Das Einzigartige, Glück und anderes mehr

Die changeX-Buchumschau zu Ostern 2024
Auswahl und Kurzrezensionen: Winfried Kretschmer

In unserer Buchauslese geht es dieses Mal: um das letzte Gefecht der Kopiergesellschaft und das, was danach kommt; um Transformation, die nur gelingen kann, wenn sie bei einem selbst beginnt; um das, was Künstliche Intelligenz kann (Kitsch) und was sie nicht kann (Kunst); um den Gedanken, dass es das Streben nach Glück ist, was Menschen unglücklich macht; um eine Art des Lernens, das der Wissensarbeit entspricht, nämlich selbstorganisiertes oder selbstgesteuertes Lernen; um die leider nicht natürlichste Sache der Welt: Zuhören; um ungenutzten - unsichtbaren - Wohnraum, der sich mit sozialen Innovationen nutzbar machen ließe; und schließlich um einen innovativen kleinteilig-vernetzten Ansatz zur Schaffung von Lebensraum für wildlebende Tiere und Pflanzen.

Unsere Buchumschau, dieses Mal mit folgenden Autoren und Themen: Der Autor und Essayist Wolf Lotter zeigt in seinem neuen Buch, was genau den Unterschied ausmacht zwischen Industrie- und Wissensgesellschaft: es ist das Echte, das Einzigartige statt der Kopie. Die Autorin und Vortragsrednerin Anja Förster sieht einen inneren Reifeprozess als Voraussetzung für die Veränderung äußerer Umstände oder Bedingungen. Und stellt die Fähigkeiten und Begabungen vor, die auf diesem Weg Orientierung geben. Die Philosophin Dorothea Winter beschäftigt sich mit der "hochkomplexen Dummheit", die KI-Systeme auszeichne. Sie warnt: Wenn KI Kunst macht, kommt Kitsch heraus. Das jedoch wird unsere Wahrnehmung von Kunst verändern. Der Autor Oliver Burkeman spürt dem Paradoxon nach, dass ausgerechnet das Streben nach Glück die Menschen unglücklich macht. Klaus Konrad, Professor für Pädagogische Psychologie in Weingarten, beschreibt selbstgesteuertes beziehungsweise selbstorganisiertes Lernen als die Lernform, die dem Wissenszeitalter angemessen ist. Der Trainer und Coach Reinhold Stritzelberger will Vielrednerei und Selbstdarstellungssucht in die Schranken weisen und setzt sich empathisch und mit klarem Praxisbezug für besseres Zuhören ein. Der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Daniel Fuhrhop rückt eine neue Kategorie von Wohnraum ins Blickfeld: "unsichtbarer Wohnraum" bezeichnet vorhandenen, aber nicht oder nicht mehr genutzten Wohnraum, zum Beispiel bei alleinstehenden älteren Menschen. Der Vogelkundler Peter Berthold empfiehlt Mikrobiotope als Naturschutzinnovation - das Ziel: Wiederbelebung der Artenvielfalt durch Renaturierung und Schaffung kleinteilig-vernetzter Biotope.


Vom Echten und Einzigartigen


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Die Industriegesellschaft ist nicht passé. Sie wirkt fort. In Strukturen, Mentalitäten, Organisationen, in der Kultur. Das ist eine Kernaussage des unlängst erschienenen Essays von Wolf Lotter. In seinem neuen Buch spürt er nun der Frage nach, was genau den Unterschied ausmacht zwischen der Industrie- und der Wissensgesellschaft. Und er kommt zu einer überraschenden These, die das Gewohnte, unser Verständnis von normal auf den Kopf stellt. 

Der Reihe nach: Die Industrie ist Meisterin in der Reproduktion des Immergleichen, der Serienfertigung von identischen Kopien. Die Industrialisierung sei der Eintritt in "das Zeitalter der Masse und des Nachmachens". "Die Kopie ist zur Normalität geworden", schreibt Lotter. Und "was an Unterschiedlichkeit, Differenz fehlt, sollen Werbung und Marketing richten". Diese Massenfertigung von Kopien geht einher mit einer Entwertung des Originals: "Nie war der Respekt vor dem Original und seinen Urhebern so gering wie heute." Was wir gerade erleben, sei "das letzte Gefecht der Kopiergesellschaft". Die Wissensgesellschaft hingegen "lebt vom Echten vom Einzigartigen". Das ist der Unterschied. "Das Echte braucht echte Aufmerksamkeit im Sinne von Zuwendung und Ernsthaftigkeit." Denn das Echte zu wollen, das bedeutet: "Wir müssen herausfinden, wer wir wirklich sind, was wir wirklich können, was wir wirklich brauchen." Und das können nur Menschen, das kann keine KI. Dieses Echte und Einzigartige folgt keinem Vorbild, unterliegt keinem Standard, es verlangt echte Arbeit und nachdrückliches Bemühen. Das ist der Kernpunkt. "Das Echte ist unsere Zukunft, das Original unser Geschäft. Und beides zusammen macht aus, was wir Transformation nennen." 

Daraus resultiert ein anderes Verständnis von Arbeit. Arbeit und Entwicklung der Person fallen zusammen, die falsche Trennung zwischen Kopf- und Handarbeit findet ein Ende. Das Bild der Arbeit, das Lotter zeichnet, ist mit dem Begriff Wissensarbeit nur unzureichend beschrieben. Es findet sein Vorbild eher im Handwerk. In der Meisterschaft, sein Know-how mit Verstand und Talent "zu neuen, schöpferischen, innovativen Dingen und Sachverhalten zu führen". Lotter stellt unser Verständnis von der Arbeit vom Kopf auf die Füße. Das ist radikal und stellt unser von industriegesellschaftlicher Normalität geprägtes Verständnis von Arbeit infrage. "Was die Transformation heute braucht, ist weniger die Vorstellung, dass wir in eine völlig neue Welt gehen, sondern im Grunde die geistige Ausnahmesituation der vergangenen zweihundert Jahre überwinden". 

Das Buch endet - wunderschön - mit dem Musiker und Sänger Nick Cave, der sehr klar umschrieben hat, was menschliche Kreativität von Produkten künstlicher Intelligenz unterscheidet: Es ist die Kühnheit (und das Bemühen), in der Auseinandersetzung mit der eigenen Unzulänglichkeit über seine Grenzen hinauszugehen. Hierin liegt "der künstlerische Akt, der das Herz des Zuhörers berührt", so Cave, der seinen vielfältigen künstlerischen Aktivitäten jüngst eine weitere hinzugefügt hat, wie das Süddeutsche Zeitung Magazin kürzlich in einer Titelgeschichte (*) berichtet hat: Er fertigt Keramikfiguren, die er selbst brennt und bemalt. Echte Handarbeit.


Radikale Akzeptanz: akzeptieren, dass es so ist, wie es ist


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Welch ein Unterschied! Was gestern galt: proaktiv sein, nicht reaktiv; schon am Anfang das Ende im Sinn haben; das Wichtigste zuerst tun; im Win-Win-Modus denken; erst verstehen, dann verstanden werden; Synergien schaffen; auf eine ausgewogene Selbsterneuerung achten. Das sind Die sieben Wege zur Effektivität, Stephen R. Coveys "Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg". Eine geradlinige Strategie, geleitet von klaren Paradigmen und Prinzipien, seit dem ersten Erscheinen im Jahr 2004 millionenfach verkauft. Ein Megabestseller. Doch hat sich die Welt seitdem grundlegend geändert. Stabilität und Verlässlichkeit als Grundlage langfristiger Strategie sind passé. Am Inhalt des Buches hat sich jedoch nichts geändert. Die Welt aber ist eine andere geworden. Das verlangt, grundlegend anders zu denken. 

Das tut Anja Förster, Autorin, Vortragsrednerin und Gründerin der Initiative "Rebels at Work". Nicht Erfolg, sondern Transformation ist ihr Thema. Effizient und fehlerfrei zu funktionieren, war gestern. "Heute ist Erneuern die sehr viel wichtigere Arbeit." Mit den tiefgreifenden Veränderungen der Zeit umzugehen, erfordere einen inneren Reifeprozess. Als Wegbegleiter und Lotsen auf diesem Weg stellt die Autorin ihre sieben "Superkräfte" vor. Diese sind, kurz genannt: Stille und Kontemplation als Schlüssel, um den Blick für das Wesentliche zu wahren; die "radikale Akzeptanz, dass es so ist, wie es ist"; sich Eigenmacht zugestehen; Ungewissheit zulassen, Gewohntes loslassen und Nichtwissen akzeptieren; Entschiedenheit als "die Fähigkeit, im richtigen Augenblick Ja, aber auch Nein zu sagen"; flexibles Denken und nicht zuletzt Experimente als die zeitgemäße Strategie in einer Welt der Umbrüche und steten Wandels. Entscheidend bei alldem ist für Anja Förster, dass die Transformation nicht äußerlich bleibt. Sondern zur eigenen wird. "Nicht die Umstände oder Bedingungen müssen sich ändern, damit ich in Zeiten des krisenhaften Umbruchs wieder Sicherheit gewinne, sondern ich selbst muss es. Diese Haltung anzunehmen, verändert alles."


Kitsch as KI can


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"Entgegen der Wortbedeutung ist KI vor allem eines: dumm." Mit dieser These beginnt die Philosophin Dorothea Winter das erste Kapitel ihres Buches. Die kluge Idee ihres Essays ist es, Künstliche Intelligenz am Maßstab der Kunst zu messen und so zu einer besseren Einschätzung zu gelangen, was KI ist und kann. Das Ergebnis in aller Kürze: Wenn KI Kunst macht, kommt Kitsch heraus. Dies jedoch wird unsere Wahrnehmung von Kunst verändern. Das schmale Büchlein bietet eine sehr hellsichtige Kurzeinführung sowohl in Künstliche Intelligenz wie in den geschichtlichen Wandel des Kunstbegriffs. 

Dumm ist KI aus zwei Gründen: Zum einen mangelt es ihr an Intentionalität, also an der "Fähigkeit, einen Denk- oder Handlungsimpuls ohne weitere Prämissen aus sich selbst heraus zu setzen". Zum anderen kann KI "Output nur basierend auf dem eingegebenen Input liefern". Jedes Ergebnis, das eine KI liefert, basiert zwangsläufig auf den Daten und den Algorithmen, die in dieses System eingegeben worden sind. Winter spricht von einer "hochkomplexen Dummheit", die KI-Systeme auszeichne. Ähnliches gilt für die Frage: kann KI Kunst? Die Autorin antwortet einem klaren Nein. Zum einen fehlt KI die Intentionalität und damit die Freiheit des Individuums, die seit Kant grundlegend für den Kunstbegriff ist. Zum anderen ist KI immer eindeutig und verschließt sich damit der Mehrdeutigkeit, die die Grundlage jener Offenheit für Interpretation ist, die Kunst auszeichnet. Was bleibt, ist Kitsch. Aber mit Folgen. "Wenn wir KI immer weiter ‚alleine‘ Kitsch produzieren lassen, dann verändert dieser Kitsch letztlich unseren Geschmack." Was es bedeutet, wenn KI auf die Kunst losgelassen wird, diskutiert Dorothee Winter in seinen durchaus ambivalenten Auswirkungen im hinteren Teil ihres Essays und stellt fünf Forderungen als erste Diskussionsgrundlage vor. Ihr Resümee: "Ohne eine rechtliche Einzäunung droht KI die Welt der Kunst mit Kitsch zu erdrücken." 


Der negative Weg zum Glück


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Das Streben nach Glück ist oft genau das, was uns unglücklich macht. Unser ständiges Bemühen, das Negative - Unsicherheit, Ungewissheit, Versagen oder Traurigkeit - zu beseitigen, führt dazu, dass sich diese unguten Gefühle in unser Leben einschleichen. Das ist kurz zusammengefasst die Ausgangsthese von Oliver Burkemans Buch Das Glück ist mit den Realisten. Diese Erkenntnis ist das Ergebnis seiner langjährigen journalistischen Recherche im Gebiet der Psychologie. Seine Schlussfolgerung lautet, "dass wir, um wirklich glücklich zu sein, bereit sein müssen, mehr negative Emotionen zuzulassen - oder wenigstens aufhören, vor ihnen davonzulaufen". Für den Autor "ein verwirrender Gedanke, der nicht nur unsere Methoden zum Erlangen um Glück infrage stellt, sondern auch unsere Annahmen darüber, was ‚Glück‘ eigentlich bedeutet". Burkeman wollte es genau wissen und machte sich auf zu einer Erkenntnisreise, die ihn zu Menschen führt, die sich an einer radikal anderen Zugangsweise zum Thema Lebensglück versuchen. Der erste Schritt: zu lernen, "dem Positiven nicht mehr so verbissen hinterherzulaufen". Denn das Problem des "Optimismuskults" bestehe in dem "ironischen, selbstzerstörerischen Kampf, der die Positivität untergräbt, wenn wir uns zu sehr anstrengen". 

Burkeman traf Buddhisten, moderne Stoiker, eingefleischte Pessimisten, Spezialisten in der Kunst des Scheiterns und andere Verfechter negativen Denkens. Herausgekommen ist dabei keine neue Heilslehre. Vielmehr solle man die verschiedenen Ansätze als Werkzeugkasten betrachten, aus denen man sich nach Bedarf bedienen kann, empfiehlt der Autor. "Anders als die Flut der Selbsthilfeprogramme, die vorgeben, umfassende Lebensanleitungen zu sein, ist der negative Weg zum Glück keine Alles-oder-nichts-Angelegenheit." Was macht diesen Weg nun aus? Mäßigung und Ausgewogenheit gehören dazu, die Fähigkeit, innezuhalten und einen Schritt zurückzutreten, und nicht zuletzt auch die Fähigkeit, Ungewissheit, Rätsel, Zweifel ertragen zu können. Also das Verlangen nach Gewissheit und Vollendung aufzugeben. Sich im Lassen zu üben. Eine Rolle spielt nicht zuletzt eine veränderte Haltung zum Nichtwissen, die darin besteht, dass sie "dem Geheimnis wieder Raum gibt". Auch den Begriff der Ehrfurcht stellt Burkeman in den Raum. Und macht klar: "Der negative Weg zum Glück ist eine andere Art von Weg. Und er führt zu einer anderen Art von Ziel."


Mehr Freiheit beim Lernen ermöglichen


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Selbstgesteuertes Lernen liegt im Trend. Wieder oder noch immer. Das konstatiert der Pädagogik-Professor Klaus Konrad, der sich schon in seiner Promotion und Habilitation mit selbstgesteuertem Lernen beschäftigt hat. In seinem Buch mit dem programmatischen Titel Selbstgesteuertes Lernen ermöglichen bietet er nun eine kompakte theoretische wie praktische Gesamtschau zum Thema. Bei selbstgesteuertem Lernen handelt es sich "um ein wegweisendes Konzept, das aktuellen gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen entgegenkommt". Deshalb genieße das Thema derzeit eine hohe Wertschätzung. Kein Wunder, denn selbstgesteuertes - oder synonym: selbstorganisiertes, selbstreguliertes oder eigenverantwortliches - Lernen ist das pädagogische Konzept, das der Entwicklung zur Wissensarbeit und zur Wissensgesellschaft entspricht. "Wenn Inhaltswissen schnell veraltet, dann ist es eine wichtige Aufgabe aller Schulen, auch für die Entwicklung solcher Fähigkeiten und Fertigkeiten Sorge zu tragen, die weiteres Lernen ermöglichen." Das sind die "4K": Kreativität, kritisches Denken, Kommunikation und Kollaboration. Ziel ist es, Schülerinnen und Schülern "zunehmende Freiheitsgrade beim Lernen zu ermöglichen". Das erfordert freilich eine aktive Förderung durch die Lehrpersonen. Die Mehrzahl der Lernenden müsse im Unterricht dabei unterstützt werden, sich selbständig neues Wissen oder gar neue Kompetenzen zu erarbeiten, schreibt Konrad. 

Wichtig dabei sind Konzepte des Übergangs, die ein Dazwischen ermöglichen: Fading (engl. Nachlassen) als schrittweise Übertragung der Verantwortung für das Lernen vom Lehrenden auf die Lernenden. Und das Sandwichprinzip als ein systematischer, mehrfacher Wechsel zwischen kollektiven Phasen der Wissensaufnahme einerseits und Phasen der individuellen Wissensverarbeitung andererseits. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass unterschiedliche Wissensinhalte nach unterschiedlichen Formen der Wissensvermittlung und -aneignung verlangen. Das Buch bietet einen systematischen und kompakten Überblick über das Feld selbstorganisierten Lernens, verbunden mit zahlreichen praktischen Anleitungen für die Umsetzung im Unterricht. Dabei stützt sich die Publikation beinahe ausschließlich auf die pädagogische Fachliteratur. Auffällig ist die fehlende Vernetzung mit anderen Wissensbereichen, zum Beispiel in der Erwachsenenbildung und der Gestaltung kooperativer Lernprozesse in Teams und Großgruppen. Das aber könnte befruchtend sein.


Klappe halten und zuhören


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Ein Ratgeber zum Thema Zuhören, das klingt ein bisschen wie ein Kochbuch übers Wasserkochen. Eine Anleitung zu etwas Selbstverständlichem. So einfach ist es aber nicht. "Zuhören ist leider nicht die natürlichste Sache der Welt", schreibt Reinhold Stritzelberger in der Einführung zu seinem Buch zu diesem Thema. Zuhören sei "eine der meist unterschätzen Kompetenzen in unserer Gesellschaft". Zuhören ist nicht nur Voraussetzung für eine wirksame Zusammenarbeit zwischen Menschen, sondern auch eine der wichtigsten Fähigkeiten für einen gelingenden Umgang miteinander. "Nicht gehört zu werden, tut weh. Denn jeder trägt das tief verwurzelte Bedürfnis in sich, durch und durch verstanden zu werden." 

Nur, wenn das so ist, warum ist es dann so schlecht bestellt ums Zuhören? Das ist das grundlegende Dilemma, dem der Trainingspraktiker Stritzelberger in seinem Buch nachspürt. Natürlich ist das nicht neu. So notierte der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher vor fast 200 Jahren: "Die Praxis geht davon aus, dass sich das Missverstehen von selbst ergibt und das Verstehen auf jedem Punkt muss gewollt und gesucht werden." Und natürlich gibt es Fach- und Sachbücher zum Thema. Aber die beginnen nicht selten beim Sender-Empfänger-Modell der Kommunikation, gehen also theoretisch und lehrbuchmäßig vor. Anders Stritzelberger, bei ihm geht es gleich zur Sache. Ganz konkret rein in die Niederungen nicht gelingenden Zuhörens. Das Buch macht deutlich: "Richtig gut zuhören zu können, ist eine Schlüsselkompetenz, im Privat- wie auch im Berufsleben." Dabei nimmt die Qualität des Zuhörens jedoch eher ab als zu. Und so ist der Autor keineswegs optimistisch. "Redekultur und Selbstdarstellungssucht werden sich aller Wahrscheinlichkeit nach immer stärker ausbreiten", schreibt er. Mit seinem Taschenratgeber will Stritzelberger gegensteuern und setzt sich empathisch und mit klarem Praxisbezug für besseres Zuhören ein. Und macht deutlich: Auch Zuhören will trainiert sein. "Üben Sie Zuhören, immer wieder aufs Neue, am besten täglich."


Soziale Innovation des Wohnens


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Das Unsichtbare war schon öfter ein Thema auf changeX. Unsichtbare Arbeit zum Beispiel, die nicht in den Blick gerät, weil Arbeit in der herrschenden ökonomischen Lehre anders konzipiert ist. Das betrifft vor allem von Frauen geleistete Hausarbeit, aber auch die zumindest bis zur Coronapandemie wenig geschätzte Care-Arbeit. Unsichtbar ist demnach etwas, das von einer dominanten Theorie nicht erfasst wird. Beim Thema Bauen und Wohnen ist in dieser Hinsicht die "graue Energie" in den Blick gerückt. Die Energie also, die einmal für den Bau eines Gebäudes eingesetzt wurde und die bei dessen Abriss dann verloren ist - bei zusätzlichem Energieeinsatz für die Abrissarbeiten. Was die die Kohlendioxidbilanz von Neubauten zusätzlich verschlechtert. Fakt ist: Neu bauen verbraucht Energie und Ressourcen und setzt klimaschädliche Emissionen frei. Der Neubau von Wohnungen verursacht fast ebenso viele Emissionen wie sämtliche bestehenden Haushalte, zum Beispiel durch Heizen. Wie sich das durch weniger klimaschädliche und ressourcenschonende Bauweisen in den Griff kriegen ließe, wird unter dem Begriff der "Bauwende" diskutiert. 

Der Wirtschaftswissenschaftler und Autor Daniel Fuhrhop - der in seiner Streitschrift Verbietet das Bauen (2020) vehement dafür plädiert, die bereits gebaute Stadt intelligent zu nutzen - macht in seiner Dissertationsschrift nun eine neue Perspektive auf. Unter dem Schlagwort der "Wohnwende" führt er einen neuen Begriff ein: den des unsichtbaren Wohnraums. Unsichtbar, weil er in der öffentlichen Wahrnehmung und den offiziellen Statistiken nicht auftaucht und zudem in der wissenschaftlichen Literatur nicht einheitlich beschrieben wird. Es ist eine neue Kategorie von Wohnraum: nicht Leerstand, nicht Zweckentfremdung, auch nicht bislang ungenutzte Räume wie zum Beispiel nicht ausgebaute Dachgeschosse. Unsichtbarer Wohnraum bezeichnet vorhandenen, aber nicht oder nicht mehr genutzten Wohnraum: "ungenutzte Zimmer in großen Wohnungen, oft ehemalige Kinderzimmer bei alleinstehenden älteren Menschen, die den Raum nicht benötigen". Nicht genutzte Räume also in bewohnten Wohnungen. Um welche Größenordnungen es geht und wie sich dieses Potenzial nutzen ließe, damit beschäftigt sich Furhops Promotionsschrift. Das Potenzial ist beachtlich. "Es gibt … hierzulande knapp 9 Millionen Wohnungen, die so groß sind, dass ein, manchmal zwei oder sogar mehr Personen zusätzlich dort unterkommen könnten." 

Die Studie nennt Ansatzpunkte, wie unsichtbarer Wohnraum nutzbar gemacht werden kann: Untermiete, Umzug, Umbau, Vermittlung und flexibles, flächensparendes Wohnen in Form gemeinschaftlicher Wohnformen. Es geht also um soziale Innovationen und veränderte soziale Praktiken beim Wohnen. Im Mittelpunkt der Publikation steht das Modell "Wohnen für Hilfe": Junge Leute, Studierende zum Beispiel, wohnen bei älteren Menschen, zahlen keine (oder nur wenig) reguläre Miete, sondern helfen stattdessen im Garten, beim Einkauf oder im Haushalt. Unter der genannten Wohnwende versteht Fuhrhop eine "Kreislaufwirtschaft des Wohnens", in der Wohnraum immer wieder neu genutzt wird. Das Ziel: durch die Vermeidung von Leerstand, durch Umbau und die Nutzbarmachung unsichtbaren Wohnraums Neubauten vielfach überflüssig zu machen. Unsichtbaren Wohnraum zu nutzen, bedeutet für den Autor idealerweise: "Älteren Menschen ein angenehmes Wohnen ermöglichen, dadurch Reserven des Wohnraums in Altbauten heben und klimaschädlichen Neubau vermeiden.


Mikrobiotope als Naturschutzinnovation


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Am radikalsten und umfassendsten hat sich der industriegesellschaftliche Trend zur Vereinheitlichung gar nicht in der industriellen Produktion durchgesetzt. Hier sorgt eine Vielfalt an Kundenbedürfnissen für eine breite Palette an massengefertigten Produkten. In der Bewirtschaftung des Landes hingegen konnte sich der Trend zur standardisierten Einheitsnorm ungehindert durchsetzen. Wiesen und Äcker, die vor wenigen Jahrzehnten noch ein Bild von Reichtum und Vielfalt boten, sind heute einer extremen Form von Monokultur gewichen. Auf riesigen Feldfluren steht zu 99,99 Prozent nur eine Sorte Getreide oder Einheitsgras, schreibt der Vogelkundler und Verhaltensforscher Peter Berthold, langjähriger Leiter der Vogelwarte Radolfzell am dortigen Max-Planck-Institut für Ornithologie. "Die Getreide- und sonstigen Felder sind praktisch frei von wild lebenden Blütenpflanzen". Mit Konsequenzen. Dem Verlust am Pflanzenreichtum auf Feldern und Wiesen folgte ein drastischer Rückgang der Population von Vögeln und Insekten. Seit 1800 hat die Zahl der Vögel in Deutschland um 80 Prozent abgenommen, allein seit 1950 um 65 Prozent. Bei Insekten beträgt der Rückgang 80 Prozent in den letzten 30 Jahren. Ein dramatischer Verlust an Biodiversität in der Spanne eines Menschenalters. Geschehen im Leben von Peter Berthold, heute 83-jährig und längst emeritiert. Sein Buch mit dem dramatisch-drastischen Titel Hilfeschrei der Natur schöpft aus seiner lebendigen Erinnerung - ein kleines Schwarzweißfoto zeigt ihn 1944 als Fünfjährigen an einer üppig blühenden Wiese. Das großformatige Buch ist reich bebildert, doch schrecken die drastische Wortwahl und das konservative, die Natur idyllisierende Weltbild des Autors ab (ein Rezensent eines früheren Buchs von Berthold sprach gar von reaktionärer Öko-Verbissenheit). 

Doch zeigt der Autor auch eine andere Seite: vorwärtsgewandt, zukunftsorientiert und zugleich pragmatisch. Neben seiner aus eigener Anschauung schöpfenden Beschreibung der Natur ist es ein innovatives Naturschutzkonzept, das sein Buch auszeichnet. Bereits 1988 hatten Berthold und seine Mitarbeiter unter dem Motto "Jeder Gemeinde ihr Biotop" ein kleinteilig-vernetztes Konzept zur Schaffung von Überlebensräumen für Tiere und Pflanzen vorgeschlagen. Das Ziel: "Wiederbelebung der Artenvielfalt durch Renaturierung im Biotopverbund". Das Arche-Noah-Prinzip. "Möglichkeiten, Archen Noahs für das Überleben von Tieren und Pflanzen einzurichten, gibt es viele", schreibt Berthold heute. Nicht nur im kommunalen Bereich. Auch Gewerbegebiete und Industrieanlagen, Freiflächen von Unternehmen, öffentlichen Einrichtungen oder Sportstätten sowie Verkehrsanlagen empfiehlt der Autor zur ökologischen Umgestaltung. Konsequent erweitert Berthold sein ursprüngliches, auf Gemeinden zielendes Konzept hin zu kleinteiligen Lösungen - gerade in den Nutzgärten im Land - und öffnet es damit für private Initiativen: ökologische Begrünung selbst kleiner Balkons, Bepflanzung von kahlen Terrassen und Hausdächern, Begrünung von Fassaden und nicht zuletzt eine für Wildlebewesen günstige Gestaltung von kleinen Haus- und Vorgärten. Naturnah gestaltet und nachhaltig bewirtschaftet, könnten die vielfältigen Nutzgärten im Land "etwa ähnlich vielen wild lebenden Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten wie alle unsere Naturschutzgebiete". Für Warnungen sei es zu spät, so der Autor. "Jetzt gilt es zu handeln."

(*) "Teufelskerl. Der Sänger Nick Cave ist in seinem Leben mehr als einmal durch die Hölle gegangen - jetzt ist er zum Keramikkünstler geworden. Ein Atelierbesuch, Süddeutsche Zeitung Magazin, Nr. 11 vom 15. März 2024, Titelgeschichte, S. 12-19


Zitate


"Die Kopie ist zur Normalität geworden." Wolf Lotter: Echt

"Das Echte braucht echte Aufmerksamkeit im Sinne von Zuwendung und Ernsthaftigkeit." Wolf Lotter: Echt

"Das Echte ist unsere Zukunft, das Original unser Geschäft. Und beides zusammen macht aus, was wir Transformation nennen." Wolf Lotter: Echt

"Was die Transformation heute braucht, ist weniger die Vorstellung, dass wir in eine völlig neue Welt gehen, sondern im Grunde die geistige Ausnahmesituation der vergangenen zweihundert Jahre überwinden." Wolf Lotter: Echt

"Krisen, Rückschläge und Verluste gehören zum Leben dazu. Die Frage ist also nicht: Wie geh gehe ich ihnen aus dem Weg? Sondern: Wie gehe ich mit ihnen um?" Anja Förster: 7 Superkräfte

"Heute ist Erneuern die sehr viel wichtigere Arbeit." Anja Förster: 7 Superkräfte

"Nicht die Umstände oder Bedingungen müssen sich ändern, damit ich in Zeiten des krisenhaften Umbruchs wieder Sicherheit gewinne, sondern ich selbst muss es. Diese Haltung anzunehmen, verändert alles." Anja Förster: 7 Superkräfte

"Entgegen der Wortbedeutung ist KI vor allem eines: dumm." Dorothea Winter: KI, Kunst und Kitsch

"Wenn wir KI immer weiter ‚alleine‘ Kitsch produzieren lassen, dann verändert dieser Kitsch letztlich unseren Geschmack." Dorothea Winter: KI, Kunst und Kitsch

"Ohne eine rechtliche Einzäunung droht KI die Welt der Kunst mit Kitsch zu erdrücken." Dorothea Winter: KI, Kunst und Kitsch

"Anders als die Flut der Selbsthilfeprogramme, die vorgeben, umfassende Lebensanleitungen zu sein, ist der negative Weg zum Glück keine Alles-oder-nichts-Angelegenheit." Oliver Burkeman : Das Glück ist mit den Realisten

"Der negative Weg zum Glück ist eine andere Art von Weg. Und er führt zu einer anderen Art von Ziel." Oliver Burkeman : Das Glück ist mit den Realisten

"Wenn Inhaltswissen schnell veraltet, dann ist es eine wichtige Aufgabe aller Schulen, auch für die Entwicklung solcher Fähigkeiten und Fertigkeiten Sorge zu tragen, die weiteres Lernen ermöglichen." Klaus Konrad: Selbstgesteuertes Lernen ermöglichen

"Zuhören ist leider nicht die natürlichste Sache der Welt." Reinhold Stritzelberger: Zuhören

"Nicht gehört zu werden, tut weh. Denn jeder trägt das tief verwurzelte Bedürfnis in sich, durch und durch verstanden zu werden." Reinhold Stritzelberger: Zuhören

"Richtig gut zuhören zu können, ist eine Schlüsselkompetenz, im Privat- wie auch im Berufsleben." Reinhold Stritzelberger: Zuhören

"Es gibt hierzulande knapp 9 Millionen Wohnungen, die so groß sind, dass ein, manchmal zwei oder sogar mehr Personen zusätzlich dort unterkommen könnten." Daniel Fuhrhop: Der unsichtbare Wohnraum

"Eine Nutzung des unsichtbaren Wohnraums bedeutet idealerweise: Älteren Menschen ein angenehmes Wohnen ermöglichen, dadurch Reserven des Wohnraums in Altbauten heben und klimaschädlichen Neubau vermeiden." Daniel Fuhrhop: Der unsichtbare Wohnraum

"Unsere vielfältigen Nutzgärten - die immerhin etwa vier Prozent der Landesfläche ausmachen - könnten, wenn naturnah ökologisch ausgerichtet und nachhaltig bewirtschaftet, etwa ähnlich viel vielen wild lebenden Tieren und Pflanzen Lebensraum bieten wie alle unsere Naturschutzgebiete mit ähnlicher Gesamtfläche." Peter Berthold: Hilfeschrei der Natur

"Jetzt gilt es zu handeln." Peter Berthold: Hilfeschrei der Natur

 

changeX 30.03.2024. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Vorfrühlingsgedanken

Die changeX-Buchumschau 1|2024 Anfang März 2024 zur Sammelrezension

Quellenangaben

Zu den Büchern

: Echt. Der Wert der Einzigartigkeit in einer Welt der Kopien. Econ Verlag, Berlin 2024, 224 Seiten, 22.99 Euro (D), ISBN 978-3-430211093

Echt

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: 7 Superkräfte. Gestalten, Leben und Sein in einer chaotischen Welt. Econ Verlag, Berlin 2024, 208 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-430211130

7 Superkräfte

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: KI, Kunst und Kitsch. Ein philosophischer Aufreger. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2023, 86 Seiten, 14 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0529-9

KI, Kunst und Kitsch

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: Das Glück ist mit den Realisten. Warum positives Denken überbewertet ist, Übersetzt von: Henning Dedekind und Heide Lutosch. Piper Verlag, München 2022, 288 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-492-07261-8

Das Glück ist mit den Realisten

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: Selbstgesteuertes Lernen ermöglichen. Reclam Verlag, Stuttgart 2023, 152 Seiten, 6.80 Euro (D), ISBN 978-3-15-014296-7

Selbstgesteuertes Lernen ermöglichen

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: Zuhören. Tipps, Strategien und Übungen zum besseren Kommunizieren. Haufe Taschenguide, Freiburg 2023, 127 Seiten, 9.99 Euro (D), ISBN 978-3-648168936

Zuhören

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: Der unsichtbare Wohnraum. Wohnsuffizienz als Antwort auf Wohnraummangel, Klimakrise und Einsamkeit. transcript Verlag, Bielefeld 2023, 308 Seiten, 50 Euro (D), ISBN 978-3-837669008

Der unsichtbare Wohnraum

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: Hilfeschrei der Natur. Was wir noch tun können - die letzte Chance für unsere geschundene Erde. Frederking & Thaler in der Bruckmann Verlag GmbH, München 2023, 208 Seiten, 34.99 Euro (D), ISBN 978-3-95416-304-5

Hilfeschrei der Natur

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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