Ausgedampft - der Anfang vom Ende der Dampfschiffe

Vor 100 Jahren tuckerte das erste Schiff mit Dieselmotor auf der Wolga.

Von Winfried Kretschmer

Technische Revolutionen vollziehen sich oft im Verborgenen. Vor genau 100 Jahren, im Frühling des Jahres 1903, absolvierte das erste, von einem Dieselmotor angetriebene Schiff seine Jungfernfahrt - weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Deren Augenmerk galt nach wie vor dem Wettrennen der Schnelldampfer um das "Blaue Band" für die schnellste Altantiküberquerung. Aber die Ära der Dampfschiffe neigte sich dem Ende zu.

Die Petit Pierre (oben) und die
Vandal (unten) waren die ersten
Binnenschiffe mit Dieselmotoren.

Es war ein großer Tag. Am 14. April 1903 lief in Bremerhaven der Schnelldampfer Kaiser Wilhelm II. unter dem Jubel zahlreicher Zuschauer zu seiner Jungfernfahrt Richtung New York aus. Die Kaiser Wilhelm II. war ein Schiff der Superlative: 215 Meter lang, 19.360 Bruttoregistertonnen, Platz für 1.700 Passagiere und über 600 Besatzungsangehörige. Vier mächtige Schornsteine erhoben sich über dem Ozeanriesen. Tief unten im Bauch des Schiffes arbeitete die größte, jemals gebaute Schiffsdampfmaschine. Drei Stockwerke hoch, brachte sie eine Leistung von 33.000 Kilowatt, das entspricht 45.000 PS. Zwölf Oberheizer, 99 Heizer und 118 Kohlentrimmer sorgten dafür, dass die Glut in den Kesseln nicht versiegte. 760 Tonnen Kohle wanderten bei Höchstgeschwindigkeit Tag für Tag in die Feuer. Und Höchstgeschwindigkeit war das Ziel: Der Luxusliner sollte der Norddeutschen Lloyd das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung zurückerobern. Das gelang gut ein Jahr später, als die Kaiser Wilhelm II. die Atlantikfahrt in der Rekordzeit von fünf Tagen, elf Stunden und 58 Minuten absolvierte. Ein Triumph der Technik, so schien es. Tatsächlich jedoch war der mit allem Pomp und Protz der wilhelminischen Ära ausgestattete Luxusdampfer ein kohlefressender Dinosaurier. Die technische Revolution vollzog sich woanders, unbeachtet von der Öffentlichkeit, zeitgleich in Russland und in Frankreich.

Schwarzes Gold - taugt die Fracht auch als Brennstoff?


In Stalingrad lagen über den Winter 1902/03 zwei Schiffsrümpfe auf dem Trockendock und warteten auf den Einbau der Antriebsaggregate. Die beiden gut 70 Meter langen Tankschiffe Vandal und Ssarmat gehörten der russischen Maschinenfabrik Ludwig Nobel, deren Naphtha-Produktionsgesellschaft mit eigenen Transportschiffen Erdölprodukte - Naphtha ist ein veralteter Begriff für Erdöl - zwischen dem Kaspischen Meer und St. Petersburg beförderte. Da lag es nahe, das "schwarze Gold" auch als Brennstoff für den Schiffsantrieb einzusetzen. Deshalb hatte die Maschinenfabrik eine eigene Lizenz zum Bau der 1897 bei einer Vorläuferfirma der heutigen MAN von Rudolf Diesel vorgestellten neuen Dieselmotoren erworben. Deren Einsatz als Schiffsantrieb war jedoch technisches Neuland; bislang liefen die klobigen Dieselaggregate ausschließlich im stationären Betrieb.
Jeweils drei Motoren waren für jedes der beiden Tankschiffe vorgesehen. Gebaut wurden die Aggregate von der schwedischen Aktiebolag Diesel Motorer in Stockholm, die seinerzeit die leichtesten und wirtschaftlichsten Dieselmotoren fertigte. Doch die Lieferung verzögerte sich; und als die Motoren endlich eintrafen, waren zahlreiche technische Hürden zu überwinden. Deren größte: Man konnte die Laufrichtung des Motors nicht ändern, das jedoch ist Voraussetzung, um ein Schiff zu manövrieren. Die Ingenieure lösten dieses Problem nach einer Idee des italienischen Erfinders Del Proposto. Hinter jedem Motor wurden ein Stromgenerator, eine Kupplung und ein Elektromotor montiert. Bei Vorwärtsfahrt trieb das Dieselaggregat direkt die Schraube, beim Manövrieren hingegen löste man die Kupplung und schaltete auf elektrischen Betrieb um. So gesehen war es eine Doppel-Premiere, als die Vandal im Frühjahr 1903 zur Jungfernfahrt auf der Wolga auslief: Der Tanker war nicht nur das erste Schiff mit Dieselmotor, sondern zugleich das erste mit elektrischem Antrieb. Die neue Technik funktionierte - doch schon bei ihrer ersten Ausfahrt hatte die Vandal einen schweren Unfall, bei dem der Rumpf und einer der Motoren so stark beschädigt wurden, dass das Schiff zur Reparatur zurück in die Werft gebracht werden musste.

"Beginn einer neuen Epoche in der Schifffahrt."


Zwar war die Vandal das erste Schiff, das eine Fahrt mit Dieselantrieb unternahm, beim regelmäßigen Betrieb hatten jedoch andere die Nase vorn. Zur gleichen Zeit wie ihre russischen Kollegen arbeiteten auch in Frankreich Ingenieure an dem Einsatz von Dieselmotoren als Schiffsantrieb. Unter Leitung von Frédéric Dyckhoff, einem langjährigen Freund und Geschäftspartner Rudolf Diesels, wurde ein vorhandenes Lastschiff auf den neuen Antrieb umgerüstet. In das 38 Meter lange Kanalschiff namens Petit Pierre, das im Rhein-Marne-Kanal im Einsatz war, wurde ein Dieselmotor aus französischer Herstellung eingebaut. Das war ebenfalls im Jahr 1903, und vermutlich im August absolvierte das Kanalboot seine erste Testfahrt. Bei einer weiteren Probefahrt am 25. Oktober war der Erfinder Rudolf Diesel mit an Bord - und schwärmte begeistert vom Beginn einer neuen Epoche in der Schifffahrt.
Wie lange die Petit Pierre noch auf Frankreichs Binnengewässern unterwegs war, ist nicht bekannt. Die russische Vandal indes tuckerte nach ihrer Reparatur noch zehn Jahre die Wolga hinauf und hinunter. Das 1904 in Betrieb genommene Schwesterschiff Ssarmat war bis 1923 im Einsatz. Die Erfahrungen waren so positiv, dass Ludwig Nobel sich entschloss, 60 Schiffe seiner Flotte auf Dieselantrieb umzurüsten. Der Siegeszug des Schiffsdieselmotors hatte begonnen.

Historikerstreit um das erste maritime Dieselschiff.


Sowohl die Petit Pierre als auch die Vandal und die Ssarmat waren Binnenschiffe. Bei der Frage, wer das erste seegehende Schiff mit Dieselmotorantrieb auf Jungfernfahrt geschickt hat, herrscht Uneinigkeit unter den Schifffahrtshistorikern. Denn wie so oft in der Technikgeschichte wurden entscheidende Innovationen nicht an einem Ort, von einem Forscher oder Team, sondern zugleich an verschiedenen Orten gemacht. So war es auch beim maritimen Einsatz von Dieselmotoren. In Frankreich, Russland, Belgien, Schweden, Großbritannien und Deutschland tüftelten Ingenieure zu Beginn des 20. Jahrhunderts an Schiffen mit Dieselantrieb. Auch das Militär hatte ein Auge auf die neue Technik geworfen - als Antriebsaggregat für Unterseeboote. Auch hier war Frankreich führend. Bereits 1904 ging das französische Versuchs-U-Boot Z mit Dieselaggregat auf Tauchfahrt. Es folgte die Aigrette, die im Jahr darauf in Betrieb ging. 1911 hatte die französische Marine dann schon über 60 dieselbetriebene Unterseeboote im Einsatz.

Das erste große hochseegängige
Schiff mit Dieselantrieb
war die Selandia.

Aber auch auf zivilem Feld schritt die Entwicklung schnell voran. In Schweden wurden Dieselmotoren als Zusatzaggregate in verschiedene Hochsee-Segelschiffe eingebaut. So erhielt auch Amundsens Fram 1910 einen Dieselmotor als Zusatzantrieb. 1908 wurde in Russland der Tanker Djelo in Betrieb genommen, der auf dem Kaspischen Meer verkehrte - das wiederum gilt "nur" als Binnenmeer, das Schiff somit nicht als hochseetauglich. Der heftigste Streit um das erste "echte" maritime Dieselschiff entzündete sich um die beiden Schiffe Vulcanu und Selandia. Der Tanker Vulcanus wurde 1910 von einer Tochtergesellschaft der niederländischen Shell in Dienst gestellt. Das Schiff war zweifellos ein durchschlagender wirtschaftlicher Erfolg, denn es verbrauchte im Vergleich zu einem Dampfschiff nur einen Bruchteil an Brennstoff und kam mit einer halb so großen Besatzung aus, denn Heizer waren überflüssig. Ob das Schiff freilich auf hoher See unterwegs war, ist umstritten. So sah der niederländische Professor für Ingenieurwissenschaften D. Stapersma die Vulcanus im Fernen Osten zwischen Singapur und Borneo im Einsatz. Also hochseetauglich. Andere Autoren bezeichnen sie indes als "Küstenmotorschiff", das lediglich in Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer unterwegs gewesen sei. Also nicht hochseetauglich.

"Rauch- und schornsteinloses Riesenmotorschiff."


Die dänische Selandia hingegen war dies zweifellos und war unbestritten auch auf hoher See unterwegs. Das 117 Meter lange, weiß getünchte Frachtschiff aus der Werft Burmaister & Wain, heute aufgegangen in der MAN B&W Diesel AG, verfügte über zwei Dieselmotoren mit einer Leistung von 1.250 PS und hatte keinen Schornstein mehr, sondern ein Auspuffrohr nahe dem Mast. Wenige Tage nach der Erprobung startete das Schiff auf seine Jungfernreise von Kopenhagen über London, Antwerpen, Genua nach Singapur und Bangkok - eine Fahrt, die dem Dieselmotor große öffentliche Aufmerksamkeit bescherte. In London kam gar der damalige Marineminister Winston Churchill an Bord, um sich über die Antriebstechnik zu informieren. Zu einem ähnlichen PR-Erfolg geriet die Jungfernfahrt des Schwesterschiffes Fionia. Die Fahrt führte im Juni 1912 von Kopenhagen nach Kiel, wo die Kieler Woche stattfand. Als prominentester Besucher kam am 25. Juni 1912 der deutsche Kaiser an Bord. Und eine Zeitung zeigte sich beeindruckt, wie "inmitten der zahlreichen Segelschiffe und Dampfer, aus deren Schornsteinen dicke Rauchwolken aufstiegen, das rauch- und schornsteinlose Riesenmotorschiff erschien".
Das war der Durchbruch für den Schiffsdiesel. Dieselmotoren wurden zum Standardantrieb für Ozeanriesen und beendeten die Ära der Dampfschifffahrt. Heute werden rund 96 Prozent der großen Handelsschiffe mit mehr als 100.000 Bruttoregistertonnen - rund 90.000 sind auf den Weltmeeren unterwegs - von Dieselmotoren angetrieben. Sein Motor werde einmal die Dampfmaschine ersetzen, hatte Rudolf Diesel schon prophezeit, als seine Erfindung erst auf dem Papier existierte. Kaum jemals ist eine Technikvision so vollständig in Erfüllung gegangen wie diese.

Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.

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Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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