Mehr Selbstorganisation

Wirksame Führung beruht auf Eigenverantwortung und Selbstorganisation
Essay: Olaf Hinz

Das Konzept der hierarchischen Steuerung kommt an seine Grenzen. Der Vorgesetzte ist nicht mehr zeitgemäß: ein veraltetes Rollenmodell. Führung heute baut auf Eigenverantwortung. Sie wird zunehmend kollegial, organisiert in Netzwerken, alternierend, als Team oder in Doppelspitzen. Das Prinzip dahinter: Selbstorganisation. Die Steuerungslogik in komplexen Systemen.

Das Konzept der hierarchischen Steuerung kommt an seine Grenzen: "Führung ist zu wichtig, um sie allein den Führungskräften zu überlassen" - dieses beliebte Bonmot bringt auf den Punkt, wie vielerorts gedacht wird. In vielen Unternehmen werden andere Organisationsmodelle teils wiederentdeckt, teils neu erdacht und erprobt. Dabei stehen die Stärkung der Eigenverantwortung und ein höherer Grad an Selbstorganisation im Zentrum. 

Diese Veränderungsprozesse in Organisationen werden meist unter dem Schlagwort New Work zusammengefasst - ein Begriff, der in der letzten Zeit leider zu einem Sammelcontainer verschiedenster Ansätze und Ideen unterschiedlicher Ausrichtung geworden ist. Dadurch ist das Bild unübersichtlich geworden und die gute Grundidee von New Work nur noch schwer zu erkennen. Am Beispiel des Kernthemas Führung will ich diese Entwicklung noch einmal umreißen, bevor ich dann versuche, mit drei Thesen wieder etwas Ordnung in das Konzept New Work zu bringen. 

Der Weg zu mehr Selbstorganisation ist eng verknüpft mit der expliziten Einigung auf Prinzipien einer "neuen" Führung. Führung ist und bleibt in jeder Transformation immer eine zentrale Funktion. Daher kann es niemanden überraschen, dass im Zuge der großen Veränderungen in Organisationen in Richtung Digitalisierung und New Work auch das Thema Führung einen neuerlichen Wandel erlebt. Auch hier ist das Feld - ähnlich wie bei New Work - unübersichtlich. 

Zwei Aspekte fallen mir besonders auf: 

Erstens: Ein neues Führungsparadigma entsteht. 

Zweitens: Das Wissen über (digitale) Technologien wird Bestandteil des Kompetenzprofils von Führungskräften. 


Vom Ich zum Wir - ein neues Führungsparadigma entsteht


Die wachsende Bedeutung von Eigenverantwortung und Selbstorganisation lässt ein neues Führungsparadigma entstehen, das sich im Slogan "vom Ich zum Wir" zusammenfassen lässt. 

Der frühere Sprachgebrauch "Vorgesetzter" deutet schon an, dass hier jemand vorn ist, der weiß, wie es geht, der Ansagen macht und über den Ressourceneinsatz bestimmt. Lange Zeit haben Patriarchen mit Charakter, Ausstrahlung und der Gabe, eine gesamte Belegschaft zu leiten, Unternehmen von vorn geführt: von der Spitze einer Hierarchie aus. Das klassische Management ist hierarchisch von oben nach unten organisiert und funktioniert, indem das Denken und Entscheiden (oben) von der Ausführung (unten) getrennt wird. Anweisung und Kontrolle stellen sicher, dass das, was getan werden soll, genau so getan wird, wie es vorgedacht wurde. In diesem Top-down-System schaffen Führungskräfte Strukturen und Prozesse mit definierten Anforderungs- und Stellenprofilen für die zugeordneten Mitarbeiter. Die Verantwortung für Strukturen und Prozesse liegt bei der einzelnen Führungskraft. 

Die folgende Grafik stellt dem alten Vorgesetztenmodell das neue Führungsparadigma gegenüber. 

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Angesichts der Möglichkeiten von Selbstorganisation ist die Zeit der einsamen Helden und Alleinherrscher an der Spitze nun definitiv vorbei. Wenn es heute um Führung geht, dann baut diese auf einem Kernpfeiler der Selbstorganisation auf: Jede(r) im Team trägt Verantwortung. Für die Führungsaufgaben bedeutet dies, dass sie oft auf verschiedene Mitarbeitende des Teams verteilt werden. Dies schafft Freiräume und nutzt das bisher brachliegende Potenzial intrinsischer Motivation. Denn:

  • Die Mitarbeitenden in ihrer Qualifikation und Erfahrung handeln eigenverantwortlich.

  • Die Entscheidungswege werden kürzer respektive direkter, weil nicht mehr der "Umweg über die Hierarchie" gemacht wird. Flaschenhälse werden beseitigt oder entstehen erst gar nicht.

  • Die Transparenz erhöht sich. Alle Mitarbeiter können Steuerungsgrößen und Kennzahlen einsehen. In einigen Organisationen gilt das sogar für Gewinne und Gehälter.

  • Mitarbeitende und Teams arbeiten eng am Kunden und Markt und weniger für ihre Abteilung beziehungsweise ihr Silo.

Wirksame Führung wird zunehmend kollegial. Sie wird in Netzwerken, alternierend, als Team oder auch in Doppelspitzen organisiert. Dabei tritt der Dienstleistungscharakter von Führung in den Vordergrund: Entwicklung fördern, mit Fragen führen, Sinn stiften und intrinsische Motivation nutzen. Die folgende Abbildung veranschaulicht das. 

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Das bedeutet, dass sich der Charakter von Führung wandelt. Denn die Aufgabe, die Selbstorganisation an Führung stellt, ist nicht mehr das Durchsetzen von Plänen, sondern das Manövrieren durch unbekanntes Gewässer. Damit wandeln sich auch die Rahmenbedingungen von Führung:

  • Feste Anwesenheit und starre Stellenbeschreibungen werden durch flexible Arbeitszeiten und offene Rollenmodelle ersetzt.

  • Vorgegebene Spielregeln der Zusammenarbeit weichen gruppendynamisch orientierten und offenen Veranstaltungen, in denen die Prinzipien der Selbstorganisation auf Augenhöhe ausgehandelt werden.

  • Klarheit und definierte Ziele, die bisher von Benchmark-Analysen und Best Practices abgeleitet wurden, werden abgelöst durch unterschiedliche Szenarien. Prototypen und schrittweises, auslotendes Vorgehen ersetzen vorgefertigte Pläne.

  • Der bisherige Erfolgsbegriff, der sich vor allem an der Zielerreichung und finanziellen Kennzahlen orientiert hat, wird durch ein breiteres Verständnis von Erfolg abgelöst. Wie sich die Kultur entwickelt, wie die Stimmung ist und wie akzeptiert Führung, wie viele und welche Personen neu in die Organisation kommen und wer das Unternehmen aus welchen Gründen verlässt, rücken in den Fokus von guter Führung.

Dieses breitere Verständnis von Erfolg, das sich auch unter dem Begriff des "kulturellen Vorbildes" zusammenfassen lässt, beinhaltet wohl die größte Herausforderung für Führungskräfte. Nun stehen nicht mehr einzelne Aspekte von Führung im Mittelpunkt, wie das Erreichen der finanziellen Kennzahlen, der bekannten KPIs (Key Performance Indicators). Sondern es geht um Führung als "Gesamtkunstwerk". In tradierten Organisationen unter dem alten Modell von Führung war es möglich und "erlaubt", ein schlechtes Betriebsklima, hohe Fluktuation oder überdurchschnittliche Fehlzeiten vom Tisch zu wischen, wenn das (betriebswirtschaftliche) Ergebnis stimmte. "Aber er erreicht seine Zahlen", hieß es dann über die verantwortliche Führungskraft. Doch dies ist bei hoher Selbstorganisation nicht mehr möglich. Denn hier stehen "nichtfinanzielle KPIs" wie die Fluktuationsquote, das Ergebnis der Mitarbeitendenbefragung wie auch die Bewertung auf Arbeitgeberportalen genauso im Fokus wie sonst nur das Betriebsergebnis oder der Aktienkurs. 


Digitale Kompetenz für digitale Führung


Zu diesem neuen, breiteren Verständnis von Führung als Gesamtkunstwerk kommt noch ein zweiter Aspekt hinzu: die technologische respektive digitale Kompetenz. 

Früher mag es gereicht haben, sich nur für seine Fachaufgabe zu interessieren und die Bürosoftware leidlich bedienen zu können. Ging es dann doch einmal um IT-Themen, formulierte man seine Wünsche in ein Fachkonzept und übersandte es "den Leuten in der IT". Die Fachabteilung bestimmte, und die IT musste folgen. 

Dieser Zusammenhang dreht sich heute um. Geschäftsmodelle und -prozesse können nicht mehr rein fachlich und autonom in einer Abteilung entwickelt und dann "nur noch" technisch umgesetzt werden. Jetzt bestimmt mehr denn je die Technologie, wie die Fachleute ihr Geschäft betreiben. Von Digital Leadern wird daher technologische Kompetenz in den Bereichen künstliche Intelligenz, Automation, Internet of Things erwartet, um nur einige der neuen technologischen Felder zu nennen. 

Die Beratungsorganisation Capgemini hat diesen Zusammenhang in dem Modell der Digital Mastery beschrieben. Wie so oft erscheint auch diese Idee in einer Vier-Felder-Tafel, die vier Reifegrade einer Führungskraft im Zuge einer digitalen Transformation abbildet. Auf der x-Achse sind die Führungsfähigkeiten abgebildet, auf der vertikalen y-Achse die Digitalisierungsfähigkeiten. Hierunter fassen die Capgemini-Autoren nicht nur die technologischen Fähigkeiten, die ich eben aufgezählt habe, sondern auch neue Fähigkeiten, die in der digitalen Welt zum Tragen kommen:

  • die Fähigkeit, bessere Kundenzufriedenheit durch einen akzeptierten, schnellen und einfacheren Technologieeinsatz herzustellen,

  • die Fähigkeit zu einer wirksamen Anpassung von Geschäftsmodellen und

  • die Fähigkeit, Kostenvorteile der Digitalisierung schnell zu nutzen.

Darüber hinaus gehört auch die Fertigkeit, die Mitarbeiterschaft technologisch weiterzubilden, zu den Digitalisierungsfähigkeiten. 

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Sind Führungs- und Digitalisierungsfähigkeit nur gering ausgeprägt, sprechen die Autoren von Anfängern. Anfänger kennen zwar das Thema digitale Transformation, trauen aber der Sache nicht recht. Zwar gibt es an einzelnen Stellen der Organisation kleinere Experimente, aber diese werden kaum oder gar nicht verbunden. Eine Digitalisierungsstrategie sucht man vergebens. 

Das ist bei den Konservativen ganz anders. Hier existiert eine Strategie, und auch der belegbare Wille, sich in eine digitale Transformation zu begeben, ist vorhanden. Allerdings fehlt es an reifen digitalen Produkten und ebenso an einer wirksamen Verbindung von Geschäftsprozessen und digitalen Möglichkeiten. 

Im Quadranten mit geringen Führungs-, aber hohen Digitalisierungsfähigkeiten finden wir die sogenannten Fashionistas. Darunter verstehen die Autoren diejenigen, die zahlreiche ausgereifte digitale Features nutzen. Allerdings geschieht dies meist in begrenzten Räumen oder Silos, aber eben nicht über das ganze Unternehmen hinweg. Fashionistas reden beim Thema digitale Transformation immer über die gleiche Abteilung, denselben "fancy" Hub und dieselben "Leuchttürme", während andere Bereiche des Unternehmens im Schatten der Digitalisierung im Sinne des Wortes liegen bleiben. 

Kommen hohe Fertigkeiten in der Digitalisierung und in der Führung zusammen, sprechen die Autoren von Capgemini von digitalen Meistern. Dort ist die digitale Transformation über die ganze Organisation etabliert und wirksam und zeigt sich positiv in der Gewinn-und-Verlust-Rechnung. 

Kurzum: In jeder Transformation müssen diejenigen, die als Führungskraft wirksam bleiben wollen, ihr Führungsrepertoire erweitern. Führung unter den Bedingungen von New Work und Digitalisierung setzt Rahmenbedingungen, unter denen Selbstorganisation steigen und Agilität gelingen kann. Aber auch das Wissen um grundlegende technische Entwicklungen, die die Digitalisierung hervorbringt, gehört zukünftig zu einer wirksamen Führungskraft. Damit diese Entwicklung trägt, muss aber New Work erwachsen werden. 


New Work muss erwachsen werden


Ich finde, dass New Work ein Meta-Begriff geworden ist, der kaum mehr einen Bezug zu den Ideen seines "Erfinders" Frithjof Bergmann hat. New Work ist zum Container geworden, der mit verschiedenen, als "neu" verstandenen Arbeitsmodellen und -formen gefüllt wird. Dadurch ist der Begriff so aufgeladen, vielfältig, schillernd und zugleich voller Widersprüche, dass die Vorteile, die mehr Selbstorganisation unzweifelhaft hat, immer weniger sichtbar werden. 


Gleichzeitig wird der Anspruch von New Work immer größer: Führungskräfte sollen abgeschafft, Normen wie Tarifvereinbarungen geschliffen und Regeln wie Arbeitszeiterfassung abgeschafft werden. Ich finde, dass die Protagonisten von New Work damit über das Ziel hinausschießen - und in ihrer revolutionären Rhetorik zunehmend naiv wirken. 

Doch gewinnt New Work nicht ganz offensichtlich an Breite und Gestaltungskraft in Unternehmen? Auf der einen Seite stimmt es, dass zunehmend tradierte, große Organisationen zum Beispiel aus der Automobilindustrie, Experimente mit Selbstorganisation wagen. Ebenso auffällig ist aber, dass bisher in keiner dieser großen Organisationen eine umfassende Veränderung zur Selbstorganisation stattgefunden hat. Eher ist eine Doppelstrategie zu beobachten. Die bisherigen Produkte und Verfahren bestehen weiterhin und werden um parallele Strukturen und Formen der Selbstorganisation ergänzt. Dies geschieht vorzugsweise nicht direkt in den bestehenden zentralen Standorten mit den großen Produktionshallen und repräsentativen Büros, sondern in besonderen Hubs an anderen Orten, vorzugsweise in Berlin, Tel Aviv oder Kalifornien. Diese Beobachtung findet ihre Entsprechung in dem Umstand, dass die bisher in einer breiteren Öffentlichkeit berichteten Beispiele von Organisationen, die insgesamt auf selbstorganisierte Strukturen setzen, immer die gleichen sind: W. L. Gore, Zappos, Buurtzorg, FAVI, Semco … 

Kurzum: Es gibt keine Evidenz, dass es der New-Work-Bewegung gelingt, Veränderung auf breiter Ebene anzustoßen. Das liegt vor allem in der Aufladung des Begriffes und der daraus folgenden Unübersichtlichkeit der Konzepte. Dabei liegen die Vorteile eines höheren Grades an Selbstorganisation auf der Hand. Damit sich diese auf breiter Ebene in Organisationen etablieren können, sollten wir drei Argumente nicht aus den Augen verlieren. 


Drei Thesen zu mehr Selbstorganisation


Erstens: Führung wird nicht null! 


 Die Annahme, mehr Selbstorganisation bedeute, dass Führung "null" wird, ist ein grandioser Irrtum. Selbstorganisiert zu arbeiten, bedeutet nicht absolute Freiheit, vollständige Autonomie und die Abwesenheit von Management und Führung. Deshalb muss sich New Work von den Apologeten einer Abschaffung von Führung distanzieren.
Denn überall, wo es dampft und segelt, wo also Arbeitsteilung und Arbeit in Teams stattfinden, braucht es Prinzipien und Personen, die diese Zusammenarbeit organisieren. So gibt es im agilen Betriebssystem (Scrum, Lean, Kanban et cetera) sehr wohl Formen von Planung, definierte Rollen und klare Vereinbarungen.

  • So gibt es in Scrum weiterhin Pläne und Berichte. Es wird kontinuierlich und in kurzen Zyklen geplant und über den Arbeitsstand berichtet (Daily Scrum). Pläne werden nicht abgeschafft, sondern flexibel gehandhabt und gegen Überalterung "immun" gemacht.

  • In Scrum-Teams gibt es drei klare Rollen mit definierten Entscheidungsräumen: Der Product Owner verantwortet das Produkt, das Entwicklungsteam verantwortet den Weg zur Umsetzung und der Scrum Master achtet darauf, dass die (selbst bestimmten) Regeln und Rollen eingehalten werden. Er vermittelt zwischen den beiden anderen Rollen und weiteren Stakeholdern, hat aber selbst keine Entscheidungsgewalt.

  • Für das Team im Scrum-Betriebssystem gilt maximale Transparenz. Es gibt klare Vereinbarungen, wie das Team den Weg zur Umsetzung gestaltet und kontrolliert. Mithilfe von Boards wird visualisiert - und ist so mit einem Blick zu erfassen -, wer mit seiner Aufgabe wo steht, in Sprint Meetings werden Soll und Ist verglichen, und in Review Meetings durchleuchtet das Teams sein Arbeitsverhalten auf Produktivitätsreserven.

Ich finde, dass das System Hierarchie und darin besonders die Verantwortlichkeit für effiziente Steuerung der Organisation (genannt Führungskräfte) ökonomisch sinnvoll sind. Der Bielefelder Professor für Organisationssoziologie Stefan Kühl hält Hierarchie für ein wirksames Koordinationsmodell, wenn Gruppen oder Organisationen die Zahl an Mitgliedern überschreiten, die "an einen Konferenztisch passen". Denn durch die "Verengung der Kommunikation" und die Rolle der Führungskraft sind schnelle Entscheidungen möglich. 

Für mich ist noch ein weiterer Punkt wichtig: Hierarchie ist ein effektives Prinzip zur Konfliktklärung. Gerade in dynamischen Zeiten, wo es immer weniger eindeutige, richtige Lösung gibt, braucht es Führung, die Entscheidungen unter unvollständiger Information und unter Risiko trifft. 


Zweitens: Struktur kommt vor Mindset! 

In Organisationen wirken Strukturen und Prozesse auf individuelles Verhalten. Damit ist niemand ausschließlich persönlich verantwortlich und in seinem Handeln frei. Damit liegt der Fokus auch nicht auf individuellen Lösungen für Einzelne, sondern auf strukturellen Entscheidungen, die Individualität für viele ermöglichen. Struktur kommt vor Psyche, lautet einer der Arbeitsgrundsätze, welche die konkrete Arbeitsumgebung und nicht die psychische Disposition in den Vordergrund stellen. Ein alleiniger Blick auf die Person und ihr Verhalten, das "abgekoppelt" von der Unternehmung passiere, erfüllt die Erwartungen an professionelle Führung nicht. Ich werde nicht so weit gehen wie Reinhard Sprenger, der diesen Zusammenhang gar als "Psychologisierung am Arbeitsplatz, die in weiten Teilen Pathologisierung ist", charakterisiert. 

Aber der Kern bleibt: Führung muss das System als Ganzes im Blick behalten. Sie darf sich nicht mit beiden Augen auf pädagogische und psychologische Aspekte konzentrieren. Ein Auge darauf zu haben, reicht in aller Regel …
Mit diesem Blick auf Organisationen beobachte ich mit Sorge Forderungen aus dem New-Work-Umfeld nach der Entwicklung des "richtigen growing mindset". Ich finde so manchen Protagonisten von New Work im Thema Mindset übergriffig! Hier wird einerseits eine Grenze hin zur Persönlichkeitsentwicklung überschritten. Denn über das eigene Mindset entscheidet jedes Individuum autonom und selbst. Und zum anderen bleibt nahezu völlig im Dunkeln, worin denn die Änderung hin zu einem "richtigen" Mindset bestehen soll. 


Drittens: Nie die betriebswirtschaftliche Logik vergessen! 

Die betriebswirtschaftliche Logik zu beachten, ist ein sinnvolles Vorgehen, um in Organisationen, die am Markt agieren, ankopplungsfähig zu bleiben. Der breitere Erfolgsbegriff, der oben unter dem Stichwort "kulturelles Vorbild" vorgestellt wurde, ergänzt die finanziellen Regeln zur Unternehmensführung, ersetzt sie aber nicht!
Organisationen sind per Definition auf Dauer angelegt und dienen einem Zweck. Veränderung bedeutet immer einen Eingriff in dieses lebendige, hochgradig vernetzte soziale Gefüge mit seinen eingespielten Routinen. Die Energie der zu verändernden Organisation ist dabei sehr oft auf die Aufrechterhaltung der "bewährten" Routineprozesse gerichtet. Denn diese Routinen stellen Sicherheit, Orientierung und Berechenbarkeit sicher - damit die Organisation im Wettbewerb am Markt funktioniert. 


Wer also hier etwas in Richtung Selbstorganisation verändern will, tut gut daran, die grundlegenden Prinzipien der wirtschaftlichen Logik im Blick zu haben. 


New Work darf daher die Steuerungslogik der Gewinn-und-Verlust-Rechnung nicht negieren. Das wäre naiv - und führt fast immer zu Abstoßungsreaktionen in der Organisation. 


Zitate


"Das Konzept der hierarchischen Steuerung kommt an seine Grenzen." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Die wachsende Bedeutung von Eigenverantwortung und Selbstorganisation lässt ein neues Führungsparadigma entstehen, das sich im Slogan ‚vom Ich zum Wir‘ zusammenfassen lässt." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Wenn es heute um Führung geht, dann baut diese auf einem Kernpfeiler der Selbstorganisation auf: Jede(r) im Team trägt Verantwortung." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Wirksame Führung wird zunehmend kollegial. Sie wird in Netzwerken, alternierend, als Team oder auch in Doppelspitzen organisiert." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"In jeder Transformation müssen diejenigen, die als Führungskraft wirksam bleiben wollen, ihr Führungsrepertoire erweitern." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Es gibt keine Evidenz, dass es der New-Work-Bewegung gelingt, Veränderung auf breiter Ebene anzustoßen." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Überall, wo es dampft und segelt, wo also Arbeitsteilung und Arbeit in Teams stattfinden, braucht es Prinzipien und Personen, die diese Zusammenarbeit organisieren." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Führung muss das System als Ganzes im Blick behalten. Sie darf sich nicht auf pädagogische und psychologische Aspekte konzentrieren." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

"Wer etwas in Richtung Selbstorganisation verändern will, tut gut daran, die grundlegenden Prinzipien der wirtschaftlichen Logik im Blick zu haben." Olaf Hinz: Mehr Selbstorganisation

 

changeX 19.02.2021. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Change Maker. Wirksame Veränderungen unter maximaler Unsicherheit. Verlag Franz Vahlen, München 2020, 144 Seiten, 19.80 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6239-5

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Autor

Olaf Hinz
Hinz

Olaf Hinz lotst seit fast 20 Jahren Führungskräfte, Projektleiter und Organisationen im Wandel durch unruhige Gewässer. Als Sachbuchautor und Speaker ist der bekennende Hanseat und ehemalige Büroleiter von Peer Steinbrück gern Impulsgeber auf Fachkonferenzen und Barcamps. In seinem neuen Buch Change Maker beschäftigt er sich mit wirksamer Veränderung unter maximaler Unsicherheit.

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