Sie lesen diesen Artikel kostenlos

Vielen Dank für Ihr Interesse! Sie rufen diesen Beitrag über einen Link auf, der Ihnen einen freien Zugang ermöglicht. Sonst sind die Beiträge auf changeX unseren Abonnenten vorbehalten, die mit ihrem Abo zur Finanzierung unserer Arbeit beitragen.
Wie Sie changeX nutzen können, erfahren Sie hier: Über uns
Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

Das ganze Haus, das ganze Leben

Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive - das neue Buch von Andrea Komlosy
Rezension: Winfried Kretschmer

Arbeit. Im Industriezeitalter war das der eine Job, lebenslang. Oder je nach Perspektive: lebenslänglich. Doch historisch wie global ist das eine singuläre Ausnahme. Erst im Zuge der Industrialisierung verengte sich der Arbeitsbegriff auf Erwerbsarbeit. Davor, daneben - und wohl auch danach - war und ist Arbeit schillernd und vielfältig. Werden unterschiedliche Tätigkeitsformen miteinander kombiniert. Ein Buch nimmt sich dem in breiter Perspektive an. Anlass zur Reflexion.

cv_komlosy_arbeit_140.jpg

Was Arbeit eigentlich ist und was als solche zu gelten hat, diese Frage ist mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, in denen wir stecken, wieder virulent geworden. Arbeit verändert sich rapide und tiefgreifend, aber was diese Veränderungen genau bedeuten und wohin sie streben, darüber gibt es bislang kein gemeinsames Verständnis - wenngleich das Bemühen darum derzeit wieder in Gang kommt. Wir haben wieder eine Debatte über Arbeit und ihren Wandel. 

Die Symptome dieses Wandels sind vielfach beschrieben worden: dass Arbeit sich "entgrenzt" und Arbeitsort wie Arbeitszeit ihre Bindungskraft verlieren, dass das Normalarbeitsverhältnis erodiert, Minijobs und Teilzeitarbeit oft in Form von Multijobs und prekärer Arbeit zunehmen, ebenso wie psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz, auch dass viele Menschen Schwierigkeiten haben, Arbeit und den Rest des Lebens miteinander in Einklang zu bringen. All das beschäftigt die Menschen und wird vielfach diskutiert. Es steht für den Wandel von Arbeit, gleichwohl aber gilt es nicht für jede Arbeit und nicht für jeden Arbeitenden. Natürlich gibt es auch noch vollkommen "normale" Jobs im Sinne des Normalarbeitsverhältnisses der industriellen Ära. Geregelte Arbeitszeit, fester Arbeitsort, tarifvertraglicher Urlaub und ein definiertes Arbeitsende, zu dem man den Griffel fallen lassen kann. Auch oft gesagt: Die neue Arbeitswirklichkeit ist heterogen, unübersichtlich und schillernd.


Elastischer, poröser, fluider


Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher, einander zum Teil widersprechender Entwicklungen macht eine Standortbestimmung schwierig. Es fällt schwer, einen sich ständig wandelnden Gegenstand zu fassen, zumal dabei jeder nicht neutraler Beobachter, sondern selbst damit beschäftigt ist: mit Arbeit. Erschwerend kommt hinzu, dass wir Veränderungen zunehmend nur im Kurzfristmodus wahrnehmen. Unser Blick in die Zukunft reichte auch schon mal weiter, und gleichermaßen schrumpft auch die Zeitspanne, in der wir Vergangenes in den Blick bekommen.  

Hier könnten Historiker helfen, doch sie sind in der Debatte um Arbeit erstaunlich wenig präsent. Das überrascht umso mehr, als einer der hellsichtigsten Beiträge zu Wandel und Zukunft von Arbeit von einem Historiker stammt: von Jürgen Kocka, dem ehemaligen Präsidenten des Wissenschaftszentrums Berlin, der seine Thesen (basierend auf einem Tagungsreferat) im Jahr 2001 in der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte publiziert hat. "Die Erwerbsarbeit wird elastischer, poröser, fluider. Sie verliert ihre monopolartige Dominanz", schrieb Kocka damals. Und: "Manche dieser Veränderungen seit den 1970er-Jahren kehren Trends der letzten zwei Jahrhunderte um!" Sollte das heißen, dass Arbeit sich wieder vorindustriellen Formen annähert? So weit wollte Kocka nicht gehen. "Was all dies bedeutet, ist noch nicht völlig klar", schrieb er. Klar aber war: Der Begriff der Arbeit, der sich im 19. und 20. Jahrhundert "auf Erwerbsarbeit eingeengt" hatte, erweitert sich nun wieder.


Arbeit, ein wahres Chamäleon


Dieser Gedanke ist zentral, um den Wandel von Arbeit, mit dem wir es zu tun haben, zu verstehen. In vielerlei Hinsicht kämpfen wir heute mit den Folgen einer historischen Verengung des Arbeitsbegriffs im Zuge der Industrialisierung. Das ist die wohl wichtigste Lehre, die man dem neuen Buch der Wiener Historikerin Andrea Komlosy entnehmen kann. Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive heißt es, und global ist seine Perspektive wirklich. Es geht darin um Begriff und Erscheinungsformen von Arbeit in der Geschichte der Menschheit weltweit. Obwohl das Buch in sprödem Wissenschaftler-Slang verfasst ist, bietet es lehrreiche, spannende und mitunter überraschende Einsichten. Komlosys Buch macht Arbeit im Wandel der Zeit ungemein plastisch. Und unterstreicht zudem eindrücklich, dass die Rede von der Globalisierung als Erscheinung des späten 20. Jahrhunderts ein - neoliberales - Märchen ist, geschichtsblind bis ins Mark. Globalisierung begann im Grunde mit der neolithischen Revolution, und Komlosys Buch macht anschaulich, wie sie sich über die Jahrhunderte hinweg entfaltet. Ein echter Augenöffner.  

Ihr Augenmerk aber gilt dem Begriff von Arbeit sowie deren Erscheinungsformen in der Geschichte. Die antike Zeit streift Komlosy dabei nur kurz und stützt sich dabei weitgehend auf die Vorarbeit von Werner Conze. Ihre Arbeit bewegt sich innerhalb des von Conze und Kocka gesteckten Referenzrahmens, verdichtet und vertieft aber die Darstellung und reichert sie mit massig historischem Anschauungsmaterial an. In sechs Zeitschnitten zwischen dem 13. und 21. Jahrhundert arbeitet die Autorin die Vielfalt der Arbeitsverhältnisse in der jeweiligen Zeit heraus und zeigt, wie unterschiedliche Formen von Arbeit miteinander kombiniert wurden. Der eine Job - und das noch lebenslänglich - ist historisch und global gesehen eine absolute Ausnahme. Immer wurden und werden unterschiedliche Formen von Arbeit kombiniert.  

Arbeit wird so zu einem schillernden Phänomen. "Bei näherem Hinsehen erweist sich Arbeit als ein wahres Chamäleon: ... Definitionen und Begriffe sind in ständiger Veränderung." Und da neue Konzepte ältere überlagern, existieren unterschiedliche Begriffe von und Einstellungen zu Arbeit nebeneinander.


Arbeit im ganzen Haus


In einer breiten Perspektive aber zeigt sich, dass Arbeit nicht auf Erwerbsarbeit reduziert werden kann, sondern ein breites Spektrum unterschiedlicher Tätigkeitsformen umfasst, "die im Haushalt, in der Familie, für Grundherren oder Meister, im eigenen Betrieb oder als unselbständige Lohnarbeit für einen Unternehmer oder Auftraggeber geleistet" werden. In den grund- und gutsherrlichen Betrieben, in den Bauernwirtschaften und im Handwerk flossen unterschiedliche produktive und reproduktive, bezahlte und unbezahlte, für den Eigenbedarf oder den Markt geleistete Tätigkeiten zusammen. Man bildete eine Lebens-, Arbeits- und Versorgungsgemeinschaft, zu der alle Haushaltsmitglieder beitrugen: das "ganze Haus".  

Erst im Zuge der Industrialisierung wurde Arbeit dann zunehmend als außerhäusliche Erwerbsarbeit verstanden. Erst um 1900 trat diese Verengung des Arbeitsbegriffs "ihren globalen Siegeszug an", so Komlosy. Und erst mit der Durchsetzung des industriell verengten Arbeitsbegriffs rückte Erwerbsarbeit in Form des einen Jobs ins Zentrum und wurde zum industriegesellschaftlichen Normalfall. Das heißt freilich nicht, dass die vielen anderen Tätigkeiten, die im "ganzen Haus" anfielen, nun plötzlich obsolet geworden wären. Sie fielen nur durchs Raster. "Eine enge Definition von Arbeit als bezahlte Erwerbstätigkeit drängt unbezahlte Haus- und Subsistenztätigkeit in die Nicht-Arbeit ab." Ignorierte Arbeit, die vor allem von Frauen verrichtet wurde. Und wird.  

Dieser inhaltlichen Verengung des Arbeitsbegriffs steht eine Ausweitung seines Geltungsbereichs zur Seite, die sich etwa zur selben Zeit Bahn brach. Seit der Antike schon prägt die große Unterscheidung zwischen mühevoller Arbeit auf der einen und Verwirklichung im Werk auf der anderen Seite unser Verhältnis zur Arbeit. Um 1800, registriert und beschrieben auch von den Gebrüdern Grimm in ihrem Wörterbuch, änderte sich das: "Der Begriff ,Arbeit‘ drang in Bereiche vor, die ursprünglich ,Werk‘ vorbehalten waren." Mit der Ausweitung des Begriffs Arbeit auf den im Werk ausgedrückten kreativen Akt verwischte sich diese Differenzierung. Die deutsche Sprache verlor "die Möglichkeit, mühevolle Arbeit und schöpferisches Werk sprachlich auseinanderzuhalten".  

Zusammengefasst: Der Begriff der Arbeit verallgemeinerte und verengte sich zugleich.


Mehr Werk als Arbeit


Fatal wird das, wenn im Zug des Wandels von Arbeit Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen, die nur Beiwerk der zu erledigenden "eigentlichen" Arbeit sind - weil diese Arbeit nicht mehr in der Verrichtung standardisierter Arbeitsschritte, sondern zunehmend im Finden von Lösungen besteht. Daniel Pink hat diesen Wandel der Arbeit paradigmatisch so gefasst: Standen im 20. Jahrhundert Aufgaben im Vordergrund, die routiniert nach bestimmten Verfahren bearbeitet wurden ("algorithmisch"), gehe es heute zunehmend darum, das Verfahren erst zu finden, also mit unterschiedlichen Möglichkeiten zu experimentieren, um neue Lösungen zu entwickeln ("heuristisch"). Dazu aber braucht es Phasen des Nachdenkens, des Suchens, des Experimentierens. Das schließt Umwege und Momente des Innehaltens ein, weil eben der geradlinige Weg nicht zum Ziel, sondern in die kreative Sackgasse führt. Die eigentlich wertschöpfende Arbeit finde in wenigen Handlungsepisoden pro Arbeitstag statt, sagt Holm Friebe, "der Rest ist Beiwerk, Garnitur, Folklore und kommunikatives Rauschen". Wissensarbeit unterscheidet sich somit fundamental von industrieller Arbeit. Sie ist weit mehr Werk als Arbeit. Fällt damit aber durch die Maschen des industriell geprägten Begriffsverständnisses.  

Diese Dimension allerdings fehlt in Komlosys Buch völlig. So tief und reich ihre Darstellung der Arbeitswirklichkeit in den historischen Zeitschnitten 1250, 1500, 1700 und 1900 ist, so sehr fällt sie in der Jetztzeit ab. Die Arbeitswelt 2010 ist beschrieben, wie sie sich die IG Metall so vorstellen mag. Der erneute fundamentale Wandel der Arbeit, wie ihn insbesondere Peter Drucker beschrieben hat, kommt hier nicht vor. Auch Jürgen Kockas sensible Annäherung an die fluide werdende Arbeit wird nicht aufgegriffen, nicht weitergedacht.


Das ganze Leben


Der Wert dieses Buches liegt darin, die in industrielle Normalität eingeschliffene Verengung des Arbeitsbegriffes anschaulich und plastisch zu machen. Gerade das Bild des "ganzen Hauses" bietet sich an, um die sich vollziehende Erweiterung unseres Arbeitsmodells zu fassen. Es umfasst bildhaft alle Tätigkeiten, die zur Sicherung eines auskömmlichen Lebens dienen. Das lässt sich übertragen, auch wenn das vorindustrielle Haus zu einem Singlehaushalt geschrumpft sein mag. Hier wie da geht es um ein ungeteiltes Ganzes - um eine Lebensgemeinschaft damals, und in unseren individualisierten Zeiten mehr noch: um das ganze Leben.  


Zitate


"Arbeit umfasste und umfasst Tätigkeiten für den Markt und für die Selbstversorgung, für das nackte Überleben und für die Befriedigung von Luxus und Statusbedürfnissen, von kultureller Repräsentation und zur Demonstration von Macht und Glaube." Andrea Komlosy: Arbeit

"Die Erwerbsarbeit wird elastischer, poröser, fluider. Sie verliert ihre monopolartige Dominanz." Jürgen Kocka (2001)

"Bei näherem Hinsehen erweist sich Arbeit als ein wahres Chamäleon: ... Definitionen und Begriffe sind in ständiger Veränderung." Andrea Komlosy: Arbeit

"Eine enge Definition von Arbeit als bezahlte Erwerbstätigkeit drängt unbezahlte Haus- und Subsistenztätigkeit in die Nicht-Arbeit ab." Andrea Komlosy: Arbeit

 

changeX 09.05.2014. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

Ausgewählte Beiträge zum Thema

Ringen um eine menschliche Arbeitswelt

Cooldown - das neue Buch von Markus Väth zur Rezension

Arbeit, wie sie uns guttut

Die Tyrannei der Arbeit - das neue Buch von Ulrich Renz zur Rezension

Alles ist eins

Work-Life-Bullshit - das neue Buch von Thomas Vašek zur Rezension

Vor lauter Arbeit

Arbeit - Joachim Bauers wunderbares Buch zum Thema zur Rezension

Tierisch viel Arbeit

Warum Tiere nicht arbeiten, Menschen aber meist zu viel - ein Interview mit Daniel Tyradellis zum Interview

Ausgewählte Links zum Thema

Quellenangaben

Zum Buch

: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive - 13. bis 21. Jahrhundert. Promedia Verlag, Wien 2014, 208 Seiten, 17.90 Euro, ISBN 978-3-85371-369-3

Arbeit

Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

weitere Artikel des Autors

nach oben