voraus? 

Ja. Und zwar Vertrauen in eine Person, in ihre Persönlichkeit und ihr Können. Also nicht nur das schnelle "Ich vertraue dir", wie man das oft mal sagt, sondern tatsächlich: "Ich vertraue dir voll und ganz." Das heißt: "Ich vertraue in die Kompetenz einer Person, ihre Fähigkeiten - und ich kann mich fallen lassen."
 

Wenn man Vertrauen bezieht auf Können, Kompetenz und Fähigkeiten, kann man dann von einer Art professionellem Vertrauen sprechen? 

Ja. Das trifft es. Das setzt für mich voraus, sich der gesamten Tragweite bewusst zu sein. Jemandem zu vertrauen bedeutet, darauf zu vertrauen, dass er oder sie die Geschäfte gut und legal führt und das Unternehmen und die Mitarbeiter zum Wachsen bringt.
 

Eine Frage noch: Du hast in deinem Vortrag Douglas McGregor angeführt. Für den MIT-Professor gibt es zwei Menschenbilder: X und Y. X geht davon aus, dass Menschen von Natur aus faul sind und daher kontrolliert und angewiesen werden müssen. Y geht davon aus, dass Menschen von Natur aus motiviert sind und gerne Aufgaben übernehmen, und Vorgesetzte insofern lediglich gute Bedingungen schaffen müssen. Ich gehe davon aus, dass euer Unternehmen nur funktionieren kann, weil ihr Leute an euch bindet, die Y-orientiert sind, richtig? 

Es gibt Menschen, die brauchen ein X. Und es gibt Menschen, die brauchen ein Y. Insofern muss ein Unternehmen wie Gore sich schon beim Einstellungsprozess fragen: Wie müssen wir nach außen hin auftreten, damit wir Leute begeistern, die den Willen und den Mut haben, nach der Y-Theorie zu handeln? Ich habe es mal direkt ausgedrückt: Wir stellen nicht Leute ein, um über sie Macht auszuüben. Sondern wir wollen mit Leuten arbeiten, die besser sind als wir, die in ihrem Bereich mehr Kompetenzen haben. Nur so können wir uns weiterentwickeln. Nur so können wir wachsen. Bei Gore sind alle so unterschiedlich, auch in den Ausbildungen - und jedes Mal, wenn wir diese Unterschiede in Synergie bekommen, sie gekonnt miteinander verknüpfen, ergibt eins plus eins tatsächlich drei. 


Fußnote: Das Interview haben wir in einem persönlichen Gespräch auf der Fahrt des Musterbrecher-Expresses im Herbst 2018 geführt und kürzlich in einem telefonischen Interview ergänzt. Das ist die kuriose Fußnote zu diesem Beitrag: Das ursprüngliche Interview war aus meiner Sicht zwar gut, aber irgendwas fehlte. Es wirkte nicht ganz rund. Und wie es mit unfertigen Dingen oft so ist, sie bleiben liegen. Zum Glück verschwand der Text aber nicht endgültig in einem Verzeichnis in den Tiefen der Festplatte. Sondern geriet wieder in den Blick - und ließ sich mit einem telefonischen Nachinterview und ein paar Nachfragen dann ergänzen und "rund" machen. 


Zitate


"Wir brauchen niemanden, der uns sagt, was wir machen sollen." Ulrich Loth über das Führungsverständnis bei Gore

"Der Sponsor ist eine Führungskraft, die den Mitarbeiter betreut, ihn berät, ihm Hilfestellung sowie Feedback gibt und beteiligt ist an seinem persönlichen Wachstumsprozess." Ulrich Loth im Interview über das Führungsmodell bei Gore

"Führung ist eine Funktion, keine Position." Ulrich Loth im Interview über das Führungsmodell bei Gore

"Eine Führungsperson ist diejenige, auf die andere zugehen und fragen. Wer gefragt wird, der hat eine Führungsrolle inne." Interview Ulrich Loth: Fast jeder Zweite führt

 

changeX 04.02.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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