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Ein lebendiger Organismus

Gesunde Führung oder ein anderer Blick auf Unternehmen - ein Gespräch mit Jörg-Peter Schröder
Interview: Winfried Kretschmer

Unternehmen lassen sich auch anders betrachten als mit dem Kennzahlenblick. Nicht nur analytisch, strukturiert, effizienzorientiert. Sondern als organische Gebilde. Das lenkt den Blick auf das Gemeinsame und Verbindende. Auf den Menschen, seine Haltung, seine Fähigkeiten und Talente. Und auf die Vitalität der Organisation. Eine Analogie liegt da nahe: gesunde Führung.

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Das Unternehmen der Zukunft wird ein organisches, offenes System aus selbständig agierenden Einheiten sein, ein lebendiger Organismus. Sagt Jörg-Peter Schröder. Und plädiert für einen anderen Blick auf Organisationen.
Dr. Jörg-Peter Schröder ist als Arzt, Führungscoach und Burnout-Experte seit 25 Jahren im Gesundheitsmanagement tätig. Er begleitet Unternehmen und deren Führungskräfte in Transformationsprozessen. 

Herr Schröder, gesunde Führung - der Begriff stimmt mich skeptisch. Ich frage mich, ob sich die Begriffe gesund respektive krank sinnvoll auf soziale Zusammenhänge anwenden lassen. Was bringt das? 

Es ist ein Impuls, mehr Vitalität und Lebendigkeit in Unternehmen zu initiieren. Nämlich indem man das Unternehmen nicht mehr nur unter dem strukturierten, analytischen, effizienzorientierten Blickwinkel betrachtet, sondern aus anderen Modellen zu lernen versucht. Hier sind Zellen, menschliche Wesen oder die Natur ganz generell fantastische Vorbilder.
 

Sie treiben die Analogie recht weit, wenn Sie das Skelett, Knochen, Zellen zum Vergleich heranziehen. Was kann man aus solchen Analogien lernen? 

Sie regen dazu an, unhinterfragte Auffassungen über Prozesse auf Unternehmensebene bewusst zu machen. Nehmen wir mein Lieblingsbeispiel: Das Hirn befiehlt nicht der Leber, was sie zu tun hat. Vielmehr arbeiten alle Organe gleichberechtigt und gut abgestimmt zusammen. In Unternehmen hingegen gibt es Zielvorgaben und Budgetpläne, die erfüllt werden müssen - aber ob das tatsächlich notwendig ist, wird nicht hinterfragt.
 

Wenn also das Hirn der Leber was anschaffen würde, wäre das Management: Das Hirn fungierte als Planungs- und Kontrollzentrum, das den anderen Organen Anweisungen gibt? 

Ganz genau. Wichtig ist mir dabei die Unterscheidung zwischen Management und Führung. Management strebt danach, die Dinge richtig zu machen. Das Management ist eine Art oberste Verwaltungsinstanz, die darauf achtet, dass alles korrekt abläuft. Führung aber fragt: Tun wir überhaupt das Richtige? Führung heißt, die Wahrnehmung für das zu öffnen, was in unseren Unternehmen, in unseren Teams, in den Menschen, aber auch im Außen vorgeht.
 

Wenn wir das Unternehmen als organisches Wesen verstehen, was bringt uns das an Erkenntnisgewinn? 

Der Gewinn besteht in der Erkenntnis des Verbindenden. Im organischen Modell sucht man zunächst herauszufinden, was das Gemeinsame, das Verbindende ist. Oder um in der Analogie zu bleiben: Was ist die DNA des Unternehmens? Was ist die genetische Veranlagung eines Teams? Diese gilt es anhand der Potenziale der einzelnen Mitarbeiter zu entschlüsseln.
 

Was heißt nun gesunde Führung? 

Gesunde Führung ist letztlich eine Frage des Mindset. Was ist meine innere Haltung? Was sind meine Fähigkeiten und Talente? Was treibt mich an? Wie bin ich gestrickt? Um gut führen zu können, muss ich all diese Dinge bei mir selbst wahrnehmen, um so auch andere Menschen umfassender zu sehen und besser zu erkennen.
Bezogen auf den einzelnen Mitarbeiter bedeutet gesunde Führung, den Menschen zu sehen und nicht nur seine Funktion. Kann er andere begeistern? Besitzt er das Fingerspitzengefühl, gut zu kommunizieren? Oder beschäftigt er sich hochintrovertiert nur mit Zahlen? Das bedeutet, Menschen mit ihren Fähigkeiten nicht wie Legosteine zu setzen, sondern darauf zu achten, was sie an Fähigkeiten einbringen können.
Für das Gesamtunternehmen bedeutet das: Wer sind wir eigentlich? Was ist der Sinn unserer Organisation? Wo können wir einen Mehrwert generieren, um weiterhin gesund zu wachsen? Dieses sinnstiftende Moment, die Menschlichkeit und Lebendigkeit sind in vielen Unternehmen verloren gegangen.
 

Wie können Unternehmen dies wiedergewinnen? 

Das erfordert, die Wahrnehmungsfähigkeit des Unternehmens zu verbessern. Was tut sich draußen im Markt, was tut sich innen im Unternehmen, beim einzelnen Mitarbeiter, auf der Team- und der gesamten Unternehmensebene? Erfolg stellt sich ein, wenn die Bedürfnisse des Einzelnen im Einklang mit dem Unternehmen sind. Weil Leute den Sinn sehen, weil sie sich verbunden fühlen, weil sie Freiheit spüren. Dann entsteht durch Involvement Commitment und durch Commitment Leistungsfähigkeit.
 

Welche Führungsfähigkeiten setzt das voraus? 

Das fängt wie gesagt mit der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit an. Wie vermag jemand andere Menschen zu führen, wenn er sich selbst nicht führen kann? Zum Beispiel, weil er keine Wahrnehmung für seine eigenen Bedürfnisse hat. Oder weil er vom defizitorientierten Ansatz bestimmt ist und bei der Beurteilung von Leistungen immer nur das Mangelhafte in den Blick bekommt, statt zu schauen, was ein Mitarbeiter geleistet hat, und ihn darin zu unterstützen, sich gemäß seinen eigenen Potenzialen noch besser zu entwickeln.
 

Wie schult man die Wahrnehmungsfähigkeit ganz konkret? 

Zum Beispiel durch ein Time-out-Ritual, wie es manche Chirurgen vor der Operation praktizieren: Sich achtsam und bewusst auf sich selbst und die gegenwärtige Situation besinnen. Und sich die Frage stellen: Was ist wirklich wichtig?
 

Und wenn ein Unternehmen krank ist? 

Das alte mechanistische Modell der Medizin geht von Ursache-Wirkungs-Beziehungen aus: Wenn ein krankhaftes Symptom vorliegt, sucht man ein Mittel, das dagegen hilft. Doch es ist keine Lösung, Antidepressiva gegen ein Burnout zu nehmen, nur um im Hamsterrad weiterrödeln zu können.
Das organische Modell hingegen setzt schon vor der Krankheit an, indem es durch Achtsamkeit, durch eine Verbesserung der Wahrnehmung und eine Erweiterung der Perspektive dafür Sorge trägt, dass Menschen, Teams und das ganze System gar nicht erst krank werden. Es geht um die organisationalen Leitplanken, die dafür sorgen, dass sich in einer Organisation Lebendigkeit, Vitalität entwickeln und erhalten kann.
 

Diese paradigmatischen Modelle - das Maschinenmodell, das organische Modell - leisten eine gedankliche Klärung und eine Zuspitzung. Das ist ihr Vorteil. Der Nachteil ist, dass man in dieser großen Flughöhe die Details nicht mehr erkennt. Konkret: Unternehmen wandeln sich ständig, haben sich immer gewandelt. Stimmt die Analogie Maschine denn noch so? 

Ja, die Welt ändert sich, und Unternehmen ändern sich. Aber der Punkt ist, dass die alten mechanistisch geprägten Systeme nach wie vor hervorragend funktionieren. Kürzlich fragte mich ein Personalchef nach einem Coaching für einen Mitarbeiter, um diesen - so wörtlich - neu zu konfigurieren. Nur bin ich eben kein Trainer, der anderen sagt, wie sie zu funktionieren haben. Aber die alte Welt funktioniert noch so - es werden immer noch Mitarbeiter eingestellt -, man stellt sie ein, sprich übernimmt sie in ein Beschäftigungsverhältnis, und stellt sie gleichzeitig auf das vorherrschende Systemparadigma ein. Dabei müsste es genau umgekehrt sein: Wenn Mitarbeiter teuer sind, sollten sie uns das Wertvollste sein: Juwelen, deren Entwicklung uns am Herzen liegt.
 

Wie dominant ist das alte mechanische Modell eigentlich noch? Gehen wir immer noch den alten Modellen auf den Leim? Schleicht sich das alte Denken noch immer ein, obwohl man eigentlich weg will davon?  

Ja, auf jeden Fall. Viele der heutigen Führungskräfte haben die alte Welt internalisiert, und sie funktionieren eben noch sehr, sehr gut. Eine sich permanent ändernde Welt verlangt aber nach einem wirklichen Paradigmenwechsel. Beispiel Auto: Obwohl von der Funktion her ein reines Fortbewegungsmittel, stehen immer noch Besitz und Prestige im Vordergrund. Es reicht nicht, ein Auto zu nutzen, man muss es besitzen - und am besten ein besonders wertvolles. Doch heute ist ein Wandel zu beobachten. Gerade die jüngere Generation räumt dem Nutzen gegenüber dem Besitzen wieder eine größere Bedeutung bei. Und plötzlich steht dann eben nicht die Optimierung des Automobils an, sondern ein Umdenken in Richtung Transport.
Deshalb braucht es Unternehmen, die auf ein anderes Modell setzen und darauf schauen, wie sie sich weiter lebendig entwickeln können. Das alte Modell, das wir alle in Schule und Studium verinnerlicht haben, hat Fehlervermeidung an die erste Stelle gesetzt. Doch in einer solchen Atmosphäre kann keine Kreativität, keine Innovation entstehen. Aber darauf kommt es heute an.
 

Was heißt das für Organisationen? 

Von den Unternehmen verlangt das ein Umdenken: Weg davon, immer das Gleiche, dieses nur schneller oder besser zu machen. Noch fehlt die Wahrnehmung für die neue Generation und deren Bedürfnisse. Diese neue Generation tickt anders. Mit der alten Effizienzphilosophie kann man die nicht mehr locken. Noch vor zehn Jahren haben Klinikärzte beispielsweise ein höheres Gehalt als Anreiz gesehen, heute fordert die nachwachsende Generation eher einen Freizeitausgleich. Es geht nicht mehr nur um Geld, sondern um Attraktivität, Sinnhaftigkeit. Und diese Sinnstiftung muss Führung leisten. Verweigern sich Unternehmen diesem Paradigmenwechsel, werden sie nicht überleben.
 

Management ist zu einer Universalmethode geworden und hat ein komplexes Set von Methoden, Tools und Techniken ausgebildet, das sehr effizient funktioniert, aber neue, unerwartete Probleme schafft. Hat Management das Maschinenmodell überdreht? 

Grundsätzlich ist Struktur wichtig und wertvoll. Problematisch wird es, wenn diese Struktur überreizt, überdreht wird wie eine Schraube. Anzeichen des Überdrehens finden sich in Symptomen wie nicht mehr abschalten können, Schlafstörungen, Depressionen und Burnout. Wenn Leute im Weinkrampf zusammenbrechen, dann sind das Zeichen für überdrehte Regelungswut in Unternehmen. Und dafür, dass es mehr Freiheitsgrade braucht. Kurzum: Struktur ist gut, aber sie muss offen und flexibel bleiben.
 

Im Management wird seit den 1990er-Jahren zunehmend von Empowerment und von Selbstverantwortung gesprochen. Die Leute sind selbst verantwortlich für ihre Ziele. Sie sollen ihre Arbeit selbst organisieren, sollen selbstbestimmt arbeiten. Auf der anderen Seite aber ist da dieses System von Methoden, Tools und Techniken, von Zielvereinbarungen, Meetings und Controlling, das in sehr rigider Weise festlegt, was wann wie zu tun ist. Ist dieser Widerspruch, auf der einen Seite die volle Verantwortung zu haben, auf der anderen Seite gar nicht selbst bestimmen zu können, was man tut und wie man es tut, vielleicht ein Grund für diese Zunahme von Burnout? 

Ganz entschieden: Ja! Es handelt sich hier um einen unheilvollen Spagat, weil er die Menschen zerreißt. Auf der einen Seite wird dem Mitarbeiter Verantwortung übertragen - und das klingt nach Handlungsfreiheit. Aber dem ist nicht so. Zur Verantwortung gesellt sich gleichzeitig eine engmaschige Kontrolle. Unterm Strich ist das eine perfide, weil subtile Manipulation: Empowerment geht mit Überwachung einher, und das lässt dem Einzelnen kaum mehr Luft zum Atmen. Auch in Toppositionen läuft es nicht mehr rund. Topmanager arbeiten den ganzen Tag lang effizient wie eine Nähmaschine ihre Agenda ab, haben aber keine Zeit für die wirklich wichtigen Fragen: Worum geht es? Sind wir miteinander verbunden? Wie entwickelt sich der Markt? Doch wenn wir keine Zeit für diese Fragen haben, fehlen uns Antworten, wenn es wirklich dringlich wird.
Kurzum: Diese negative Kultur, die von Angst geprägt ist, muss sich wandeln: hin zu mehr Freiheit, Fehlerfreundlichkeit, Vertrauen. Das muss Führung leisten.
 

Wie kriegen wir die Kurve? 

Wir müssen Führung mit Gesundheit verbinden. Dazu aber reicht es nicht, einen Veggieday, eine Laufgruppe oder eine wöchentliche Massage anzubieten. Erforderlich ist ein Wahrnehmungswandel: Gehe ich mit mir selbst und anderen gesund um? Diese Wahrnehmungsfähigkeit muss jeder im Unternehmen entwickeln. Denn wenn ich nicht gesund bin, kann ich auch keine Leistung erbringen. Gesundheit ist ein Wert für sich, aber sie ist auch ein Wert für das Unternehmen.
 

Ein gesundes Unternehmen setzt gesunde Mitarbeiter voraus? 

Exakt. Gesundheit ist Aufgabe jedes Einzelnen. Und sie ist das wichtigste Gut eines Unternehmens. Für die Führungskraft bedeutet das, dass sie eine Vorbildfunktion zu erfüllen hat. Sie muss eine Kultur initiieren, in der weder nur Zeit abgesessen wird, noch Arbeit sich ins Grenzenlose ausdehnt. Sondern schlicht die Arbeit zählt, die wir erbracht haben. Erst wenn sich die Erkenntnis verbreitet, dass Gesundheit ein wichtiger Wertschöpfungsindikator ist - für den Einzelnen, für unsere Unternehmen, für unsere Gesellschaft und letztlich für die Welt -, erst dann wird sich ein anderes Unternehmensmodell durchsetzen können.
 

Das Unternehmen der Zukunft wird ein organisches System sein? 

Ja: Ein offenes System, das aus selbständig agierenden Einheiten - den Zellen - besteht und durch systemische Organisationsstrukturen einen lebendigen Organismus bildet.
 


Zitate


"Das Hirn befiehlt nicht der Leber, was sie zu tun hat. Vielmehr arbeiten alle Organe gleichberechtigt und gut abgestimmt zusammen." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

"Führung heißt, die Wahrnehmung für das zu öffnen, was in unseren Unternehmen, in unseren Teams, in den Menschen, aber auch im Außen vorgeht." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

"Erfolg stellt sich ein, wenn die Bedürfnisse des Einzelnen im Einklang mit dem Unternehmen sind. Weil Leute den Sinn sehen, weil sie sich verbunden fühlen, weil sie Freiheit spüren. Dann entsteht durch Involvement Commitment und durch Commitment Leistungsfähigkeit." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

"Wenn Leute im Weinkrampf zusammenbrechen, dann sind das Zeichen für überdrehte Regelungswut in Unternehmen." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

"Empowerment geht mit Überwachung einher, und das lässt dem Einzelnen kaum mehr Luft zum Atmen." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

"Gesundheit ist ein Wert für sich, aber sie ist auch ein Wert für das Unternehmen." Jörg-Peter Schröder: Ein lebendiger Organismus

 

changeX 07.11.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Gesunde Führung statt Burnout. Vom starren Organigramm zum lebendigen Organismus. steinbach medien network, Schwäbisch Hall 2013, 217 Seiten, 24.99 Euro, ISBN 978-3-86974-500-8

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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