Kurz vor der Couch
Kurz vor der Wahl - das Depressionsbarometer vor der Berliner Volksbühne misst die Stimmung der Bürger.
Von Anja Dilk
Goethe hat es schon gewusst: Der Teutschen Schwermut ist eine Last. Heute sind wir nicht viel weiter. Das Depressionsbarometer vom Management-Zentrum Witten zeigt: Gemütslage im Keller. Das ist der Langzeitwert. Doch plötzlich, kurz vor der Wahl, fiebert sich Deutschland in ein Stimmungshoch. Die aktuelle Deprikurve fällt. Denn Depressive lieben es, sich an anderen abzureagieren. Wie beim Urnengang. Hurra.
Eine Windböe kriecht unter das blutrote Tuch, es bläht sich auf wie ein Ballon. Die Musik spielt auf. Zwei Männer im Anzug ziehen den flatternden Stoff von dem Plexiglaskasten. Darunter, nackt und ungeschützt, tritt sie ins gleißende Berliner Sonnenlicht: die Befindlichkeit der Nation. Die rote Säule des Barometers in der Mitte des Kastens steht auf 33,7. Es bestimmt keinen Druck, es misst Depression. Die Stimmung des Landes enthüllt: Mittelwert 33,7 Punkte, das ist kurz vor der Couch. Ab 35 muss definitiv der Experte ran, ab 55 droht eine schwere Depression. "Gesunde Bürger in der westlichen Welt haben durchschnittlich 17 Punkte, Menschen mit einer schweren Krankheit erreichen einen Wert bei 33 Punkten", sagt Fritz B. Simon, Facharzt für Psychiatrie und Professor für Führung und Organisation an der Universität Witten/Herdecke. Armes, krankes Deutschland.

Wie depressiv ist Deutschland?


Drei Tage vor der Wahl lud das Management Zentrum Witten der Universität Witten/Herdecke in den grünen Salon der Berliner Volksbühne. Wo sonst die Swinger mit den Beinen schlackern, präsentierten die Erfinder des Depressionsbarometers Deutschlands ihre ersten Ergebnisse. Seit Jahren wird über die Jammer-Republik, Wirtschaftsmisere und deutsches Selbstmitleid schwadroniert. Jetzt wollten die Forscher wissen: Wie depressiv ist Deutschland wirklich? Nicht zuletzt, weil zwar viel erhoben und erfasst wird, doch noch nie die Wechselwirkung zwischen Volkswirtschaft und Volkspsychologie systematisch analysiert wurde. Dabei ist die Bedeutung der Gemütslage kaum zu überschätzen: Sie bestimmt zu einem wesentlichen Teil die wirtschaftliche Lage, entscheidet über Investitionen, Kauflust und Arbeitseifer. Die Gemütslage wird ihrerseits von der wirtschaftlichen Lage beeinflusst. Deshalb sollte ein Depressionsbarometerwert neben dem Geschäftsklimaindex künftig zu den wichtigsten Indikatoren der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik zählen.
77.000 Menschen haben seit Projektstart vor zweieinhalb Monaten an der Online-Umfrage teilgenommen und Auskunft über ihren Seelenzustand gegeben. Dafür mussten sie sieben Fragen aus der klinischen Psychiatrie beantworten. Das Ergebnis: Männer über 60 sind die glücklichsten Deutschen, Frauen über 60 die unglücklichsten. Guten Mutes dagegen sind Frauen zwischen 20 und 30 Jahren. Generell steigt die Stimmung mit höherem Bildungsstand, die Depressionswerte nehmen ab. Und, irgendwo macht Geld eben doch glücklich: je höher das Einkommen, desto geringer der Depriindex.

Eine Art Todstellreflex.


Das Depressionsbarometer wird täglich weitererhoben. Selten ist es so spannend wie jetzt, in den Tagen vor der Wahl. Es sagt einiges über die Funktionsmechanismen von Depressionen, dass es seit einigen Tag bergauf geht. Aktueller Depriwert: 18,1. Fritz B. Simon hat eine Erklärung aus psychiatrischer Sicht: "Depressionen haben etwas mit Zukunftserwartungen zu tun. Man sieht keine Handlungsmöglichkeiten mehr und verharrt, unfähig zu Flucht oder Kampf, in einer Art Todstellreflex." Das beste Mittel gegen Depressionen: Fremdaggression. "Wenn ich jemand anderem eines auswische, geht es mir gleich besser. Und diese Aussicht könnte die depressiven Wähler vor dem Wahlwochenende beflügeln."
Sicher, eine repräsentative Umfrage ist das Depressionsbarometer nicht. Mit 64 Prozent sind überproportional Männer vertreten, 44 Prozent haben Abitur oder einen Hochschulabschluss. Wer nicht die Website www.depressionsbarometer.de selbst kannte, fand über die Online-Auftritte bei n-tv und das Internetportal Lycos dahin. Das ist bereits eine Vorauswahl. Und doch, so Marktforschungsexperte Malte Friedrich-Freska, sei die Menge der ausgewerteten Fragebögen so groß, dass sich zumindest Tendenzen in der Stimmungslage des Landes durchaus ausmachen lassen.

In der Gründerzeit war's schlimmer.


Der Ökonom Stefan Jansen von der Zeppelin-Universität am Bodensee hob hervor, dass Depressionen aus wirtschaftlicher Perspektive nicht nur als Verlust gedeutet werden müssen. Schließlich bringe die Kompensation der Depressionen ganze Branchen zum Erblühen: die Schönheitschirurgie, die Wellnessveranstalter, Therapeuten, Sicherheitsdienstleister. Alles treffliche Antidepressiva. Andererseits: 43 Milliarden Dollar im Jahr gehen laut dem Wissenschaftsmagazin Spektrum der Wissenschaft der US-Ökonomie durch depressive Arbeitnehmer verloren. Und schon jetzt leiden in Europa 37 Millionen Europäer an "beschäftigungsbedingten Depressionen", kein Zufall, dass bei jenen, die noch Arbeit haben, die Fehlzeiten um 52,5 Prozent (Deutschland) gestiegen sind. "Dennoch: Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass wir noch längst nicht die Verzweiflungsstadien wie in Zeiten der schlimmsten Wirtschaftskrisen erreicht haben", sagte Jansen. "1874, nach dem Gründerkrach, als 61 Banken und Hunderte von Fabriken Pleite gingen, rief man nach dem Staat - er sollte eingreifen, um die Zahl der Selbstmorde zu verhindern."

Überfällig: der ambivalente Blick.


Und heute? Muss man sich Sorgen machen? "Manchmal frage ich mich schon, wie wir das schaffen wollen angesichts solcher Werte", sagt Simon. "Wir haben es mit einem kulturellen, sozialpsychologischen Problem großer Ratlosigkeit zu tun. Und sicher waren wir Deutschen schon immer schwermütiger als andere. Aber hinter unserer depressiven Haltung tut sich eine zentrale Frage auf: Wie kommunizieren wir in Deutschland über Deutschland? Wie beobachten wir uns selbst, wenn uns die anderen immer optimistischer sehen, als wir uns selbst? Es geht nicht um 'positive thinking'. Aber wir müssen endlich lernen, ambivalent auf Deutschland zu schauen: auf die guten und die schwierigen Seiten."
Die Stimmungsforschung geht weiter. Abend für Abend um 18 Uhr wird am veritablen Depressionsbarometer vor der Berliner Volksbühne noch bis drei Tage nach der Bundestagswahl die Stimmung verlesen. Vielleicht geht's in Vorfreude auf die Wahl ja weiter bergauf mit dem Volksgemüt. Damit die holländische Schauspielerin Pia Douwes, die in Berlin das Depressionsbarometer enthüllte, nie wieder wird dichten müssen: "Die Depression ist nicht sehr nett, wer depressiv ist, bleibt im Bett; so manches geht in Deutschland schief, weil so viele sind depressiv."

www.mz-witten.de
www.depressionsbarometer.de
www.x-organisationen.de

Anja Dilk ist Redakteurin bei changeX.

© changeX Partnerforum [16.09.2005] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Anja Dilk ist Berliner Korrespondentin, Autorin und Redakteurin bei changeX.

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