Formerly known as Geschäftsführung
Einen Geschäftsführer gibt es beim Wiener Technologieunternehmen TELE Haase nicht mehr. Oder nur der Form nach: nach außen, für die, die einen Geschäftsführer brauchen. Intern spricht man von "Regie", vom "Regisseur": Einer, der den Blick aufs Ganze wahrt, auf die Organisation. Die funktioniert als eine Art intelligenter Organismus: Entscheidungen treffen alle Mitarbeiter gemeinsam, alle arbeiten selbstverantwortlich, und alle Informationen stehen allen offen. Absolute Transparenz ist die Grundlage von Vertrauen. Folge 20 unserer Serie über Unternehmen, die Grundlegendes anders machen.
Zeit- und Überwachungsrelais produziert die Firma TELE Haase mit rund 90 Mitarbeitern am Standort Wien. Automatisierungstechnik. "Wir sind das notwendige Übel im Schaltschrank", sagt Markus Stelzmann. Besonders hingegen ist die Organisation des Unternehmens: Keine Abteilungen, keine Funktionen, die alten Hierarchien abgeschafft.
Markus Stelzmann und Andreas Ahamer sind Regisseure des Technologieunternehmens TELE Haase in Wien - in der Organisation gibt es die Funktion des Geschäftsführers nicht mehr. Markus Stelzmann kümmert sich unter der Beschreibung "Regie" um die organisatorische Weiterentwicklung, "Prokurist" Andreas Ahamer um Sales und Prozessverantwortung.
Was machen Sie in Ihrem Unternehmen anders?
Markus Stelzmann: Wir haben uns vor vier Jahren vom kompletten Management getrennt. In unserem Unternehmen gibt es keine Abteilungen mehr und auch keine Funktionen wie Abteilungsleiter, Meister oder Geschäftsführer. Nach außen haben wir aus rechtlichen Gründen einen Geschäftsführer, aber nach innen nicht mehr. Stattdessen organisieren wir uns über Gremien. Bei uns ist es erwünscht, dass sich die Mitarbeiter in die Organisation einbringen und Verantwortung übernehmen. Wir stellen den Mitarbeiter ganz nach vorne in unserem Unternehmen.
Gerade sind unsere Mitarbeiter dabei, die Organisation zum dritten Mal innerhalb von vier Jahren radikal zu verändern. Mittlerweile herrscht eine gewisse Freude an der Veränderung.
Mittlerweile? Das war nicht immer so?
Markus Stelzmann: Am Anfang hatten wir Schwierigkeiten, die Mitarbeiter zu motivieren, Verantwortung zu übernehmen. Beim Großteil unserer Leute war überhaupt keine Begeisterung da. 30 Prozent der Mitarbeiter haben gekündigt und mussten ersetzt werden. Das war kein Spaß am Anfang. Aber dann gab es ein gewisses Losbrech-Moment …
Losbrech-Moment? Was war das?
Markus Stelzmann: Die Zeitung Kurier war auf uns aufmerksam geworden und hat einen Artikel darüber geschrieben, was bei uns anders ist. Als die Mitarbeiter dann in der Zeitung gelesen haben, was wir für ein tolles Unternehmen sind, waren alle richtig stolz. Das hat eine Wendung bewirkt.
Seither ist das Interesse an Ihrem Unternehmen noch gestiegen. Sie bieten sogar eine "Tele-Teatime" zum Kennenlernen der Organisation an.
Markus Stelzmann: Mittlerweile kommen auch große Unternehmungen zu uns und wollen wissen, wie wir funktionieren und wie wir das gemacht haben. Wir sind gerne bereit, darüber zu erzählen, wollen aber nicht mit unserer Organisation missionieren. Das ist unsere Version, unser Verständnis von Organisation. Jedes Unternehmen muss einen eigenen Weg finden.
Wie sah der Weg Ihres Unternehmens aus? Was hat den Ausschlag gegeben, die Organisation komplett umzubauen?
Markus Stelzmann: Die Umwelt für Firmen verändert sich immer schneller, deshalb haben wir unser Unternehmen verändert. Entscheidend war, dass die Eigentümer und die Geschäftsleitung klar gesagt haben: "Wir wollen das und wir stehen dahinter!" Wir waren von diesem ganzen betriebswirtschaftlichen Brimborium angewidert. Es wird mystifiziert, dass ein Unternehmen so organisiert sein müsse, wie es im Lehrbuch steht, und nicht anders. Wir haben dieses Business-Blabla infrage gestellt. Und haben gesagt: Wir möchten eine Firma haben, in der wir gerne arbeiten. Ein Unternehmen, das ganz anders funktioniert. Ein Unternehmen, in dem die Mitarbeiter die Möglichkeit haben, sinnhaft zu arbeiten und nach dem gesunden Menschenverstand zu handeln.
Unsere Leitformel lautet: Ein Unternehmen muss innovativ sein und nachhaltig, dann wird es profitabel. Wir stellen nicht immer das Ergebnis nach vorne und schauen nicht nach dem letzten Cent. Wir haben auch keinen Fünfjahresplan oder so etwas. Es muss in dem jeweiligen Jahr reichen für alle Gehälter, für alle Investitionen, für die Entnahmen der Eigentümer, und für den Schuldenabbau muss auch noch was da sein. Fertig, aus. Das wissen die Mitarbeiter bei uns.
Was war das Ziel des Umbaus?
Andreas Ahamer: Zusammen mit den Mitarbeitern ein Organisationsmodell zu schaffen, das für die Zukunft gerüstet ist. Branche und Technologie verändern sich rasch. Es kommt also darauf an, schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Das gelingt in einer flachen Organisationsform viel besser als in einer Hierarchie. In einer Hierarchie hängt alles davon ab, ob ein paar wenige Personen richtig oder falsch reagieren. In einer demokratisch geführten Organisation, wie wir es sind, sind es mehr Köpfe, die reagieren können. Das war der Hauptgrund, warum man sich für diese Organisationsform entschieden hat.
Und was haben Sie konkret gemacht?
Markus Stelzmann: Ganz einfach: die Verantwortung zu den Mitarbeitern gegeben. Wir haben aus Abteilungen Prozesse gemacht, haben die Prozesse neu aufgestellt und Schnittstellen definiert. Die Budgets machen die Prozesse selber. Entscheidungen treffen bei uns Gremien, in denen ein Vertreter jedes Prozesses sitzt. Jeder Mitarbeiter kann teilnehmen und Themen einbringen. Zur Vorbereitung einer Entscheidung kann ein Gremium eine Arbeitsgruppe einsetzen, an der sich wiederum jeder beteiligen kann. Entschieden wird dann mit einfacher Mehrheit, Hand hoch. Da habe ich auch nur eine einfache Stimme. So funktioniert unser Unternehmen. Relativ einfach durchschaubar.
War das einfach umzusetzen?
Markus Stelzmann: Nein. Die ersten Gremiensitzungen haben sechs Stunden gedauert, mit um die 25 Mitarbeitern. Normalerweise hätte ein Geschäftsführer wohl interveniert. Wir haben es zugelassen, bis die Mitarbeiter selber angefangen haben, sich Regeln zu geben. Die werden heute gelebt und verbessert.
Geschäftsführer sind Sie nur der Form nach. Was ist für Sie an Aufgaben geblieben?
Markus Stelzmann: Regisseur nach innen. Nach außen bleiben die klassischen Aufgaben, die ein Geschäftsführer erfüllen muss: Gespräche mit Banken und Behörden, die Bilanz unterschreiben und so weiter.
Was bedeutet das für Sie ganz konkret?
Markus Stelzmann: Zum Beispiel, dass ich keinen Geschäftswagen mehr habe, dass ich ein Pool-Auto fahre, wenn ich eines bekomme, oder mit dem Taxi. Ich habe nicht mehr die Funktion und Rolle eines Geschäftsführers. Und ich arbeite operativ mit - wie alle anderen auch. Ich versuche, mich in diesen Organismus einzugliedern.
Die Entscheidungen fallen bei Ihnen in den Gremien. Welche Gremien gibt es?
Markus Stelzmann: Das Gremium Geschäftsplanung ist zuständig für alles, was mit dem Monetären zu tun hat. Dort wird turnusmäßig über die Zahlen geschaut, da wird das Budget aufgestellt und verabschiedet, es wird Forecast-Planung gemacht - wie in einer Managementrunde in anderen Unternehmen auch. Im Gremium Organisation werden Veränderungen der Organisation beschlossen. Hier wird festgelegt, welche Prozesse es geben soll. Wie man mehr Lohngerechtigkeit schaffen kann, war ein anderes Thema, ebenso Weiterbildung oder mobile Telearbeit, also dass man arbeiten kann, wo man will.
Kurz gesagt: In den Gremien wird alles diskutiert, was auch in einem ganz normalen Unternehmen ansteht. Nur eben auf der Basis, dass bei uns alle teilhaben können. Jeder kann mitgestalten.
Und welches sind die Prozesse?
Markus Stelzmann: Es gibt drei Hauptprozesse: die Entwicklung, also den Innovationsprozess, den Sales-Prozess und den Produktionsprozess. Daneben gibt es acht Unterstützungsprozesse, vom Einkauf über Finanzen und den Welcome-Prozess bis hin zur Regie, formerly known as Geschäftsführung. Das sind Unterstützungsprozesse, weil sie den Hauptprozessen zuarbeiten, wo das Geld verdient wird. Das klingt hierarchisch, aber jeder Prozess hat eine Stimme.
Ersetzen die Prozesse Abteilungen?
Andreas Ahamer: Am Anfang war es in erster Linie eine Umbenennung der Abteilungen in Prozesse. Daraus hat sich sukzessive ein Prozessdenken entwickelt. Heute sind wir dabei, von der Benennung als Prozess in einen wirklichen Prozess hineinkommen.
Gibt es noch ein Abteilungsdenken?
Andreas Ahamer: Hin und wieder. Einfach deshalb, weil Mitarbeiter früher eben in dieser oder jener Abteilung gearbeitet haben. Heute versuchen wir zu erreichen, dass nur noch in Prozessen gedacht wird.
Markus Stelzmann: Unser Ziel war, dass die Prozesse fließend miteinander arbeiten, damit die Organisation ein Organismus wird. Das haben wir noch nicht ganz erreicht. Im Großen und Ganzen funktioniert es, aber die Mitarbeiter sind unzufrieden, weil doch noch Prozessgrenzen vorhanden sind. Deshalb wollen sie das Unternehmen noch mal radikal verändern. Es soll nur noch zwei Prozesse geben, einen Wertschöpfungsprozess und einen Innovationsprozess, unter denen sich die anderen Prozesse einordnen. So wollen sie die Schnittstellenprobleme aus dem Unternehmen schaffen und noch mehr interdisziplinäres Denken fördern.
Was unterscheidet die Prozesse von klassischen Abteilungen?
Markus Stelzmann: Der Unterschied ist, dass es keine Abteilungsleiter mehr gibt. Es gibt sogenannte Prozessverantwortliche. Da haben wir eine klare Trennung: Zum einen gibt es Verantwortliche für die Prozesse, zum anderen Personalverantwortliche. Um interdisziplinäres Arbeiten zu fördern, dürfen die Personalverantwortlichen nie aus dem Prozess sein, in dem sie ansässig sind. Ein weiterer Vorteil dieser Trennung: Ein Mitarbeiter sitzt nicht einem Vorgesetzten gegenüber, sondern es sind immer zwei, und sie müssen Gehalt und fachliche Weiterbildung zu dritt ausdiskutieren.
Wir haben auch keine Funktionen mehr. Jeder Mitarbeiter hat seine Grundfunktion, für die er eingestellt wird, seine Rolle. Zusätzlich kann er Aufgaben hinzunehmen, die er gerne machen möchte, sofern er die Qualifikation dafür hat und es seine Grundfunktion nicht stört. Wir fördern interdisziplinäres Denken, dieses Verstehen des anderen. Im Unternehmen heißt es: Wir bilden eigentlich Unternehmer aus.
Was heißt das?
Markus Stelzmann: Bei uns weiß zum Beispiel jeder Mitarbeiter aus der Produktion, was EBITDA und was OPEX sind. Wir bieten Schulungen, damit sie diese Kennzahlen lesen können. Wir machen das intern komplett transparent. Damit weiß jeder alles. Das ist auf der einen Seite vorteilhaft, doch seitdem schläft das Unternehmen schlecht, wenn die Zahlen schlecht sind. Es ist ein Stück weit meine Aufgabe, so etwas auch mal zu relativieren, Motto: So was passiert in anderen Unternehmen auch. Die Mitarbeiter müssen lernen, mit solchen Dingen umzugehen. Aber das wird ständig besser.
Wie läuft die Abstimmung im Unternehmen konkret? In Meetings?
Markus Stelzmann: Wir haben nur drei Arten von Besprechungen: in den Gremien, in den Arbeitsgruppen und drittens Jours fixes, das sind wöchentliche Treffen zur Abstimmung in einem Prozess oder zwischen den Prozessen. Zu jeder dieser Besprechungen gibt es Agenden und Protokolle, die für jeden einsehbar im Intranet abgelegt werden.
Und wer stellt neue Mitarbeiter ein?
Markus Stelzmann: Die Prozesse bestimmen selber, ob sie neue Mitarbeiter haben wollen. HR stellt die Mitarbeiter ein, aber als Dienstleister. HR ist ebenfalls ein Unterstützungsprozess.
Wie kommen Aufträge rein? Sie haben einen Vertrieb?
Markus Stelzmann: Wir haben einen Vertrieb wie jedes andere Unternehmen auch. Es sind die Details, die den Unterschied machen. Wir haben im Vertrieb zum Beispiel keine Regionen mehr. Es gibt Teamziele. Und im gesamten Unternehmen gibt es keine Provisionen mehr, sondern jeder bekommt ein Fixgehalt.
Sie haben Gremien, Sie haben Prozesse. Und wie ist die konkrete Arbeit organisiert?
Markus Stelzmann: Hauptsächlich in Projekten. Wir sind ein projektorientiertes Unternehmen. Jeder Mitarbeiter hat seine Grundfunktion und arbeitet seine Anforderungen ab. Da ist kein großer Unterschied zu anderen Unternehmen. Bei uns wird breiter diskutiert, was man verbessern kann und wie man besser mit anderen Prozessen zusammenarbeitet.
Wir haben relativ geringe Hürden zwischen den Prozessen. Sie sind noch da, aber längst nicht so hoch wie in anderen Unternehmen, wo eine Abteilung gegen die andere arbeitet oder anderen Dinge über den Zaun schmeißt nach dem Motto "Wir haben unseren Teil gemacht, sollen die doch schauen, wie sie weiterkommen!". Das gibt es bei uns nicht. Dieses Unternehmen ist schon ein großes Ganzes geworden.
Ganz allgemein: Was können die Mitarbeiter bei Ihnen selbst entscheiden?
Markus Stelzmann: Alles, was ihre eigene Arbeit angeht. Jeder einzelne Mitarbeiter kann sich seinen Arbeitsplatz gestalten, er kann arbeiten, wo er möchte. Er kann sich an Unternehmensentscheidungen beteiligen, kann Projekte initiieren, Themen einbringen und Vorschläge machen. Unsere Mitarbeiter haben einen hohen Freiheitsgrad.
Andreas Ahamer: In ihrem eigenen Arbeitsbereich und in ihrer eigenen Rolle können die Mitarbeiter erst einmal alles selbst entscheiden - es muss nur vom Budgetrahmen gedeckt sein. Ob ein Mitarbeiter eine Messe besucht, eine Geschäftsreise macht oder neue Arbeitsmittel anschafft, kann von jedem selbst oder vom Team bestimmt werden.
Und was können die Teams entscheiden?
Andreas Ahamer: Alles, was ihr eigenes Budget anbelangt, inklusive der Aufstellung dieses Budgets. Das heißt, sie können alles, was in ihren Aufgabenbereich fällt, zu 100 Prozent selbst entscheiden. Das Gesamtbudget wird in einem Gremium abgestimmt. Da kann es natürlich vorkommen, dass nicht finanziert werden kann, was sich ein Prozess wünscht.
Und wie wissen die Mitarbeiter, was sie selbst entscheiden können und wo sie das Team fragen müssen?
Andreas Ahamer: Bei allem, was das Budget überschreitet oder nicht budgetiert worden ist, muss das Team gefragt werden. Innerhalb des Teams kann das Budget verschoben werden, wie man das für richtig hält. Was über das Budget hinausgeht, muss mit anderen Prozessen in einem Gremium abgestimmt werden.
Gab es jemals ein Problem damit, dass Mitarbeiter nicht gefragt haben, wo es notwendig gewesen wäre?
Andreas Ahamer: Da würde mir nichts Gröberes einfallen. Natürlich gibt es bei der Umstellung auf so ein System Anfangsschwierigkeiten, weil eine ganz andere Philosophie dahintersteckt. Aber dass einer nicht gefragt hätte oder etwas nicht budgetiert oder falsch budgetiert war, nein überhaupt nicht. Eher fragt ein Kollege einmal mehr. Der Umgang mit dem nicht eigenen Geld ist richtig gut!
Ich habe mich gerade ertappt, dass in der letzten Frage das Misstrauen und Kontrolldenken der alten Organisation hineinspielte. Gibt es bei Ihnen Kontrolle?
Markus Stelzmann: Es gibt bei uns eine starke soziale Kontrolle. Sie wird kaum wahrgenommen, aber sie ist da. Dadurch haben wir sehr wenig Controllingaufwand. Weil bei uns alle Zahlen transparent sind, kann keiner Geld ausgeben, wie er will. Wenn bei mir auf der Tankrechnung ein Snickers drauf ist, habe ich sofort eine Diskussion am Hals, dass das so nicht geht. Die Mitarbeiter gehen mit dem Geld des Unternehmens um, als wäre es ihr eigenes. Sie müssen eher ermuntert werden, in sinnvolle Dinge zu investieren. Jeder Mitarbeiter kann sich für 200 Euro pro Monat Dinge kaufen, die er für seine Arbeit benötigt. Fachbücher, Büroartikel oder eine Tastatur. Das schöpft keiner aus. Und es nützt keiner aus.
Andreas Ahamer: Grundlage des Vertrauens der Kolleginnen und Kollegen ist die absolute Transparenz in unserem Infonet. Ohne das würde es nicht gehen. In einer Organisation mit vielen Menschen gibt es natürlich viele Meinungen und auch Misstrauen, das ist menschlich. Wenn man nicht weiß, was die anderen machen, und niemand weiter oben in der Hierarchie sitzt und aufpasst - was diese Person allerdings meistens eh nicht tut -, dann kann schnell Misstrauen entstehen. Wir brauchen diese Transparenz, um dem vorzubeugen.
Dieses Informationssystem macht alle Informationen transparent? Wie läuft die Kommunikation im Unternehmen?
Markus Stelzmann: Unsere Kommunikation haben wir in unserem Infonet zusammengeführt. Da drin stehen alle Dokumente, alle Zahlen. Da können sich Gruppen bilden, Projektteams oder Interessengruppen zu bestimmten Themen. Wir kommunizieren über eine Art WhatsApp für Unternehmen, weil die Kommunikation viel übersichtlicher und transparenter ist als mit diesem Mail-Gefrickel.
Wie sieht dieses Infonet konkret aus?
Andreas Ahamer: Das ist ein Intranet, da werden alle Gesprächsagenden und Gesprächsprotokolle abgelegt, dort sind alle Budgetzahlen, alle Monats- oder Quartalszahlen veröffentlicht, ebenso Produktionskennzahlen. Auch der Vertriebsforecast, die aktuellen Umsatzzahlen bis hin zur aktuellen Leistung unserer Fotovoltaikanlage. Es steht auch drin, wo die Leute von der Vertriebsmannschaft gerade sind, welche Kundentermine sie sich vorgenommen haben bis hin zu Blog-Einträgen oder Auszeichnungen, die ein Lehrling oder das Unternehmen bekommen hat. Es stehen auch alle Geburtstage drin. Es ist also ein recht mächtiges Tool, das wir nach unseren Bedürfnissen gestaltet haben.
Wie läuft die Kommunikation ganz konkret? In Form von Chats?
Andreas Ahamer: Es gibt öffentliche und nicht öffentliche Chats. Wenn eine Arbeitsgruppe ein Thema zunächst intern besprechen und erst dann das Ergebnis allen präsentieren möchte, kann ein nicht öffentlicher Chatroom nur für diese Arbeitsgruppe eingerichtet werden. Sehr viele sind aber öffentlich. Für Mitarbeiter, die am Arbeitsplatz keinen Computer haben, zum Beispiel in der Produktion, gibt es genügend Stationen, wo iPads aushängen, wo man sich informieren kann oder mitreden kann. Aber natürlich kann man das Tool auch via Handy oder iPad mobil nutzen.
Ist das System übertragbar auf andere Unternehmen?
Andreas Ahamer: Ja, ohne Probleme. Man muss bloß eine andere Firma dahintersetzen. Die Kennzahlen sind ja immer sehr ähnlich. Es ist auch für andere Organisationsformen geeignet, bis hin zu einer Hierarchie. Hierarchie ist ja nicht per se schlecht. Wenn die Personen sehr transparent mit Entscheidungen umgehen, kann eine Hierarchie durchaus sehr erfolgreich sehr. Viele Unternehmen haben das jahrzehnte- oder jahrhundertelang bewiesen.
Und warum dann ein anderes Modell?
Andreas Ahamer: Bei uns? Ganz einfach, weil die Mitarbeiter ein nicht hierarchisches Modell gewählt und erarbeitet haben.
Sie haben vorhin gesagt, dass ohne Hierarchie Entscheidungen schneller getroffen werden. Wie sieht das konkret aus, wenn nicht mehr der in der Hierarchie Zuständige die Entscheidung trifft?
Andreas Ahamer: Das erkläre ich am besten an einem Beispiel: Preisgestaltung eines Produkts, also Festlegung von Preis und Marge. Die Marge hat früher das Controlling vorgegeben, daraus wurden Produktpreis und Mindestverkaufspreis abgeleitet, und am Ende hat das der Finanzchef abgesegnet. Heute erarbeitet der Finanzprozess, wie hoch der Deckungsbeitrag sein muss, damit wir profitabel arbeiten können. Vom Vertrieb kommt die Information, welcher Verkaufspreis am Markt erzielt werden kann. So definiert dann das Vertriebsteam gemeinsam mit dem Finanzprozess ein Preiskonstrukt und eine Rabattstruktur für bestimmte Kundenkreise.
Das klingt komplizierter, als wenn einer eine Entscheidung trifft.
Andreas Ahamer: Am Anfang ist es erst einmal zeitintensiver, das stimmt. Aber wenn eine Gruppe von Leuten sich zu etwas committet, wirkt das viel nachhaltiger, als wenn eine Person sagt: "So ist es!" Zudem ist das Wissen zur Preisgestaltung im Unternehmen viel breiter verteilt.
Spielt sich das ein, geht das mit der Zeit dann schneller?
Andreas Ahamer: Am Anfang kostet es Zeit, das Wissen auszustreuen und alle mitzunehmen. Dann geht es aber schneller, weil dieses Wissen breiter im Unternehmen gestreut ist. Früher konnte kein Preis gemacht, keine Sonderaktion gefahren und kein Sonderpreis für einen Großkunden berechnet werden, wenn die eine zuständige Person in der Hierarchie nicht da war. Jetzt kann das Team das selber entscheiden. Und das geht natürlich schneller.
Und wie weit geht die Entscheidungsautonomie?
Andreas Ahamer: Grundsätzlich kann jeder Prozess alles selbst entscheiden. Der Vertrieb könnte auch entscheiden, zukünftig Kühe zu verkaufen …
Markus Stelzmann: … oder die besten Brötchen von Wien zu produzieren …
Andreas Ahamer: Aber wenn es mit unserer kurzfristigen und mittelfristigen Strategie gar nichts zu tun hat - wir sind ein Technologieunternehmen -, würde das zumindest zu einer Diskussion mit den anderen Prozessen führen.
Um Ihr Beispiel aufzugreifen: Angenommen, ein Mitarbeiter würde aufstehen und sagen: Wir sollten die besten Brötchen Wiens produzieren! Was würde passieren?
Markus Stelzmann: Er würde seinen Vorschlag in ein Gremium einbringen. Wahrscheinlich würde dieser Vorschlag von den anderen Prozessen gleich abgelehnt. Aber nehmen wir an, es wäre eine gute Idee. Dann würden sie eine Arbeitsgruppe bilden und das Thema ausarbeiten. Vielleicht würde ein Pilotprojekt mit einem kleinen Ofen dabei herauskommen; und wenn finanzierbar, würde es umgesetzt. Ich kann dagegen votieren, aber ich habe auch nur eine Stimme. Wenn die zehn anderen das machen wollen, dann machen sie es.
Allgemein gesagt: Wir haben gewisse Leitplanken, die besagen: Arbeiten muss Spaß machen, unsere Produkte müssen schön sein und sie müssen die Welt besser machen. Innerhalb dieser Leitplanken kann sich jeder frei bewegen.
Können die Mitarbeiter ihre Gehälter auch selbst bestimmen?
Markus Stelzmann: Ja, sie können ihre Gehälter selbst entscheiden. Nicht der Einzelne, aber in der Organisation, abhängig von dem wirtschaftlichen Ergebnis, das sie erwirtschaften. Bei uns steht die Organisation über allem. Wenn es ein Problem gibt, dann verändern wir die Organisation.
Sie haben gesagt, dass Lohngerechtigkeit ein Thema war. Was kam dabei raus?
Markus Stelzmann: Die Mitarbeiter haben sich anhand von Vergleichslöhnen in Österreich eine Matrix erarbeitet. Auf dieser Grundlage haben sie den Mitarbeitern, die ihrem Empfinden nach zu wenig hatten, mit einem Mal 90.000 Euro mehr an Löhnen ausbezahlt. Gleichzeitig haben sie aber 100.000 Euro an anderer Ecke eingespart.
Wir sehen das so: Es muss halt am Ende des Jahres reichen. Wie in einer Familie: Soundso viel Geld kommt rein, und man entscheidet, was man damit machen will. So ist es bei uns auch. Das meine ich mit Entmystifizierung dieses Business-Blablas: Es wird immerzu suggeriert, Entscheidungen in Unternehmen hätten einen höheren Komplexitätsgrad, je höher der finanzielle Umfang ist. Nein, die Entscheidung hat nur mehr Nullen! Sie hat vielleicht auch eine größere Tragweite. Aber die Komplexität, die Entscheidung zu treffen, ist nicht anders als bei kleineren Summen.
Das ist ein grundsätzliches Thema: Warum darf einer in einem Unternehmen keine 50 Euro ausgeben, ist aber in seiner Freizeit Kassenwart bei der Feuerwehr und kauft für eine halbe Million Feuerwehrautos ein? Das betrifft exakt die Frage: Was vermittelt dem Menschen Sinnhaftigkeit? Was motiviert ihn, sein Bestes zu geben und sich einzubringen im Unternehmen?
Herr Stelzmann, Sie haben vorhin gesagt, aus dem Unternehmen sei schon ein großes Ganzes geworden. Ihre Aufgabe im Team ist es, das große Ganze im Blick zu haben?
Markus Stelzmann: Das versuche ich. Ich bin im Unternehmen so etwas wie ein Mentor: Ich höre zu, versuche, zu beraten und Hilfestellung zu geben, um gemeinsam mit den Mitarbeitern die richtige Entscheidung herbeizuführen. Und ich versuche, wichtige Themen aufzunehmen und in den Gremien zu thematisieren.
Und wie geht es weiter? Sie haben Pläne?
Markus Stelzmann: Wir überlegen gerade, hier unten ein Café einzurichten, damit Firmen aus dem Umkreis hierherkommen und so Kommunikation entsteht. Wir verbandeln uns nicht nur mit unseren Kunden, sondern mit der Gesellschaft.
Auf Ihrer Website steht, Sie kooperieren auch mit Start-ups?
Markus Stelzmann: Wir schaffen gerade Räumlichkeiten in unserem Unternehmen, wo sich Start-up-Unternehmen ansiedeln können. Weil das ein Unternehmen befruchtet. Wir unterstützen die jungen Leute mit Dienstleistungen wie Buchhaltung und helfen ihnen, ihr Produkt zu entwickeln. Umgekehrt lernen wir von ihrer Agilität und Visionskraft. Ganz wichtig ist uns, dass das auf Augenhöhe passiert. Nicht nach dem Motto "Wenn ihr groß seid, dann kaufen wir euch". Sondern partnerschaftlich.
Auch das Thema Organisationsentwicklung könnte sich zu einem Geschäftszweig entwickeln?
Markus Stelzmann: Ja, das ist ja das Schöne an unserer Organisation: Wir kommen zwar aus dem Bereich Zeit- und Überwachungsrelais, und dort verdienen wir auch unser Geld. Aber der Unternehmenszweck kann völlig offen sein. Wir haben Interessenten für unser Infonet. Es gibt Interesse an unserer Organisation. Wir möchten es Unternehmen ermöglichen, zu uns zu kommen und unsere Organisation kennenzulernen.
Herr Ahamer, Sie haben vorhin den Begriff "demokratisch" verwendet. Ist Ihre Organisation ein Beispiel für Unternehmensdemokratie?
Andreas Ahamer: Dieses Mitreden und Informationsaustausch? Ja. Der wichtigste Punkt ist: Bei uns kann jeder Themen zu einem Gremiumsentscheid führen. Ob das was wird, muss sich herausstellen, aber es kann kein Thema totgeschwiegen werden. Es wird zumindest diskutiert. Das finde ich an unserer Organisationsform essenziell demokratisch.
Gibt es Ideen für die Weiterentwicklung der Organisation? Eine Vision?
Markus Stelzmann: Nach innen sind wir schon transparent, und in den nächsten Jahren wollen wir auch nach außen vollkommen transparent werden. Unsere Vision ist, dass auf unserer Homepage zu sehen ist, was wir gerade entwickeln, wofür wir unser Geld ausgeben und was unsere Mitarbeiter gerade tun.
Das Interview haben wir telefonisch in zwei getrennten Gesprächen geführt und diese dann redaktionell zu einem Interviewtext verschränkt.
Zitate
"Wir stellen den Mitarbeiter ganz nach vorne in unserem Unternehmen." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"30 Prozent der Mitarbeiter haben gekündigt und mussten ersetzt werden. Das war kein Spaß am Anfang." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Das ist unsere Version, unser Verständnis von Organisation. Jedes Unternehmen muss einen eigenen Weg finden." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Branche und Technologie verändern sich rasch. Es kommt also darauf an, schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Das gelingt in einer flachen Organisationsform viel besser als in einer Hierarchie." Andreas Ahamer: Formerly known as Geschäftsführung
"Wir fördern interdisziplinäres Denken, dieses Verstehen des anderen. Im Unternehmen heißt es: Wir bilden eigentlich Unternehmer aus." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Es gibt bei uns eine starke soziale Kontrolle. Sie wird kaum wahrgenommen, aber sie ist da." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Wenn bei mir auf der Tankrechnung ein Snickers drauf ist, habe ich sofort eine Diskussion am Hals, dass das so nicht geht." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Ich kann dagegen votieren, aber ich habe auch nur eine Stimme. Wenn die zehn anderen das machen wollen, dann machen sie es." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Warum darf einer in einem Unternehmen keine 50 Euro ausgeben, ist aber in seiner Freizeit Kassenwart bei der Feuerwehr und kauft für eine halbe Million Feuerwehrautos ein?" Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Was vermittelt dem Menschen Sinnhaftigkeit? Was motiviert ihn, sein Bestes zu geben und sich einzubringen im Unternehmen?" Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
"Bei uns kann jeder Themen zu einem Gremiumsentscheid führen. Das finde ich an unserer Organisationsform essenziell demokratisch." Andreas Ahamer: Formerly known as Geschäftsführung
"In den nächsten Jahren wollen wir auch nach außen vollkommen transparent werden." Markus Stelzmann: Formerly known as Geschäftsführung
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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