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Quer zu denken
Das Denken muss Sprünge machen - ein Gespräch mit Erich Feldmeier.
Von Winfried Kretschmer
Das Denken muss die ausgetretenen Pfade verlassen! Fordert Erich Feldmeier. Doch das allein reicht nicht. Dazu gehört das aktive Handeln und Umsetzen. Denn Innovation ist Erfindung plus Anwendung. Um dem auf die Sprünge zu helfen, braucht es in Unternehmen interdisziplinäre Dolmetscher und Quervernetzer, die durch Patenschaften von "Jungen Wilden" für frischen Wind sorgen. Abseits der Hierarchie-Gockeleien. Quer eben.
Erich FeldmeierErich Feldmeier ist Dozent an der HAW Hamburg. Er hat drei Hightech-Ausbildungen - in Molekularbiologie, IT und Wissensmanagement - absolviert und im vergangenen Jahr iiQii, das Institut für Querdenkertum und Innovation gegründet. iiQii bietet Expertisen, Forschung und Beratung zur Organisation der Informationsbewältigung und Bedienungsfreundlichkeit. Außerdem widmet sich iiQii der pragmatischen Perfektion von Arbeitsabläufen sowie der Beseitigung der sogenannten "Daily Little Hazards", der täglich nervenden Kleinigkeiten. Ab Februar 2005 erscheint im Partnerforum von changeX seine Kolumne "Einspruch!" - ein, wie er sagt, "konstruktiv-kritisches Format, das die oft unreflektierten, scheinbar unabänderlichen Selbstverständlichkeiten humorvoll und ketzerisch-herausfordernd in Frage stellt".
Herr Feldmeier, Sie haben das Institut für Querdenkertum und Innovation gegründet. Was verstehen Sie unter Querdenken?
Querdenken heißt: Etwas anders denken und anders machen, als es bisher im Allgemeinen gedacht und gemacht wurde. Das Denken muss Sprünge machen! Oder soll man sagen, erforderlich ist eine vollständige Neu-Erfindung des Denkens?
Anders denken heißt denken abseits der ausgetretenen Pfade?
Denken abseits der ausgetretenen Pfade ist nötig - nötig sind vor allem aber das Ausprobieren und das Zulassen von Fehlern! Immerhin ist die Weiterentwicklung aus zufälligen Fehlern die Basis der Evolution: trial and error. Kinder lernen so das Laufen. Jugendliche grenzen sich so von den Eltern ab. So lernen wir Neues. Entscheidend daran ist der Fehler, danach erst kommt die kontinuierliche Verbesserung, zum Beispiel von Individuen, Organisationen und Produkten - also das, was im Wissensmanagement unter Best Practice bekannt ist. Bei Best Practice handelt es sich also gerade nicht um Innovation. Diese entsteht erst durch Lernen aus Fehlern und tatsächlichen Verhaltensänderungen. Oder: Innovation ist gleich Erfindung plus Anwendung. Das heißt wiederum: Dazu gehört das aktive Handeln und Umsetzen. Denn Denken ohne Handeln ist sinnlos, langweilig und frustrierend.
Was bedeutet das ganz konkret für uns, für Unternehmen?
Vor allem im betrieblichen Umfeld gibt es praktisch keine Fehlerkultur. Fehler werden vertuscht und bestraft, wenn man sie entdeckt. Es erscheint als ganz normal, dass Fehler nicht belohnt werden - doch betriebswirtschaftlich wäre das lukrativer, als dieselben Fehler noch mal zu machen! Die Konsequenzen werden sich im nächsten Jahrzehnt in dramatischem Umfang zeigen, wenn ganze Generationen ihr Erfahrungswissen mit in die Rente nehmen. Denn dann werden Fehler gemacht, deren Lösungen in den Köpfen der Weggegangenen sind. Wissen ist Information plus Bewertung, und das bleibt nicht - und schon gar nicht automatisch - in einer Organisation erhalten. Was aber kleben und erhalten bleibt wie Pech, das sind Strukturen, zeitliche, räumliche und Mentalitätsmuster. Aber Innovation gibt es nicht, ohne etwas Neues zuzulassen, das heißt ohne Veränderung. Alle reden von Innovation, aber ändern sollen sich zuerst die Anderen, das ist das - organisationspsychologisch lösbare - Problem!
Verstehen Sie unter Querdenken ein freies Denken oder gibt es Methoden und Regeln?
Querdenken ist ja sozusagen die angewandte Bionik der Evolution. Ansonsten halte ich es mit dem gesunden Menschenverstand und versuche nicht ein kryptisches Drei-Buchstaben-Kürzel als alleinseligmachendes USP - Alleinstellungsmerkmal - zu erfinden und zu verkaufen. Nehmen Sie sich einfach Freiheit und Zeit, zugegeben der größte Luxus heutzutage. Aber ein Facharbeiter, Ingenieur oder Betriebswirt muss auch einige Jahre lernen oder studieren!
Das ist der Punkt: Zeit ist Geld. Und dann kommt McKinseys Rasiermesser und das war es dann mit dem Querdenken ...
Nein, man muss die Frage anders stellen: Ich finde es schlichtweg inakzeptabel, dass wir es uns als Gesellschaft leisten, 99 Komma x Prozent an vorhandenen Informationen in Datenfriedhöfen zu beerdigen, statt sie zu nutzen. Und warum? Weil die Werkzeuge und Datenstrukturen katastrophal schlecht sind, weil die Zeit für Recherche und Bildung von Quervernetzungen fehlt und weil die Daten nicht einschätzbar und bewertbar sind - Wissen ist Information und Bewertung. Doch es handelt sich hier immerhin um die mit Milliardenausgaben erzeugten Wissensschätze der Menschheit, die man eigentlich nur heben müsste. Ist es nicht erstaunlich, dass rund die Hälfte der Topwissenschaftler in ihren Topveröffentlichungen Ergebnisse von anderen Topwissenschaftlern nicht verwenden - nur weil sie nicht wissen, dass es diese Ergebnisse überhaupt gibt, oder weil sie nicht zugänglich oder nicht nachvollziehbar beziehungsweise einschätzbar sind? Die Zugänglichkeit hängt aber nur vordergründig an der Technik, sondern in erster Linie an Informationsverarbeitungskapazität und -kompetenz - also Zeit, Philosophie, Bildung, wie zum Beispiel aus dem jahrhundertealten Bibliothekarswesen. Doch dieses Erfahrungswissen hat sich die Informatikbranche, die scheinbar alleinig für Wissensbereitstellung zuständig ist, noch gar nicht angeeignet. Wie sollte sie denn auch - quasi nebenbei! Ähnlich ist es in der Wirtschaft: Es werden jedes Jahr Millionen von langfristigen Investitionsentscheidungen getroffen, ohne dass das Wirtschaftswissen, das jedes Jahr unter Einsatz von Milliarden Dollar erzeugt wird, von den Führungskräften überhaupt genutzt würde.
Der zweite Begriff ist Innovation. Da sind sich alle einig: Es gibt zu wenig davon. Woran liegt das? Warum haben Innovationen es so schwer und innovative Menschen einen so schweren Stand?
Innovative und kreative Leute haben meist eine Macke, das weiß man aus vielen Beispielen der Menschheitsgeschichte. Wenn es um Künstler geht, akzeptiert man das - im Betrieb hingegen bleibt jeder Gspinnerte sozial isoliert. Folglich versucht sich jeder Mensch aus sozialen Gründen einer Gruppe anzuschließen und beginnt, dieser Gruppenmeinung gemäß zu denken und zu handeln. So entstehen selbstreferentielle Zirkel.
Ein einfaches Beispiel: Sie kritisieren den Chef - und können sich gleich einen anderen Job suchen. Der Überbringer der schlechten Nachricht wird bestraft, das ist nichts Neues. Doch die Wirkung solcher Botschaften ist verheerend innovationsfeindlich, denn Menschen glauben an die gelebten Werte, nicht an die verkündeten! Die sind handlungsleitend, nicht die Dampfplauderei! In unsicheren Zeiten, in fortgeschrittenem Alter oder wenn sie Karrierepläne hegen, unterlassen die Menschen Kritik, richten ihr Fähnlein nach dem Wind und geben ausschließlich erwünschte Informationen nach oben. Nur durch Vertrauen und Zugehörigkeit kann man innovationsfreundliche Bedingungen schaffen. Aber die dramatische Abwertung des Anderen - anderen Denkens, anderer Disziplinen, anderer Abteilungen - ist erschreckend und blockiert Innovationen.
Die Informationsflut wächst. Viele Menschen haben Angst, darin unterzugehen. Die Kluft zwischen wachsender Quantität und limitierter Zeit wird immer größer. Haben Sie eine Lösung?
Natürlich habe ich hier, wie alle anderen auch, erhebliche Probleme. Nur löst es das Problem nicht, wenn man die Augen verschließt. Denn es gibt nun mal viele wichtige Informationen und Analogien - auch wenn man wenig Zeit hat. Diese Problematik wird in einer komplexitätsreduktionistischen Sichtweise nicht zu lösen sein. Denn man muss verstehen, was in den jeweils anderen Bereichen gedacht und gefragt wird. Ich propagiere systemische Ansätze, zum Beispiel, indem man Studiengänge und Facharbeiter für Interdisziplinarität etabliert. Hier gibt es schon ernsthafte Bestrebungen an verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen. Es geht darum, Komplexitätsmanagement als Leitvision zu entwickeln.
Damit sind wir bei einem weiteren Stichwort: Komplexität. Komplexität ist ... - was ergänzen Sie?
Komplexität wird oft als Bedrohung gesehen. Doch sie ist Ziel, Errungenschaft, Lösung. Die Entwicklung der Evolution, das Gehirn und natürlich die Technikentwicklung der letzten Jahrhunderte zeigen, dass Komplexität Lösung und Ziel zugleich ist, nicht das Problem. Und vor allem ist sie ein Werkzeug, das eigentlich Informations- oder Bildungskompetenz heißen müsste und mit Zeit und Erfahrung zu tun hat.
Umgang mit Komplexität ist eine der zentralen Herausforderungen heutzutage. Wie wahrt man die Balance zwischen beschränkter Zeit und unbeschränkter Komplexität?
Jeder, der einen qualifizierten Beruf hat, wird zwangsläufig mit lebenslangem Lernen konfrontiert und braucht dazu Werkzeuge. Wissen, Komplexität, Informationsverarbeitungskompetenz sind als Produkte und Werkzeuge nicht (an-)fassbar wie ein Schraubendreher. Also bleibt oft ein schales Gefühl, vor allem bei jenen, die in der tagtäglichen "Mühle" drinstecken und fast flehentlich auf ein Wundermittel hoffen. Nicht umsonst boomen der Simplify-, Esoterik-, Wellness- und Tschaka-Bereich. Insgeheim weiß jeder, dass es dieses Wundermittel nicht gibt. Aber man macht trotzdem weiter, wie gehabt - die Sozialpsychologen nennen das Ergebnis "Durchwurstel-Strategie".
Die Lösung?
Es bedarf der Einsicht, dass man Werkzeuge, Menschen und Methoden aus anderen Disziplinen braucht, um in seiner Arbeit effektiv sein zu können. Wenn die Motivation fehlt, ständig neu zu lernen, dann ist das Scheitern der Komplexitätsbeherrschung vorprogrammiert. Das ist die individuelle Voraussetzung - in der Zusammenarbeit mit anderen braucht es vor allem ein Dolmetschen zwischen den Fachbereichen und den Menschen, die überhaupt nicht mehr wissen oder verstehen, warum andere tun, was sie tun. Und schon gar nicht, welche Auswirkungen das für sie selbst hat. Kurz gesagt: zusammenarbeiten, dolmetschen, Brücken bauen!
Wie kann man das ganz konkret leisten? Wie lässt sich die notwendige Vielfalt der Denk- und Lösungsansätze herstellen?
In der Aufmerksamkeitsökonomie zählt Aufmerksamkeit, also versuchen viele, sich persönlich besser zu vermarkten. Die Frage ist nur: Kann es sich ein Unternehmen - beziehungsweise wir als Gesellschaft - leisten, dass alle Techniker, Naturwissenschaftler und Ingenieure bis zu zwei Drittel ihrer Arbeitszeit in Selbstmarketing und Kommunikation stecken? Die meisten dieser kreativen Geister lehnen im Grunde ihres Herzens dieses Gequatsche und die Zehn-Minuten-PowerPoint-Darstellungs-Wissenschaft leidenschaftlich ab. Es handelt sich ja weder um Kommunikation noch Information noch Didaktik! Außerdem befördert diese Meetingkultur Fehlinformationen nach oben und fördert Gruppendenken. Das ist ein Irrweg! Die Lösung sind interdisziplinäre Dolmetscher und Quervernetzer mit Lebenserfahrung, die außerhalb der Hierarchie-Gockeleien durch Patenschaften von "Jungen Wilden" für Innovation und frischen Wind sorgen.
Ihr Schlusswort?
Wir sollten ein Gespür für die wichtigen Dinge entwickeln. Zum Beispiel, wenn Führungskräfte sagen - und sogar meinen! -, Menschen seien unser wichtigstes Kapital. Dann müssen diese zentralen Werte von Führungskräften vorgeführt und umgesetzt werden. Sonst wird mehr dieses unsichtbaren Sozial-, Beziehungs- und Vertrauenskapitals verbrannt als erzeugt. Im Moment kennt man weder den Wert noch die Rendite dieses Kapitals. Hieran müssen wir arbeiten - schließlich leben wir als Menschen, Unternehmen und als Gesellschaft von den Erträgen.
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
© changeX Partnerforum [26.01.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

changeX 26.01.2005. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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