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Ich sag change und ihr sagt maker

Die Ehrung der Ashoka Fellows zeigt Social Entrepreneurship im Aufwind
Text: Anja Dilk

Jetzt hat auch die Politik Social Entrepreneurship für sich entdeckt: Die Unterstützung der Bundesfamilienministerin, ein Förderprogramm und die Ankündigung einer großen Konferenz im kommenden Jahr bildeten den politischen Rahmen für die professionell inszenierte Ehrung der Ashoka Fellows 2011. Zweifellos, Sozialunternehmertum ist im Aufwind - gleichwohl längst nicht so bekannt, wie seine Protagonisten glauben.

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Attila von Unruh ist gescheitert. Sein Unternehmen musste dichtmachen. Pleite, Insolvenz, der freie Fall ins Nichts. Ein berufliches und privates Debakel.  

Attila von Unruh ist wieder aufgestanden. Wie so viele sah er: Ich bin nicht allein. Mehr als 30.000 Unternehmen gingen 2010 pleite, fast eine Million Menschen in Deutschland stecken derzeit in Insolvenzverfahren, 6,5 Millionen Menschen sind überschuldet. Sie alle machen dieselbe Erfahrung, auf das berufliche Aus folgen Perspektivlosigkeit, soziale Ausgrenzung, Isolation. Wie keiner sonst beschloss er: Ich muss handeln. Wir müssen uns zusammenschließen, gegenseitig unterstützen, sichtbar werden mit unserem Scheitern, das so nahtlos ignoriert, so schamhaft verborgen wird überall in der Gesellschaft. 2007 gründete Unruh die "Anonymen Insolvenzler", zehn Regionalgruppen gibt es mittlerweile. 2009 baute er den Verein Bundesverband Menschen in Insolvenz und neue Chancen (BV INSO) auf. Von Unruhs Ziel: Das Tabu brechen und anderen beim Wiederaufstehen helfen.  

Lächelnd steht von Unruh auf der kreisrunden Bühne, Lichter zucken durchs Dunkel, um ihn herum brandet der Applaus. Von Unruh ist wieder ganz oben angekommen, auf dem Gipfel des Erfolgs. Er ist Ashoka Fellow 2011. Die erste und größte internationale Non-Profit-Organisation zur Förderung von Social Entrepreneurship wird ihm drei Jahre lang ein Stipendium für seinen Lebensunterhalt bezahlen, damit er sich zu 100 Prozent der Umsetzung seiner Idee widmen kann. Ashoka wird diese Arbeit mit ihrem globalen Expertennetz unterstützen, Pro-bono-Dienstleistungen von Unternehmensberatern, Juristen oder Kommunikationsprofis vermitteln und den Weg zu Partnerschaften mit anderen Sozialunternehmen oder Spezialisten aus der Wirtschaft ebnen.  

Von Unruh lächelt bescheiden, wie einer, der von sich selbst überrascht ist. "Vor einem Dreivierteljahr kannte ich Ashoka nicht mal." Dabei sind Menschen wie Attila von Unruh genau diejenigen, die Ashoka sucht: Changemaker, Vorbilder, Macher, die ein soziales Problem anpacken und neue gesellschaftliche Lösungen suchen - mit unternehmerisch-kreativem Engagement.


Fische auf Umkehrkurs


Ein Dienstag Ende Oktober. Es ist ein kleiner, doch wirkungsmächtiger Kreis, der im Allianz Forum direkt neben dem Brandenburger Tor zusammengekommen ist. Mehr als 200 Sozialunternehmer, Stiftungsmenschen, Non-Profit-Experten, Berater, Politvertreter sitzen bei der feierlichen Auszeichnung der neuen Ashoka Fellows im Lichtschimmer der angestrahlten Bäume im Innenraum des Forums beisammen, um jene zu ehren, die zu Motoren des Wandels werden sollen. So wie einst Maria Montessori die Pädagogik revolutionierte, Florence Nightingale die Krankenpflege oder Muhammad Yunus das Kreditsystem. "Wir suchen die Steve Jobs des Sozialunternehmertums", sagte Ashoka-Deutschland-Geschäftsführerin Oda Heister. "Die kreativen Zerstörer der eigenen Bequemlichkeit." Nur wer das sechsstufige internationale Auswahlverfahren besteht, wird Fellow. Mehr als 3.000 von ihnen gibt es mittlerweile in 80 Ländern weltweit. Engagierte, die "Schätze finden, wo andere nur Hindernisse sehen".  

Denn nur sie, glaubt Ashoka, können etwas in Bewegung setzen, etwas Fundamentales verändern. Und um eben diesen Wandel geht es den Akteuren der Organisation, die 1980 der US-Amerikaner Bill Drayton in Indien gegründet hat. Das Wort kommt aus dem Sanskrit und bedeutet "das aktive Überwinden von Missständen". Drayton wollte Menschen ermutigen, die die Antwort auf soziale Probleme bei sich suchen und dafür bereit sind, eine Organisation zu gründen, mit der sie diese Probleme bekämpfen können. Menschen, die wie mutige, kleine Fische bereit sind, gegen den Strom der anderen zu schwimmen, und sich dabei immer mehr untereinander vernetzen, bis irgendwann die Menge der Fische auf Umkehrkurs so groß geworden ist, dass der ganze Strom die Richtung wechselt.


Nicht jede soziale Idee ist gut


"Lassen Sie uns anspruchsvoll sein", forderte Ashoka-Deutschland-Chef Felix Oldenburg. Denn auch er weiß: Nicht jede soziale Idee ist gut. Manches kann die öffentliche Hand besser, manches gelingt gemeinnützigen Organisationen bereits hinlänglich. Deshalb braucht es harte Standards und eine klare Wirkungsmessung. Umso wichtiger ist es, die Latte hochzulegen. Groß und schnell denken, mit unternehmerischen Zielen darangehen, sich mit Haut und Haaren der Sache zu widmen. Und es braucht Vorbilder, die zeigen: Geht nicht, gibt’s nicht.  

Claus Gollmann hat das oft gehört. Auch der Psychotherapeut und Psychiater ist Ashoka Fellow 2011. Denn er geht auf neue Weise ein Problem an, an dem sich Dutzende Instanzen bislang die Zähne ausbeißen: Wie können wir Kindern, die schwere körperliche, psychische oder sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben, nachhaltig helfen? Oft durchlaufen sie einen Irrgarten der Institutionen verschiedener Disziplinen. Jugendämter wollen sie vor allem erst mal in Sicherheit bringen, Pflegefamilien sind überfordert, Krankenkassen drängen: Wann kann das Kind aus der Therapie entlassen werden? "Wichtig ist, zuerst eine genaue Diagnose zu machen", sagt Gollmann. Wie hat das Kind das Trauma verarbeitet, welche traumatischen Ursachen liegen vor, welche Symptome und Störungen hat es entwickelt? Und dann entsprechend zu behandeln.  

Kind in Düsseldorf (KiD) heißt die stationäre Einrichtung, in der Gollmann eine wirksame Strategie entwickelt hat. Sechs Monate lang arbeiten die Spezialisten an einer genauen Ursachendiagnose, um auf dieser Basis eine optimale Therapie, gute Betreuung und ein stabiles Umfeld für das Kind zu finden - unter Einbeziehung der Eltern. Diese Diagnose wird konkret und allgemein verständlich formuliert, damit später Mitarbeiter in ambulanten Einrichtungen, Jugendamt und Therapie genau einschätzen können, was mit dem Kind los ist und wie sich seine Störungen konkret äußern.  

Der Ansatz ist ebenso erfolgreich wie die Warteliste lang. Nach Düsseldorf hat Gollmann eine Filiale in Hannover aufgebaut, demnächst sollen Berlin und Hamburg folgen. Langsam entsteht unter dem neuen Namen "Kind in Diagnose" so ein geschultes, eingespieltes Netzwerk aus Sozialarbeitern, Ärzten, Polizei und Jugendämtern, das den Kreislauf von Gewalterfahrung und erfolgloser institutioneller Fürsorge durchbricht - möglich war das nur auf Basis von Social Entrepreneurship. Die Krankenkassen etwa hätten viele therapeutische Maßnahmen bei KiD nicht finanziert.


Die Gesellschaft neu verkitten


Umso wichtiger ist es, dass sich Sozialunternehmer vernetzen. Denn sie brauchen Partner, die sie unterstützen. Und Entrepreneure, die ihre Erfahrungen weitergeben können. In 18 Diskussionsrunden hatten sich die Social Entrepreneurs daher zum Auftakt der Ashoka-Feier zusammengesetzt. Neue und alte Fellows erzählten von ihren Erfahrungen. Menschen wie Murat Vural, Gründer des Chancenwerks, einem Verein, der Schüler mit Migrationshintergrund fördert. Die Idee: Studenten helfen älteren Schülern, ältere Schüler helfen dafür jüngeren Schülern. Gegründet 2004, hat Vural im Januar 2010 die ersten Mitarbeiter eingestellt, heute hat er acht Angestellte und arbeitet mit 29 Kooperationsschulen in 13 Städten zusammen. Doch mit dem Erfolg kommen neue Probleme. Wie soll er wachsen? Wie kommt er an neue Schulen, wie knüpft er Verbindungen zu neuen Städten?  

Einige Pläne hat Vural längst über den Haufen geworfen. Während er etwa vor zwei Jahren noch die rasche Zielgröße von 100.000 Schülern im Visier hatte, weiß er heute: "Das ist weder realistisch noch sinnvoll." Denn Wachstum muss gut überlegt sein, damit die Qualität der Idee nicht leidet. Und allzu oft ist es verflixt schwer, einen Fuß in die Tür zu bekommen. Manchmal schälen sich dabei ungewohnte Wege heraus. Wenn eine Hamburger Stiftung auch kein Geld gibt, wird sie plötzlich doch zum ergiebigen Partner auf der Suche nach nützlichen Kontakten in der Hansestadt. Wenn die Schulleiter von außen nur schwer zu knacken sind, helfen Rotarier mit ihren Verbindungen - und finanzieren gleich das Engagement von Chancenwerk in den entsprechenden Schulen.


Weniger bekannt als vermutet


Projekte wie dieses zeigen, was möglich ist mit sozialem Unternehmertum. Wenn Ashoka-Deutschland-Chef Oldenburg von der "Engagementquote als Währung der Zukunft" spricht, kann man ihm nur zustimmen. In der Tat setzt sich die Erkenntnis durch, dass der Staat allein auf Dauer nicht mehr in der Lage sein wird, die sozialen und ökologischen Probleme zu lösen. Die Krise der Staatsfinanzen, der Wandel in der Wirtschaft, das Strudeln an den Märkten, der Einzug der Unsicherheit als steter Begleiter im modernen Leben lassen daran keinen Zweifel mehr. Natürlich, in Deutschland gibt es weder Trinkwasserknappheit noch Hungersnot wie in vielen Ländern der Welt. Doch gerade die Bewegung des Sozialunternehmertums macht sichtbar, was oft von den multiplen Versorgern des Sozialstaates maskiert wird. "Sozialentrepreneure müssen in Deutschland keine Steine aufsammeln, um Brunnen zu bauen", sagt Oldenburg, "sondern die Gesellschaft neu verkitten."  

Auch wenn Sozialunternehmertum außerhalb der Szene weit weniger bekannt ist, als seine Protagonisten im Allianz Forum offenbar vermuten - das zeigt schon eine schnelle Stichprobe auf dem Pariser Platz -, ist spürbar etwas in Bewegung gekommen. Nicht zufällig beginnen sich die Hochschulen mit dem Thema zu befassen, wurde der erste Lehrstuhl für Social Entrepreneurship gegründet, etablieren sich Konferenzen über Sozialunternehmertum von Ashoka bis zum Vision Summit, entdecken Verlage das Thema für den Buchmarkt. Und nicht zufällig hatte in diesem Jahr zum ersten Mal Bundesfamilienministerien Kristina Schröder vor der Ashoka-Feier zum "Multistakeholdergespräch zur Förderung von Sozialunternehmen" ins Allianz Forum geladen, Expertendiskussionen zu sechs Themenbereichen, die eine größere Konferenz im kommenden Jahr vorbereiten sollten.  

"Es ist Zeit, heute neue Wege zur Unterstützung von Sozialunternehmern einzuschlagen", sagte die Familienministerin. "Sie stellen zwar nur einen kleinen Teil der Wirtschaftskraft, aber leisten einen entscheidenden Beitrag für den Ideenreichtum." Sie versprach, Brücken zwischen Sozialunternehmen und Wohlfahrtsverbänden zu bauen und die Gründungsbedingungen für Sozialunternehmer zu verbessern. "Es kann nicht sein, dass in Deutschland soziale Innovationen schlechtere Startbedingungen haben als wirtschaftliche Innovationen." Immer noch sind Sozialunternehmer als Zwitter zwischen Wirtschaft und Wohlfahrt im Gegensatz zum angelsächsischen Raum in Deutschland rechtlich benachteiligt.  

Es klang wie reichlich mediales Getrommel, doch tatsächlich kam die Familienministerin nicht mit leeren Händen. Axel Nawrath, Vorstandsmann der KfW Bankengruppe, stellte ein neues Instrument zur Wachstumsfinanzierung von Sozialunternehmen vor. Die Idee: Die KfW will ab 1. Januar 2012 zu einem privaten Kredit die gleiche Summe zu gleichen Konditionen dazugeben - bis maximal 200.000 Euro. Nawrath: "Wir glauben, dass wir mit diesem Produkt etwas anbieten, das es in Deutschland noch nicht gibt." Vorausgesetzt, die KfW lässt es nicht bei Versprechungen, sondern packt im Januar tatkräftig an - und lässt Geld fließen.


Ich sag change und ihr sagt maker!


Das Modell ist ein Schritt in die richtige Richtung. "Es kann die Lücke schließen zwischen kleinen und großen Vorhaben", so Ashoka-Chef Oldenburg, "und den noch unsichtbaren Fachkräftemangel unserer Zeit bekämpfen helfen: Menschen, die sich trauen, soziale Probleme selbst zu lösen." Langfristig will er "Ökosysteme schaffen, die es erleichtern, sich zu engagieren". Denn immer noch bleibt viel Potenzial ungenutzt. Umfragen zufolge wollen sich beispielsweise 80 Prozent der Jugendlichen engagieren, aber nur 30 Prozent tun es. Wie also die verbleibenden 50 motivieren?  

Zum Beispiel durch Rap. Anders gesagt: Ehrenamt cool machen, wie es Dennis Hoenig-Ohnsorg, Leiter der Ashoka Jugendinitiative, nennt. Salahdin Said, Baran Keskin und Hans Storck machen es an diesem Abend vor. "Erst hab ich gedacht: Engagement? Keinen Bock, was bringt mir das. Jetzt bin ich stolz, auf der Bühne zu stehen", sagt Keskin. Die Beats wummern, die Kumpels wippen im Lichtgewitter des Bühnenrunds, Keskin schnappt sich das Mikro und ruft in lupenreinem Rap-Style ins Publikum: "Ich sag change und ihr sagt - maker!!!"  


changeX 03.11.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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