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Stille

Die Sucht nach Lärm und die Sehnsucht nach Stille – ein Interview mit OM C. Parkin.
Text: Michael Gleich

In unserer dauerbeschallten Gesellschaft ist Lärm zum Normalzustand geworden. Und Stille zu etwas Bedrohlichem. Menschen aber brauchen eine gewisse Ruhe, Feinheit und Achtsamkeit, um angemessen wahrnehmen und handeln zu können.

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OM C. Parkin ist ein Philosoph und spiritueller Lehrer, der die östliche Weisheitslehre des Advaita mit westlicher Psychologie verbindet. Er lebt in Hamburg und lehrt in ganz Europa.

Ich war kürzlich in einem Restaurant, wo es zum guten Ton gehört, zum dreigängigen Menü von Stunde zu Stunde die Lautstärke höher zu drehen. Obwohl alle Gäste da sind, um zu schlemmen und miteinander zu reden. Warum so viel Lärm?
In einem Wort: Stimulation. Es werden die Sinne, das Nervensystem und der Geist stimuliert. In sehr vielen Menschen ist das Bedürfnis nach starken Reizen von außen so stark, dass man getrost von einer Sucht sprechen kann. Und ein Merkmal jeder Sucht ist es, dass die Dosis gesteigert werden muss. Die Menschen empfinden solche Stimulation nicht als Lärm, sondern als eine Intensivierung ihres Lebensgefühls. Das, was sie dagegen als Stille bezeichnen, hat für sie den Anschein von etwas Totem.

Haben Menschen also Angst vor der Stille?
Sie haben Angst vor dem Nichts, vor der Leere. Letztlich steckt die Angst vor dem Tod dahinter. Ich kannte einen jungen Mann, der in der Stadt sehr unter dem Lärm und Stress dort gelitten hatte. Er zog aufs Land, um es dort äußerlich und innerlich ruhiger zu haben. Aber dann passierte etwas Unerwartetes: Er empfand die Stille als unerträglich, als ein tiefes, dunkles Loch. Sein Umzug endete damit, dass er nächtelang vor dem Fernseher saß, um dieses Loch irgendwie zu stopfen. Er sagte: „Ich wollte Stille – aber doch nicht so.“ Damit beschrieb er ein Phänomen, das viele erleben: Sie sehnen sich nach innerem Frieden, aber wenn ihnen die äußeren Stimulanzien entzogen werden, erleben sie das wie einen Drogenentzug. Sie sind nicht wirklich vorbereitet auf das, was ihnen dann begegnet.

Ist unsere gesamte Gesellschaft süchtig, wird es lauter in Deutschland?
Durch neue Unterhaltungstechniken und elektrische Geräte haben wir viel mehr Möglichkeiten, Räume zu beschallen, als vor der Industrialisierung. So gibt es heute tatsächlich mehr Lärm. Gleichzeitig beschleunigen sich alle Lebensabläufe. Pro Zeiteinheit verdichtet sich die Zahl der Reize immer weiter. In Singapur und anderen Metropolen hat sich innerhalb von zehn Jahren die durchschnittliche Laufgeschwindigkeit von Passanten um 30 Prozent erhöht. Eine Spirale des „schneller – höher – weiter“ kennzeichnet die Industrieländer, aber bereits auch Schwellenländer. Zwangsläufig bricht diese Spirale der Beschleunigung immer wieder zusammen.

Warum muss es erst zum Kollaps kommen, damit Menschen und ganze Gesellschaften innehalten?
Süchtige sind begrenzt einsichtsfähig. Sie sind hauptsächlich mit der Befriedigung ihrer Sucht beschäftigt, das verengt ihren Horizont zum Tunnelblick. Anhalten kann ein Süchtiger meist nur, wenn er zusammenbricht und vollkommen scheitert. Das äußert sich beispielsweise in Krankheiten wie Thrombosen, Herzinfarkt und Hirnschlag, die bei uns zunehmen. Die Stressforschung hat Schlaflosigkeit, Übergewicht, Herz-Kreislauf-Krankheiten mittlerweile als Massenphänomene erkannt.

Warum nehmen wir körperliche Symptome nicht zum Anlass, in uns selbst nach den Gründen für Stress und Überforderung zu suchen?
Weil viele Menschen in der Illusion leben, dass Lärm, Stress und Druck von außen kommen. Sie betrachten sich als Opfer der Umstände. Dass zumindest einige Menschen einsichtig sind und Verantwortung für sich selbst übernehmen, zeigt sich darin, dass in Unternehmen die Nachfrage nach Sabbaticals wächst. Die Frage ist: Auf welcher Ebene setzt der Heilimpuls an? In den allermeisten Fällen nur auf der Symptomebene. Dann versucht man etwa, den Körper zu stärken, Yoga zu üben, ein paar Verhaltensweisen zu verändern, etwas weniger zu arbeiten. Aber es gibt auch immer wieder Menschen, die aus den Mechanismen der Selbstbeschleunigung aussteigen und nach den wahren Ursachen ihres Leidens forschen. In ihrem Inneren entdecken sie dann die eigentliche Lärmquelle.

Worin besteht die?
Aus einer Ich-Struktur, die permanent Impulse aussendet, die Stress und Überdruck verursachen. Solche Impulse könnten sein, immer zu viel zu wollen, zu ehrgeizig zu sein, sich beweisen zu müssen. Oder der Irrglaube, nur geliebt zu werden, wenn man möglichst viel leistet. Die Wurzel des Übels liegt in einem denkenden Geist, der ständig Geschichten aus der Vergangenheit erzählt, meist aus der frühen Kindheit, und damit Realitäten erschafft, die Menschen aus der natürlichen Ordnung fallen lassen.

Was ist die natürliche Ordnung?
Ein natürlicher Lebensstrom, in den jeder menschliche Organismus eingebettet ist. Wie jeder Fluss kennt er Stromschnellen und ruhigere, seichtere Phasen. Er fließt durch unterschiedlichste Wetterbedingungen und Landschaften. Wenn ein Organismus völlig eins ist mit dem Lebensstrom, dann wird er manchmal mehr, manchmal weniger gefordert, aber niemals überfordert. Überforderung ist Ausdruck davon, dass jemand aus diesem natürlichen Fluss gefallen ist und mehr will als das Leben selbst.

Warum wollen wir mehr als das Leben selbst?
Ein psychologischer Mechanismus besteht darin, dass Menschen Idealen hinterherrennen. Sie werden angetrieben von Wunschvorstellungen, die unerfüllbar sind. Dieses Bemühen kann brutale Züge annehmen, wenn es dazu verleitet, Übermenschliches leisten zu wollen, um geliebt zu werden. Durch die Überforderung, die dadurch zwangsläufig entsteht, kommt es zu energetischen Ungleichgewichten im ganzen Organismus.

Wie kann man sich das vorstellen: „im Fluss zu sein“?
Um in diesem Bild zu bleiben: Ein Mensch, der völlig in den überpersönlichen Fluss des Lebens integriert ist, bewegt sich nicht langsamer, aber auch nicht schneller als dieser Fluss. Nur wenn er ständig zu schnell ist – hier haben wir wieder das Phänomen Beschleunigung –, entsteht Stress. Äußerlich kann sich das in viel zu schnellen Bewegungen ausdrücken, innerlich in viel zu vielen Gedanken in einem hochfrequenten Nervensystem, die der jetzigen Situation vorauseilen. Man macht sich Sorgen oder löst Probleme, die noch gar nicht aufgetreten sind. Das ist so, als wenn man mit 150 Sachen im dritten Gang auf der Autobahn fährt: ein unnützes Überdrehen, von dem der Fahrer jedoch glaubt, dass es ihn schneller ans Ziel bringe. Solch hochtourige Lebensformen haben nicht nur Auswirkungen auf die körperliche, sondern auch auf die geistige Gesundheit. Aus der Sicht der Weisheitslehre ist die gravierendste Folge ein ungeheurer Realitätsverlust. Um aus dem Inneren heraus mit der Realität in Kontakt treten zu können, brauchen wir eine gewisse Langsamkeit, Feinheit und Achtsamkeit. Wir können die Realität buchstäblich nur „wahr-nehmen“, wenn der innere Lärm nachlässt.

Meditation hat bei den Deutschen an Popularität gewonnen. Sie wird häufig als Mittel gegen den Stress angepriesen. Die Verheißung lautet: Du wirst dich besser fühlen. Meine eigene Erfahrung ist jedoch, dass während der Meditation auch viel Schmerz und Angst auftauchen.
Meditation ist keine Wellness-Veranstaltung! Es geht nicht darum, eine halbe Stunde still zu sitzen und sich ein bisschen zu entspannen. Wenn Menschen spirituelle Bücher über das „Verweilen im Jetzt“ lesen, verstehen sie das häufig als eine Selbstverbesserungstechnik. Wahre Meditation jedoch ist eine innere Aufmerksamkeit, die sich nicht von Gedanken und Emotionen, die in einem Meditierenden aufsteigen, ablenken lässt. Wenn man die Sucht nach Stimulation als einen Kompensationsversuch versteht, als ein Ausweichmanöver des denkenden Geistes, als eine Betäubung, dann ist klar: In der stillen Meditation tritt alles zutage, was ein Mensch eigentlich betäuben wollte. Vor allem seine Angst.

Viele Meditierende berichten auch von einer Leere in ihrem Inneren, die sich alles andere als gut anfühlt.
Ihnen begegnet etwas Totes, der Schatten einer scheinbaren Lebendigkeit. Dazu muss man wissen, dass unsere Innenwelten ein Konstrukt sind. Der denkende Geist erschafft eine Fantasiewelt aus Ideen und Bildern, aus Wünschen und Vorstellungen. Das ist Virtual Reality pur! Diese Innenwelt hat einen Schatten, der normalerweise nicht wahrgenommen wird. Ich bezeichne sie als tote Welt, eine Art innere Wüste. Vor dem unangenehmen Gefühl von Leere nicht zu kneifen und in meditativer Haltung zu bleiben, das erfordert viel Mut.

Kann man die beschriebenen seelischen Mechanismen auf die Formel bringen „Lärm = Leiden“?
Lärm ist nur eine von vielen Formen des inneren Leidens. In den polar aufgebauten Innenwelten der Menschen erkennt man auch andere, die nichts mit Lärm zu tun haben: Dumpfheit, Trägheit, Lähmung, Starre. Das sind Zustände, die zunächst einmal Ruhe versprechen. Beschleunigung und Starre sind zwei Pole, zwischen denen Menschen innerlich hin und her pendeln.

Wer ist denn nun natürlich „im Fluss“ – nur ein paar Erleuchtete oder auch ganz normale Menschen?
Wenn die Lebensumstände günstig sind, können sich ganz normale Menschen in diesem Fluss befinden. Doch wenn die Bedingungen sich ändern, fallen sie wieder raus, weil sie einfach nicht das Bewusstsein für diese Vorgänge haben. Dauerhaft gelingt das nur Menschen, die sich auf die Suche nach inneren Ursachen des „zu schnell“ oder „zu langsam“ begeben und diesen Kräften ins Auge sehen. Wunschvorstellungen, Angst und Widerstand, das sind die drei Bewegungen des denkenden Geistes, die sich gegen den natürlichen Lebensfluss richten.

Können Sie das konkreter beschreiben?
In der Arbeitswelt kann man Menschen beobachten, die ständig unter Druck agieren. Jede Bewegung, die sie machen, ist zu schnell, zu angespannt, mit zu viel Aufwand. Sie handeln mit 150 Prozent, wo 100 Prozent angemessen wären. Mit einem Übermaß an Energie versuchen sie mehr zu erreichen, als die Situation hergibt. Oder sie geben nur 80 Prozent, sind zu langsam, werden träge und starr. Die Lebenskunst besteht darin, sich immer haarscharf an der Grenze zu den 100 Prozent zu bewegen. Dieser Punkt erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit, denn die Grenzen, die uns vom Leben gesetzt werden, verschieben sich ständig.

Herrscht an diesem optimalen Punkt des Fließgleichgewichts so etwas wie Stille?
Genau, denn zwar bewegt sich hier das Leben in seiner ganzen Dynamik, nicht aber der Geist. Er kommt zur Ruhe, macht keine der typischen Bewegungen des denkenden Geistes. Weder weicht er aus und wünscht sich etwas anderes, noch hält er dagegen, noch flieht er. Er bleibt bewusst still. Dann kann sich ein Organismus fließend mit den Anforderungen des gegenwärtigen Moments verbinden.

Bedeutet das dann nicht Fatalismus: Ich sage Ja und Amen zu allem, was passiert, und rede mich auf den „Fluss des Lebens“ raus?
Überhaupt nicht. Integration muss nicht Harmonie bedeuten, schon gar nicht Anpassung, wie wir sie psychologisch verstehen. Wenn wir bei vollem Bewusstsein mit dem Kraftstrom des Lebens verschmelzen, wenn die drei Bewegungen des persönlichen Ichs aufhören, dann geschieht eine unpersönliche innere Bewegung. Die kann einen Menschen dazu bringen, sich zu streiten und für eine Änderung von Verhältnissen zu kämpfen.

Liegt hier der Kern Ihrer Lehre: die drei Bewegungen des denkenden Geistes aufzugeben, um in die Stille zu kommen?
Das ist die Lehre jeder Meditation, egal, aus welcher Tradition sie kommt. Ob christlich, sufistisch oder buddhistisch. In Meditation geschieht diese vierte, unpersönliche Bewegung: das Eintauchen in das Leben selbst. Meditation ist nur oberflächlich betrachtet eine Praxis von Menschen, die irgendwo still sitzen.

Was geschieht denn in deren Innerem?
Es geht zunächst darum, die blinde Identifikation mit dem Lärm aufzugeben. Der Meditierende ist nicht dieser Lärm, sondern nur dessen stiller Zeuge. Er nährt eine reine Aufmerksamkeit, die sich zurückzieht aus der Welt der Gedanken, mit der die meisten Menschen völlig identifiziert sind. Die Aufmerksamkeit wendet sich ihr selbst zu, während Gedanken, Bilder, Gefühle immer noch wahrgenommen werden. Nichts anderes trainieren Meditierende. Wenn man noch tiefer geht, ist Meditation überhaupt keine Praxis mehr, sondern nur noch ein Sein in der Mitte. Die Mitte des Pendels ist der Nullpunkt. Dort gibt es keine Bewegung mehr, dort herrscht Stille.

Heißt das, nicht mehr zu denken?
Nein, aber wir müssen fragen, ob nicht ein Großteil der Gedanken, die ein Mensch ausspinnt, rein kompensatorische Funktionen erfüllt. Die Inhalte von Denkprozessen sind eigentlich nebensächlich, sie lenken nur ab.

Stattdessen verwendet das Ego viel Energie auf Zerstreuungen jeglicher Art. Sind sie nicht eine weitere innere Lärmquelle?
Zerstreuung und Stimulation gehören zusammen. Zerstreuung ist eine Form von Defokussierung. Wenn man Kraft, Aufmerksamkeit oder Gefühle in viele kleine Facetten zerstreut, bleibt von der ursprünglichen Intensität wenig übrig.

Aber was ist so unerträglich an der Intimität mit uns selbst, dass wir uns zerstreuen müssen?
Wir sind diese Intimität nicht gewöhnt. Zerstreuung ist seicht und harmlos. Sammlung dagegen ist ein hochenergetischer Zustand. Wenn du dir vorstellst, dass deine Kräfte, die überall verstreut waren, gesammelt und verdichtet werden, dann entsteht eine ungeheure, heiße Energie im Inneren. Diesen Prozess könnte man vergleichen mit einem Rückspulen der menschlichen Entwicklung, hin zum heißen Ursprung unseres Wesens. Der innere Weg ist nichts anderes als ein Prozess, bei dem Menschen ihre ganzen verdrängten und versprengten Teile einsammeln und wieder zu sich nehmen, wobei sich ein inneres Ganzes formt. Dabei entsteht eine unglaublich hohe Intensität.

Diese Intensität erstreben wird doch. Die von den Massen verehrten Helden jedes Hollywood-Films sind doch die mit der großen Kraft und den intensiven Gefühlen.
Es gibt eine naiv-heroische Sehnsucht nach einer Intensität, die man sich nur angenehm vorstellt. Aber das ist sie nicht. In der Intensität, die ohne den Panzer des Egos erlebt wird, begegnet man allen Gefühlen, Situationen, Herausforderungen ganz direkt, quasi schutzlos. Es gibt dann keine Unterscheidung mehr zwischen Licht und Dunkel, positiv und negativ, gut und böse. Man kann nicht mehr auswählen, man ist mittendrin.

Sie gelten als erwachter Lehrer – wie lebt es sich in dieser Intensität? Offensichtlich nicht mit einem Dauergrinsen vor lauter Glückseligkeit im Gesicht ...
Intensität zeigt sich nicht unbedingt heftig und grob. Sie lässt sich als ein inneres Feuer beschreiben, wie es viele Meister getan haben. Dieses Feuer kann viele Formen annehmen: mal gewalttätig auflodernd, mal sanft und beständig brennend, mal rot glühend. Es entsteht, wenn man ganz nah dran ist am Strom des Lebens, so nah, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem Leben und dem, was man „Ich“ nennt. Diese inneren Zustände müssen sich äußerlich nicht als Worte oder Handlungen zeigen. Und schon gar nicht als Dauerlächeln.


changeX 22.12.2009. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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