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Asien, geh du voran

Der große Verbrauch - Chandran Nairs aufrüttelndes Buch über Asiens Wachstum und Verantwortung
Rezension: Anja Dilk

Was, wenn Asiens Wirtschaft weiterwächst wie bisher? Wenn sein Verbrauch an Energie und Rohstoffen weiter explodiert? Das kann nicht gut gehen. Ein indischstämmiger Intellektueller aus Malaysia ruft seinen Kontinent zur Umkehr. Und definiert selbstbewusst seine neue Rolle. Asien wird die Probleme lösen müssen, die der Westen mit seinem wachstumsfixierten Wirtschaftsmodell erst geschaffen hat.

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Die Zahlen aus China, Indien und Südostasien können einem den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Lebensmittel: Die Asiaten verspeisen 16 Milliarden Vögel im Jahr. Wenn 2050 jeder Asiate so viel Geflügel isst wie ein Durchschnittsamerikaner 2011, müssten 120 Milliarden Hühnchen auf den Tisch. Automobil und Erdöl: In China werden pro Jahr 13 Millionen Autos verkauft. 2050 werden es zwischen 470 und 660 Millionen sein, fast so viele, wie zurzeit auf den Straßen der Welt unterwegs sind (820 Millionen). Mit den 109 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr, die das Land derzeit verbraucht, wird dieser Fuhrpark nicht mehr auskommen. Sechs- bis zehnmal so viel wird nötig sein. Energie: Schon heute verbrauchen Chinesen 40 Kilowattstunden täglich, Inder 20. Wenn 2050 der Energiebedarf pro Kopf auf den amerikanischen Durchschnittswert von 250 stiege, würden die Asiaten 14-mal so viel Energie benötigen wie die USA heute. Millionen kaufkräftiger Konsumenten drängen in Asien auf den Markt, bald werden es Milliarden sein. Die Folge: Der Weltbedarf an natürlichen Ressourcen explodiert, ein Verbrauch nie gekannten Ausmaßes steht an. Und der Motor der Weltwirtschaft dreht weiter hoch. Steigt das Wachstum wie bisher, wird die Wirtschaftsleistung der Welt in der Mitte des Jahrhunderts mindestens um das Sechsfache ansteigen. Das kann nicht gut gehen.


Angst vor den eigenen Einsichten


Chandran Nair ist Asiate. Der Sohn indischer Auswanderer wurde in Malaysia geboren. Der Chef des Thinktanks Global Institute For Tomorrow weiß, welchen Preis sein Kontinent für den Wachstumskurs jetzt schon zahlt. Regenwälder fallen, Fischgründe werden leer gefischt, Wasserressourcen gehen dramatisch zurück. Wer in den Megametropolen Asiens den Fuß vor die Tür setzt, muss um Luft ringen. Doch weiter klammern sich viele Asiaten an den Traum vom schnellen Konsum, kurbeln Regierungen das Wachstum an, verdrängen die Industrieländer Klimaprobleme. Nair: "Die Welt ist Opfer eines kollektiven Verdrängungsprozesses. Unsere Probleme liegen klar zutage, aber wir weigern uns, etwas zu tun." Und hoffen, dass es sich "irgendwie einrenkt".  

Nair ist einer, der nicht wegschaut. Seit bald 20 Jahren hält er Vorträge über Umweltthemen. Zunehmend schob sich im Laufe der Zeit dabei eine Frage in den Vordergrund: Was, wenn Asien sich weiter nach westlichem Vorbild entwickelt? Welche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Folgen wird der große Verbrauch haben? Doch lange winkten die Repräsentanten aus den Führungsetagen von Wirtschaft und Politik ab. Ach was, warum so pessimistisch, es läuft doch! Immerhin sind die Themen auf der Tagesordnung langsam nach vorn gerückt, so Nair. Ein wenig jedenfalls.  

Kein Grund zur Entspannung, denn vor allem die asiatischen Führungskräfte, deren Vertreter oft an den besten Unis der Welt gelernt haben, machen sich nach wie vor etwas vor. Aus "Angst vor ihren eigenen Einsichten", "Angst vor dem offenen Umgang mit diesen Problemen ... oder davor, wie ihre Geschäftspartner darauf reagieren würden", vermutet Nair. "Warum sollten sie das an der Harvard Business School gelehrte Lieferkettenmanagement infrage stellen - das externe Kostenfaktoren wie Umweltverschmutzung schlicht in Entwicklungsländer verlagert -, wenn sie als asiatische Repräsentanten eines multinationalen Konzerns finanzielle und soziale Anerkennung" finden? Zugeständnisse gebe es höchstens im privaten Gespräch.


Der Westen hat bisher keine Lösungen vorgelegt


Damit sich daran etwas ändert, hat Nair dieses Buch geschrieben: Der große Verbrauch. Schließlich dürfe es nicht sein, dass die Asiaten länger die Augen verschlössen vor der Tatsache, dass den Entwicklungsländern 100 Milliarden Euro Folgekosten im Jahr durch den Klimawandel entstünden. Es dürfe nicht sein, dass die Führungsriegen weitgehend tatenlos hinnähmen, dass in ihren Ländern viele Menschen ein billiges Handy in der Westentasche hätten, aber keine Toilette im Haus. Und es dürfe nicht sein, dass selbst junge, hochintelligente Asiaten mit hervorragender Ausbildung das Schicksal ihres Kontinents mit so wenig Selbstbewusstsein und offenem Geist angingen, sondern geprägt von den Elite-Managementschulen der Ideologie des freien Marktes hinterhertappten. "Mich ... erschreckt die Selbstgerechtigkeit dieser Weltsicht ... Ich wundere mich immer wieder, wie selten die Studenten ... die Grundannahmen in Zweifel ziehen, auf denen ihre Lebens- und Karrierevorstellungen beruhen", schreibt er an die Studenten der hochgelobten Managementseminare gerichtet.  

Wenn Nair das westliche Erfolgsmodell scharf kritisiert, geht es ihm nicht um West-Bashing. Er will den Blick öffnen für die Versäumnisse der Vergangenheit und die Notwendigkeiten der Zukunft. Unstrittig: Der Westen hat bisher keine Lösungen vorgelegt, weder Umweltkosten in die Produktionsausgaben eingepreist, noch grundsätzlich neue Wege beschritten. Nach wie vor behauptet er, dass Kapitalismus und freier Markt automatisch Wohlstand brächten - auch wenn das, was für Millionen in Europa und den USA gilt, für Milliarden in Asien außerhalb des Erreichbaren liegt. Nach wie vor suggeriert er, dass wohlstandsbringende freie Märkte und freiheitliche Demokratie automatisch verwoben sind, obwohl aus asiatischer Sicht diese Gleichung nicht aufgeht.


Gewaltige Illusionsblase


Kann es nicht die Technik richten? Im Gegenteil: Die Technik hat das Wachstum schließlich erst geschaffen. Zu einem Weniger an Verbrauch hat sie noch nie in der Geschichte geführt. Bei Nachhaltigkeit auf die segensreiche Kraft der Technik zu verweisen, wie es so gern getan wird, bringt daher wenig.  

Das lässt sich schon mit der in den 70er-Jahren aufgestellten IPAT-Gleichung des Biologen Paul Ehrlich und des Umweltschützers John Holdren anschaulich machen, einer simplen Formel zum Errechnen der Umweltauswirkungen. Sie begreift die Umweltlast (Environmental Impact Index I) als Produkt aus Bevölkerungszahl P (population), einem Wohlstandsfaktor A (affluence) und einem Technologiefaktor T (technology). P ist in Asien gewaltig, und diese Bevölkerungsentwicklung lässt sich naturgemäß nur sehr langsam beeinflussen. Wenn der Wohlstand (Faktor A) sich mindestens verdoppeln soll, der Einfluss des Menschen auf die Umwelt (I) aber nicht steigen darf, muss T sich daher mindestens halbieren, damit in der Bilanz die Umweltbelastung sinkt. Völlig illusorisch, selbst wenn Güter effizienter produziert werden und die Energie zu ihrer Produktion sauberer gewonnen wird. Denn mehr Wohlstand bedeutet ein Vielfaches mehr an Energie- und Ressourcenverbrauch - so viel sparen durch bessere Technik ist undenkbar.  

Nicht nur die Hoffnung auf Technik ist eine gewaltige Illusionsblase. Auch die Unternehmen selbst machen sich mit ihren Nachhaltigkeitsprogrammen nach Nairs Schätzungen etwas vor. Beispiel Coca-Cola. Bis 2015 will der Konzern die Hälfte seiner Flaschen und Dosen recyceln. Für 50 Millionen Dollar hat Cola die größte PET-Kunststoffrecyclinganlage der Welt in South Carolina errichtet, damit kann es zwei Milliarden Flaschen im Jahr wiederverwerten. Klingt nach einem brutalen Fortschritt. Nur: Erstens muss Cola einen Großteil des Plastiks zukaufen. Zweitens konterkariert eine andere Strategie das Ziel, die Umweltbelastung durch Verpackung zu verringern: Bis 2020 will Cola seinen Umsatz auf 120 Milliarden Einheiten verdreifachen. "Vor diesem Hintergrund wirken die Recyclingbemühungen mehr als kosmetisch."  

Noch absurder klingt etwa das Vorgehen von CCT Resources, einer Tochtergesellschaft der CCT Telecom. Das Unternehmen kaufte Regenwald - um ihn zu roden und stattdessen Ölpalmen anzupflanzen. Für Biosprit.


Abschied von der Tyrannei der Gegenwart


Schluss damit, fordert Nair, wir brauchen einen Abschied von der Tyrannei der Gegenwart. Die Immer-mehr-Versprechen ziehen nicht mehr. Asien muss einen anderen Weg suchen, jenseits von Konsumkapitalismus, Wachstumsideologie und Marktliberalismus. Einen Weg, der die Grundlagen des Wirtschaftens nicht zerstört. Asien muss auf die Bremse treten.  

Warum Asien das tun sollte? Weil es keine andere Wahl hat. Nirgends sonst macht sich der Klimawandel brutaler bemerkbar. Nirgends sonst leben mehr Menschen. Die Folgen eines Massenkonsums wären verheerend. "Die asiatischen Länder werden den Lebensstil, den die Menschen im Westen heute für selbstverständlich halten, nie erreichen", glaubt Nair. "Dies müssen wir akzeptieren, denn nur dann können wir jenseits der Verdrängung nach Alternativen suchen - Alternativen, die deshalb besser sind, weil sie machbar sind."  

Chandran Nair will keinen Verzicht auf Wohlstand. Aber die Abkehr von haltlosem Konsum. Qualität statt Quantität. Ein Wirtschaftsmodell, das nicht Wachstum, sondern den Erhalt der Ressourcen in den Mittelpunkt stellt. Das fragt, wie sich die Ressourcen möglichst gerecht verteilen lassen. Das endlich die Umweltkosten jeder Produktion einpreist. Wasser, Land, Fischgründe darf es nicht länger gratis geben. Ohne die lenkende Kraft des Staates wird es dabei nicht gehen. Egal ob er Steuern auf Emissionen erhebt, wassersparende Landwirtschaft subventioniert oder Verbrauchsverbote ausspricht.  

Nair redet nicht etwa einer Planwirtschaft das Wort, sondern einem starken Staat, der in einer "Politik der kleinen Schritte" Verantwortung übernimmt. Der auf "nationale Risikominimierung" setzt, die leichter zu realisieren ist als ein internationaler großer Wurf - wie der Klimagipfel in Durban gerade erst gezeigt hat. Hier könne gerade die autoritäre Struktur vieler Regime in Asien eine Chance sein, schätzt Nair.  

Ansätze gibt es. China hat das Fischen in einigen Küstenregionen verboten und erwägt die Einführung einer Ressourcensteuer, Indien knüpft die Vergabe von Bergbaukonzessionen an strenge Umweltschutzvorschriften. Die Liste solch kleiner Maßnahmen ist lang, Nair interpretiert sie als "Anzeichen für einen Wandel", der einen weltweiten Dominoeffekt auslösen könnte. Vielleicht ist der Wirtschaftsraum willens, die Zusammenarbeit in der Region auch auf Umweltschutz und Ressourcenverbrauch auszudehnen. Das China-ASEAN-Abkommen von 2009 könnte als Vorbote einer solchen Entwicklung interpretiert werden. Und warum nicht Handelsvereinbarungen mit den reichen Ländern endlich so ändern, dass externe Kosten für Umweltschutz in den Preis für Güter und Dienstleistungen aufgenommen werden? Warum nicht eine Reform des Finanzsystems anstoßen, indem asiatische Staaten eine Finanztransaktionssteuer einführen?


Selbstbeschränkung leben


Im Kern schlägt Nair drei Felder vor, auf denen die Asiaten ansetzen müssten, um den Umweltverbrauch zu reduzieren.  

Erstens Fiskalmaßnahmen: Steuern und finanzielle Anreize zur Reduktion von Emissionen und Ressourcenverbrauch, Recycling. Zum Beispiel durch Steuern auf Ressourcenverbrauch statt auf Einkommen.  

Zweitens die Landnutzung steuern: Förderung ökologischer Anbaumethoden und wassersparenden Wirtschaftens. Zum Beispiel durch die Rücknahme der Industrialisierung der Landwirtschaft.  

Drittens die sozialen Ressourcen aktivieren: Eine urbane und ländliche Umgebung schaffen, in der die Menschen nachhaltig leben können. Zum Beispiel, indem man Menschen Mobilität ohne eigenes Auto ermöglicht.  

Und natürlich müssen auch die Konsumenten umdenken. Weniger konsumieren, anders konsumieren. Badminton statt Autosport genießen. An der traditionell fleischarmen Ernährung festhalten, statt zu Fleischjunkies wie die Amerikaner zu werden. Kurz: Selbstbeschränkung leben.  

Ohne eine intensive geistige Auseinandersetzung mit dem Thema ist dieser Lernprozess allerdings kaum realistisch. Welche Veränderungen sind nötig, welche machbar? Wer profitiert davon und wer wird Widerstand leisten? Wie lässt dieser sich überwinden und was kann man tun, um Regierungen auf Reformkurs zu bringen? Vor allem braucht es eine Vision, die stark genug ist, einen Wandlungsprozess anzustoßen: Die Vision eines starken, selbstbewussten, aber auch selbstkritischen Asiens, das bereit ist, mit all seinem Ideenreichtum und all seiner Power neue Wege zu gehen, die Zukunft haben.  

Blauäugig? Vielleicht. Denn noch steht vieles dagegen - Korruption, Interessengruppen, die Wachstumseuphorie vieler Regierungen. Das weiß auch Nair. Umso mehr will er aufrütteln, zum Hinschauen zwingen und die Asiaten zum Selbstbewusstsein ermuntern. Sein leidenschaftliches Plädoyer verdient die Lektüre. Reich an Beispielen, pointiert in den Thesen. Die Redundanzen nimmt man dafür gerne in Kauf.  


Zitate


"Die asiatischen Länder werden den Lebensstil, den die Menschen im Westen heute für selbstverständlich halten, nie erreichen." Chandran Nair: Der große Verbrauch

"Die Welt ist Opfer eines kollektiven Verdrängungsprozesses. Unsere Probleme liegen klar zutage, aber wir weigern uns, etwas zu tun." Chandran Nair: Der große Verbrauch

 

changeX 31.01.2012. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Der große Verbrauch. Warum das Überleben unseres Planeten von den Wirtschaftsmächten Asiens abhängt. Riemann Verlag, München 2011, 256 Seiten, 17.95 Euro, ISBN 978-3-570-50136-8

Der große Verbrauch

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Autorin

Anja Dilk
Dilk

Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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