Das duale System in der Krise

Alte Ausbildungstraditionen müssen neu überdacht werden, fordern Experten.

Das duale System der beruflichen Ausbildung gilt als bewährtes Modell. Doch heute zerrt der gesellschaftliche Wandel von mehreren Seiten daran. Die schnelle Fortentwicklung der Berufsbilder, die wachsenden Defizite im Bildungswesen und die demographische Entwicklung stellen das duale System vor vollkommen neue Herausforderungen

Am dualen Ausbildungssystem soll nicht gerüttelt werden. Neben dem Kammersystem, der Gesellenprüfung und dem Meisterbrief sei auch die duale Ausbildung "immer noch ein Standortvorteil für Deutschland", sagte Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement unlängst der Süddeutschen Zeitung. Gerade deshalb dürfe man aber "kein Naturschutzgebiet daraus machen", betonte Clement, sondern müsse es "sensibel weiterentwickeln". Klar ist: Der Zweiklang von Betrieb und Schule, das Zusammenwirken von Privatwirtschaft und Staat in der beruflichen Ausbildung soll erhalten bleiben.
Georg Kerschensteiner würde das Statement des Superministers freuen. Der von 1895 bis 1919 amtierende Münchner Stadtschulrat gilt als Vater des dualen Systems der beruflichen Ausbildung. Er war es, der Anfang des 20. Jahrhunderts in München einen neuen praxisorientierten Schultyp einführte, der den Beruf und dessen Erfordernisse in den Mittelpunkt des Unterrichts stellte. Im Schuljahr 1900/1901 wurden in München die ersten Berufsschulen für Metzger, Konditoren, Kaminkehrer, Bader und Friseure eingeführt. Sie wurden zum Vorbild eines neuen, nach Berufsbildern gegliederten Schultyps, der die betriebliche Berufsausbildung ergänzen sollte. Der Begriff duales System ist freilich späteren Datums; er taucht erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre in der Diskussion um das 1969 eingeführte Berufsbildungsgesetz auf. Seither gilt das deutsche System, das der betrieblichen Ausbildung eine staatliche Berufsschule zur Seite stellt, als weltweit vorbildlich und wurde in zahlreiche Länder exportiert.

Hohe Ausbildungsqualität und klare Berufsbilder.


Gleichwohl ebbt die Diskussion um die Berufsausbildung nicht ab. Die Rede von der "Krise des dualen Systems" ist so alt wie das System selbst. In den 70er Jahren stand der Vorwurf der Ausbeutung der Lehrlinge im Mittelpunkt, in den 80er Jahren ging es um Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel, in den 90ern um den Abbau von Ausbildungskapazitäten durch die Wirtschaft. Heute ist die Krisendiskussion vielschichtiger. Der gesellschaftliche Wandel zerrt auch an der dualen Berufsausbildung - von mehreren Seiten. Die schnelle Fortentwicklung der Berufsbilder, die wachsenden Defizite im Bildungswesen und die demographische Entwicklung stellen das bewährte Modell vor vollkommen neue Herausforderungen. Es brennt, und mancher schickt sich an, das duale Bildungssystem zu verlassen.
Die Lux Kultur Agentur ist mit diesen Veränderungen unmittelbar konfrontiert, denn sie berät Unternehmen in Ausbildungsfragen und erstellt Studien zu diesem Themenbereich. Geschäftsführer Gerhard Lux rät dennoch, das duale System nicht über Bord zu werfen. "Ich bin ein Anhänger des dualen Systems und ich bin ein Anhänger der staatlichen Berufsschulen", betont er.
Denn das duale Ausbildungssystem gewährleistet sowohl klare und eindeutige Berufsbilder wie einen einheitlichen Ausbildungsstand und eine gleichbleibende Qualität der Ausbildung. Bundesweit, von Flensburg bis Berchtesgaden. "Wenn ein Betrieb in Bayern einen Kfz-Mechaniker aus Kiel einstellt, dann wissen die, was der kann", betont Lux. Theoretisch zumindest. Faktisch gibt es jedoch deutliche Diskrepanzen, sowohl im Hinblick auf die Betriebe als auch auf die Berufsschulen. Zwischen Groß- und Kleinbetrieben sowie zwischen Stadt und Land klafft mitunter ein tiefer Graben. Zum Beispiel unterhalten Konzerne wie Siemens und BMW eigene Ausbildungszentren und können, bedingt durch die größere Zahl der Auszubildenden eines Jahrgangs, eigene Berufsschulklassen bilden. Kleinere Berufsschulen abseits der großen Städte sind sowohl im Hinblick auf die technische Ausstattung, die finanziellen Möglichkeiten wie auch auf den Ausbildungsstand des - häufig überalterten - Lehrpersonals nicht in der Lage, eine vergleichbare Ausbildungsqualität zu gewährleisten. Und sie sind mit der Einführung neuer Berufsbilder, wie dem Kfz-Mechatroniker oder den IT-Berufen, schlichtweg überfordert. Für Gerhard Lux liegt es auf der Hand: "Wir müssen etwas für die Berufsschulen tun", fordert er. Die Berufsschulen müssten auf ein einheitliches Niveau gebracht werden, das den Anforderungen der Ausbildung in zunehmend anspruchsvollen Berufen entspreche.

Steigende Anforderungen.


Die Berufsbilder wandeln sich rapide, vor allem in den technikorientierten Berufen, wie im Kfz-Gewerbe und der IT-Branche. Handwerkliches Geschick reicht dort meist längst nicht mehr aus, gefragt sind meist auch Computerkenntnisse und analytisches Denken, nicht zuletzt auch kommunikative Kompetenz im Umgang mit dem Kunden. Damit steigen die Anforderungen in der Ausbildung.
Zur gleichen Zeit wächst der Anteil höherer Bildungsabschlüsse unter den Auszubildenden. Ausdruck eines generellen Trends: Seit den Bildungsreformen der 70er Jahre steigt der Anteil höherer Bildungsabschlüsse an den allgemein bildenden Schulen - auf Kosten der Hauptschulen, deren Anteil seither sinkt. Beendeten 1960 noch 75 Prozent ihre Schulausbildung an einer Hauptschule, waren es 1990 nur noch 38 Prozent. Der Trend zur höheren Schulbildung ist ungebrochen. Die Folge: Anspruchsvolle Ausbildungsplätze werden mit Abiturienten besetzt, frei bleibende Kapazitäten beanspruchen die Realschüler. Seit kurzem stellen Hauptschüler erstmals nicht mehr den größten Teil aller Auszubildenden; ihr Anteil betrug im Jahr 2000 nur noch knapp über 40 Prozent gegenüber rund 42 Prozent mit Realschul- und 16 Prozent mit Gymnasialabschluss.

Brotzeit holen ist keine Ausbildung.


Mit dem steigenden Bildungsstand verändert sich auch das Klima in den Betrieben. Dort weht ein anderer Wind, denn die Realschulabsolventen sind ein bis zwei Jahre älter, in der Persönlichkeitsentwicklung weiter fortgeschritten und verfügen über einen höheren Wissensstand als ihre Kollegen von der Hauptschule. Zudem haben sie höhere Erwartungen an die Qualität der Ausbildung - und halten damit nicht hinter dem Berg. So kann es schon mal passieren, dass ein Auszubildender, der zum Aufräumen geschickt wird, mit organisatorischen Verbesserungsvorschlägen zurückkommt, zum Beispiel, wie man Abfall trennen oder Unordnung von Anfang an vermeiden könne. "So etwas sind die Ausbilder, gerade in den kleineren Betrieben, aber nicht gewohnt", sagt Gerhard Lux, der die Unflexibilität vieler Ausbildungsbetriebe kritisiert. Dort sei ein Beharren auf althergebrachten Ausbildungstraditionen festzustellen. Motto: Was in meiner Ausbildung vor 30 Jahren richtig war, kann heute nicht falsch sein. Solche Traditionen müssen aufgebrochen werden, fordert Gerhard Lux. "Die Personalentwicklung beginnt bereits mit dem Ausbildungsverhältnis", betont er, und das bedeute, den Auszubildenden als vollwertigen Mitarbeiter zu nehmen und nicht als Arbeitskraft zweiter Klasse: "Brotzeit holen ist keine Ausbildung." Dazu gehört auch, den Sinn und Zweck einer Tätigkeit zu erklären. "Wenn der Meister nur anschafft, aber nicht erklärt, warum man etwas macht, wird das den heutigen Lehrlingen nicht mehr gerecht", kritisiert Lux. Für den Betrieb rechnet sich das; wer sich mit seiner Arbeit identifiziert, der leistet mehr.
Bei den Auszubildenden vor allem in technischen Berufen kommt eine solche Einstellung nämlich nicht gut an. Denn es wachsen nicht nur die Anforderungen an die Auszubildenden, sondern auch deren Erwartungen an den Ausbildungsbetrieb. Befragungen haben ergeben, dass die Auszubildenden auf die Qualität ihrer Ausbildung und ihres Betriebes großen Wert legen. Am wichtigsten ist ihnen eine gute technische Ausstattung - und dass sie selbst mit diesen technischen Einrichtungen arbeiten dürfen, nicht nur der Geselle oder Meister. An zweiter Stelle rangiert ein gutes Verhältnis zu den Kollegen, gefolgt von dem Erscheinungsbild und Image des Ausbildungsbetriebes. Das Einkommen folgt erst auf dem vierten Platz. Ganz oben auf der Mängelliste stehen eine schlechte technische Ausstattung des Betriebes und eine mangelnde Identifikation mit der Arbeit; reine Hilfstätigkeiten, wie Regale einräumen, sind wenig beliebt.

Rette sich, wer kann.


Indes steigen nicht nur Anforderungen und Erwartungen, auch der Anteil der vorzeitig gelösten Ausbildungsverhältnisse wächst. Und wiederum sind es in erster Linie Hauptschulabsolventen, die vor den steigenden Anforderungen in der Ausbildung kapitulieren und vorzeitig das Handtuch werfen. Überhaupt wird die Hauptschule zum gesellschaftlichen Problemfall. Sie verkommt zusehends zur Restschule; es gilt das Prinzip "rette sich, wer kann": Soweit es irgend geht, versuchen die Eltern ihre Kinder auf die Realschule zu schicken. "Die Hauptschule ist keine leistungsorientierte Schule mehr", kritisiert Lux. Die Gesellschaft müsse sich der Frage stellen, was mit den Schulabgängern geschehen solle, die im heutigen System nicht mehr vermittelbar sind.
Denn in Zukunft wird jeder gebraucht. Ab dem Jahr 2006 wird es eng auf dem Ausbildungsmarkt. In den kommenden drei Jahren verlassen die geburtenstarken Jahrgänge die Schule, danach aber zeigt die demographische Kurve nach unten. Mitte des Jahres 2008 erreicht die Zahl der Schulabgänger wieder den derzeitigen Stand - und fällt dann weiter. Schon jetzt ist absehbar, dass etliche Branchen Schwierigkeiten haben werden, den Bedarf an qualifizierten Auszubildenden zu decken. Auf der anderen Seite gibt es keine Ausbildungsmöglichkeiten für weniger anspruchsvolle Arbeiten. Eine Zukunftsfrage, die erst allmählich ins Bewusstsein drängt. Das duale System ist von mehreren Seiten bedroht. "Das passt nicht mehr zusammen, da ist die Schere aufgegangen", sagt Gerhard Lux. Eine schnelle Lösung ist nicht in Sicht. "Notwendig ist eine umfassende Reform des dualen Bildungssystems."

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