Die Autonomie des anderen

Zur Aktualität Humberto Maturanas - ein Interview mit Bernhard Pörksen
Text: Winfried Kretschmer

Was passiert, wenn man die Autonomie des anderen tatsächlich anerkennt? Wie steuert man Systeme, die sich nicht steuern lassen? Wann wird die systemische Irritation zur gemeinsamen Inspiration? Diesen und ähnlichen Fragen wird die Carl-Auer Akademie in einem dialogisch angelegten Veranstaltungsformat mit Humberto Maturana und Bernhard Pörksen nachgehen.

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Prof. Dr. Bernhard Pörksen, Jahrgang 1969, ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Er ist Mitglied in Herausgebergremien verschiedener systemisch-konstruktivistischer Zeitschriften und Autor mehrerer Grundlagenbücher zum Thema Konstruktivismus (unter anderem in Koautorenschaft mit Heinz von Foerster und Humberto Maturana).
 

Herr Pörksen, was kann uns Humberto Maturana sagen? Worin liegt seine Bedeutung heute? 

Ich glaube, dass die wissenschaftliche Welt, aber auch die Welt der Therapie, des Coachings und der Beratung Humberto Maturana eine ganz entscheidende Leistung verdankt: Er hat Autonomie - im Sinne von Eigengesetzlichkeit - ins Zentrum allen Forschens und Fragens gerückt. Seine zentrale These: Systeme, ganz gleich, ob es sich um Zellen, Individuen, Organisationen oder ganze Kulturen und Gesellschaften handelt, funktionieren notwendig nach ihren eigenen Regeln, nach ihren eigenen Prinzipien; sie sind natürlich nicht autark und völlig von ihren jeweiligen Umwelten unabhängig, aber sie gehorchen doch in ihrem Funktionieren ihrer ganz eigenen Logik. Und eben diese Logik muss ich versuchen zu verstehen, aufzuhellen. Humberto Maturana ist, so würde ich sagen, der große Philosoph der Eigengesetzlichkeit, der systemischen Autonomie.
 

Was sind die Konsequenzen dieses Denkens? 

Die erste Konsequenz lautet: Instruktive Interaktion, verstanden als lineare Steuerung, muss scheitern. Wer ein System nach seinen eigenen, extern gesetzten Regeln verändern will, wird notwendig unglücklich werden. Das ist, könnte man sagen, eine ziemlich niederschmetternde Nachricht für alle Zwangsbeglücker, Kontrollfreaks und Steuerungsfanatiker, die auch heute noch im Management, im Erziehungswesen oder in der Welt der Therapie unterwegs sind. Wenn man aber den ersten Schock dieser Autonomie-Einsicht verdaut hat, bekommt man durchaus eine neue Steuerungsphilosophie geliefert. Man entwickelt eine gesteigerte Sensibilität für Überraschungen und verabschiedet sich von der Idee, dass nur der richtige Input entscheidend ist. Und plötzlich tauchen neue Fragen auf: Wie kann man die Autonomie des anderen anerkennen - und trotzdem in einer Weise interagieren, die nicht zufällige Wirkungen anregt? Wie ist es eben doch möglich, funktionsgerecht zu inspirieren? Wie lässt sich also ein System nach seinen eigenen Regeln steuern? Das ist ein ganz entscheidender Perspektivwechsel, der von der Steuerung des Unsteuerbaren handelt.
 

Worin liegt die Aktualität des Konstruktivismus ganz allgemein? Was zeichnet ihn gegenüber anderen Erkenntnistheorien aus? 

Der Konstruktivismus ist natürlich längst eine furchtbare Mode in akademisch interessierten Kreisen. Und das Mantra, alles sei irgendwie konstruiert, erfunden und nicht gefunden, gehört längst zum guten Ton. Das Paradoxe ist: Nun ist man sich sicher, dass nichts sicher ist, und weiß mit Gewissheit zu sagen, dass absolute Wahrheit unerkennbar sein muss. Diese Kritik muss man, so denke ich, vorausschicken, denn der Erfolg des Konstruktivismus ist schon ein wenig unheimlich. Mit einem Mal verwandelt sich ein eigentlich antidogmatisch gemeintes Denken wieder in ein neues Dogma, ein neues Glaubensbekenntnis - und nun sind es die Konstruktivisten, die meinen, im Recht zu sein.
 

... genau besehen ist der Konstruktivismus aber gar keine Erkenntnistheorie ... 

Stimmt, das sehe ich genauso. Aber zurück zu Ihrer eigentlichen Frage nach den Merkmalen und der Aktualität des Konstruktivismus. Es gibt gewiss einige zentrale Postulate und Kernelemente, die für dieses Denken wichtig sind. Dazu gehören: die Orientierung am Beobachter und seinen eigenen Spielregeln der Wirklichkeitskonstruktion, der Abschied von der Wahrheit, die Kritik des Dogmatismus, die Schlüsselfrage nach der Entstehung von Realität. Jenseits dieser Postulate und Schlüsselthemen handelt sich nicht um eine geschlossene Erkenntnistheorie, sondern um einen vielstimmigen Diskurs, der ganz unterschiedliche Richtungen kennt. Es gibt die philosophisch oder die psychologisch orientierten Konstruktivisten; man kann den Konstruktivismus der Kybernetiker vom Konstruktivismus der Biologen oder der Sozialforscher unterscheiden. Aber wie dem auch sei: Ich selbst fühle mich der tänzerischen Leichtigkeit und der Eleganz meines Freundes und Mentors Heinz von Foerster verpflichtet; er hat, genau besehen, einen subversiven Konstruktivismus entwickelt und eben gerade kein neues Dogma verkündet, sondern seine Denkanstöße als Medizin gegen den Dogmatismus selbst verstanden.
 

Subversiver Konstruktivismus - das heißt? 

Ich würde sagen: Es geht um die Abwehr des Gleichförmigen - und darum, Wirklichkeit als etwas durch uns Gestaltbares erfahrbar zu machen. Wenn die Verflüssigung einer statischen Realität schließlich erreicht ist, wenn die großen und kleinen Ideologien verschwunden sind, dann haben auch die Strategien des subversiven Konstruktivismus ihre Aufgabe erfüllt. Im Moment der relativen Uneindeutigkeit und damit in der Situation einer gewissen Freiheit kann man beginnen, sich wieder auf die Suche zu machen. Es ist ein schöner Moment des wieder Neu- und Andersdenkens, ein Anfang. Und das konstruktivistische Denken wird - so gesehen - zu einer Kreativitätstechnik, zu einer systematischen Schärfung des Möglichkeitssinnes. Mit einem Mal sieht man mehr als zuvor.
 

"Alles, was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt." Sagt Maturana. Sie haben die Frage nach dem Beobachter als "Jahrhundertfrage" bezeichnet. Warum? 

Natürlich mag dieser Satz auf den ersten Blick wie eine Banalität oder Trivialität wirken, aber er enthält, wenn man ihn ernst nimmt, eben doch eine Jahrhundertfrage, die unser Weltbild verändert: Der Beobachter, so wird einem klar, ist diejenige Größe, die sich aus keinem Prozess des Erkennens herauskürzen lässt; er ist stets und unvermeidlich in allen unseren Beobachtungen präsent. Was immer wir sagen, wird von uns, unseren Interessen, unseren Neigungen und unseren kulturellen Prägungen bestimmt. Erkenntnis ist eine beobachterabhängige Konstruktion, nicht eine objektive Repräsentation einer von uns unabhängigen Welt. Warum fasziniert mich dieser Satz? Nun, kürzer und knapper lässt sich der Abschied vom Absoluten nicht formulieren.
 

In der Veranstaltung mit Maturana holen Sie das Interview, das Gespräch auf die Bühne. Was haben Sie vor? Was wird an dem Tag passieren?  

Es geht darum, gemeinsam den Perspektivwechsel zu trainieren und im kleinen Kreis die Begegnung mit einem faszinierenden Denker zu ermöglichen. Alle Debatten und Gespräche kreisen um eine einzige zentrale Frage, die Berater und Organisationsforscher, Therapeuten und Lehrende gleichermaßen beschäftigen muss: Wie steuert man Systeme, die sich nicht steuern lassen? Was passiert, wenn man die Autonomie des anderen tatsächlich anerkennt? Wie und unter welchen Bedingungen wird die systemische Irritation zur gemeinsamen Inspiration? Und ganz konkret: Wie geht man vor, wenn man - diese Überlegungen im Gepäck - ein Beratungsunternehmen aufbaut, ein Krankenhaus leitet, eine Therapie- oder Coaching-Sitzung konzipiert?
Humberto Maturana wird die Fallgeschichten der Teilnehmer kommentieren, im Dialog mit dem Publikum oder mit mir seine Konzepte und Beschreibungswerkzeuge erläutern, in Kurzvorträgen seine Überlegungen präsentieren. Im Kern geht es darum, die Seminargruppe in eine Suchgemeinschaft zu verwandeln, die die Konturen einer neuen, einer respektvolleren und letztlich auch wirksameren Steuerungsidee erarbeitet und gemeinsam die Möglichkeiten der Umsetzung und der Anwendung erkundet.
 


changeX 02.11.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zu den Büchern

: Vom Sein zum Tun. Die Ursprünge der Biologie des Erkennens. Carl Auer Verlag, Heidelberg 2008, 223 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-89670-669-0

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: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Carl Auer Verlag, Heidelberg 2011, 166 Seiten, 19.95 Euro, ISBN 978-3-89670-646-1

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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