Den Blick nach vorn

Krise und Hoffnung - ein Essay von Bernhard von Mutius

Wird diesmal alles anders? Die große Frage. Die fast so sehr bewegt wie die, wie lange das alles noch dauert: die Bedrohung durch das Virus, der Ausnahmezustand, die Krise. Das wissen wir nicht, das kann niemand wissen. Dennoch gibt es auch in dieser Situation fundamentaler Ungewissheit Spuren, Zeichen, die einen Weg zurück in die Zukunft weisen. Sie sind noch schwach und flirrend, irritierend wie ein Lichtsignal am Horizont. Aber es gibt sie. Eine Spurensuche.

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In seiner großartigen und eigenartigen, viel zu wenig gelesenen Kulturgeschichte der Neuzeit datiert Egon Friedell die Geburt der Neuzeit auf das Jahr 1348, das Jahr des Ausbruchs der Pest in Europa. Er fügt hinzu: Die Pest sei natürlich nur der Auslöser des Neuen, nicht das Neue selbst gewesen. Aber in der Krankheit hätten die gewaltige Unruhe, die Desorientierung und die Umbrüche dieser Zeit des ausgehenden Mittelalters ihren Ausdruck gefunden. Krankheit könne etwas Produktives sein: "Den Anfang macht meistens ein großes Trauma, ein Choc", so Friedell. 

Ich habe mich in den vergangenen Tagen oft gefragt: Werden wir eines Tages das Jahr 2020 und den Ausbruch der Coronakrise als Geburtsstunde einer neuen Zeit datieren? Und was wäre das Neue, das hier zum Durchbruch kommt? Was das Alte, das hier endet? Mit zerstörerischer Wucht und gleichzeitig schöpferischer Kraft? 

Nein, es gibt jetzt keine verlässlichen Antworten. Schwere Krankheiten und Krisen zeigen uns aufs Schmerzhafteste, wie eng unser Wissen mit dem Nichtwissen verknüpft ist. Das gilt für die Wirtschaft wie für den Patienten. Beides, Wissen und Nichtwissen, erleben wir zurzeit: Wir vertrauen den Experten. Ihr Wissen ist so reich, vielfältig und ausdifferenziert wie nie zuvor in der Geschichte. Und gleichzeitig wissen auch sie nicht, welche Haken das Coronavirus noch schlägt und welchen Verlauf die Fieberkurve der Krise in den kommenden Monaten noch nimmt. 

Mit einem Wort: Wir sind dankbar für die vielen Expertentipps. Aber wir haben keine Ahnung, was noch kommen wird. Wen es als Nächstes trifft. Und: Manchmal werden Dinge möglich, die vorher undenkbar schienen. Zum Beispiel, als am 12. März die ersten chinesischen Hilfslieferungen mit medizinischen Experten und Material im europäischen Kernland Italien eintrafen. War das vielleicht ein historisches Datum und zugleich auch ein symbolischer Akt, der den Durchbruch des asiatischen Zeitalters signalisierte? Auch das wissen wir nicht. 


Was viele jetzt bewegt


Ich habe in den letzten Tagen mit vielen Unternehmern und Unternehmerinnen, Vorständen, Innovationschefs, Personalleitern, Selbständigen und Kreativen gesprochen. Überall habe ich eine offene, sehr pragmatische, sehr lernbereite Haltung wahrgenommen. Der durchgängige Tenor war: Wir haben alle nötigen Notfallmaßnahmen getroffen und treffen jeden Tag weitere. Wir nutzen zugleich die Zeit, um uns selbst, unsere Teams und Organisationen mithilfe der digitalen Instrumente weiterzuentwickeln. Wir wollen uns gut vorbereiten für die Zeit danach. Was wir jetzt tun, wird die Kultur unserer Organisation und des Miteinanders prägen. Da gibt es Selbstvertrauen, große Hilfsbereitschaft, und es überwiegt ein tätiger, kreativer Grundoptimismus. Das ist wohltuend. 

Doch dann gibt es noch eine andere Ebene der Gespräche. Sie spiegelt die sorgenvolle Seite der Entwicklung, die immer mehr die öffentliche Diskussion bestimmt. Eine wirtschaftliche und eine psychologische: Gerade in kleineren oder mittelgroßen mittelständischen Betrieben ist die Existenzangst sehr groß. Auf YouTube sahen Millionen den Hilferuf des Mittelständlers Gerhard Bosselmann: "Sonst wird unser Unternehmen nach sechs bis acht Wochen sterben." Jeder kennt mindestens einen oder eine der Zahllosen, deren Hilferufe nicht dieses Echo hatten. 

Wird diese Angst in den kommenden Wochen zunehmen oder vielleicht überhandnehmen? Das wird davon abhängen, ob wir den kreativen pragmatischen Optimismus durchhalten können. Ob wir die Geduld dafür aufbringen. Und ob wir diese Geduld auch in den hoch emotionalisierten Debatten der kommenden Tage beibehalten. Dies wird wiederum sehr stark davon abhängen, wie wir die Fragen nach dem Danach beantworten: Was kommt am Ende des Tunnels? Was erhoffen wir uns? Und: Sind wir mit unseren Maßnahmen, die wir jetzt ergriffen haben, Teil des Neuen, das danach kommt? Oder vielleicht auch Teil des Alten, das danach wieder in neuer Weise gefragt ist? Also was sind unsere Perspektiven nach der Krise? 

Deshalb auch das große Interesse an geschichtlichen Einordnungen, literarischen Spiegelungen und Deutungsversuchen der Zukunft. Und dieses Interesse hält sich nicht mehr an die alten strikten Einordnungen der Disziplinen (die ja auch in kreativen Organisationen längst ständig unterlaufen werden). Wirtschaft, Gesellschaft, Philosophie, Alltagsgeschichten von Menschen werden heute aufeinander bezogen und vernetzt gedacht: Ein Artikel von Matthias Horx, eine Antwort von Sven Gábor Jánszky, ein Zwischenruf von Joschka Fischer, ein Rückblick von Lisa Nienhaus, ein Essay von Yuval Noah Harari, um nur einige zu nennen - so grundverschieden diese Betrachtungen alle sind: Sie machen die Runde. Sie erfüllen ein vitales Bedürfnis nach Reflexion. Wahrscheinlich auch das noch tiefere Bedürfnis nach Geschichten und Bildern, die uns Mut und Hoffnung machen. 


Schneller lernen - voneinander


Eine der Schwierigkeiten, die wir alle haben mit dieser Mischung aus Krankheit, Schutzmaßnahmen und Krise, ist eben diese Kombination. Sie ist in dieser Form ein historisches Novum. Das macht Berechnungen und Prognosen so schwierig. Und eine angemessene Bewertung der Maßnahmen ebenso. Umso wichtiger ist, dass wir sehr schnell lernen. Schneller als alles, was wir bisher unter Lernen verstanden haben. Und das nicht im Silo unserer Disziplin, sondern in der Zusammenarbeit der Disziplinen: Ökonomen, Psychologen, Mediziner, Unternehmer, IT-Spezialisten, Steuerberater, Philosophen, Praktiker aller Fachbereiche. Mathematiker und Musiker nicht zu vergessen. Der Wirtschaftsweise wird erst dann weise, wenn er sich eingesteht, dass er ohne die anderen Disziplinen nicht weise ist. 

Der europäische Intellektuelle und Universalgelehrte George Steiner erzählt gerne die folgende Geschichte, die ich hier frei wiedergebe: Gott verkündet die Sintflut. Sie komme in zehn Tagen. Der Katholik sagt: Es ist der Wille Gottes. Feiern wir das Abendmahl. Stärken wir unsere Familien. Der Protestant sagt: Jetzt müssen wir unsere Bankkonten ordnen. Und dann beten wir gemeinsam. Der Jude sagt: Zehn Tage? Das reicht, um das Atmen unter Wasser zu lernen. Von den anderen Glaubensgemeinschaften sagt die Geschichte nichts. Sie sagt etwas über uns: Wie viel Zeit haben wir schon vergeudet, nicht zu lernen. Zum Beispiel von Menschen einer anderen Kultur und eines anderen gesellschaftlichen Systems? Aber auch von Menschen anderer wissenschaftlicher Systeme. Und wie schnell sind wir bereit, zu lernen? Sagen wir in den nächsten hundert Tagen? Voneinander? 

Beispiel: Der Shutdown. Für viele lebensrettend. Für viele existenzbedrohend. Wenn es länger anhält, für die Wirtschaft ein Horrorszenario. Erst recht für die sozial Schwächeren. Global, europäisch, national. Ein Dilemma: Starke und zur Not längere Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit sind nach Meinung der medizinischen Experten unbedingt notwendig. Und zugleich führen sie unausweichlich zu dramatischen Negativfolgen für Wirtschaft, Arbeitsplätze, soziale Systeme und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft. 

Das ist der logische Kern der oft erregten Debatten, die sich in diesen Tagen in den verschiedenen Medien abspielen. Ein Dilemma ist ein Widerspruch, der keine einseitige Lösung parat hält: Wir kommen (wenn überhaupt) nur zu einer Lösung, wenn wir nicht für eine der beiden Seiten Partei ergreifen. Wenn wir nicht die eine gegen die andere ausspielen, sondern beide Seiten in ihren Entwicklungen und Wechselwirkungen mit großem Respekt und mit einer experimentellen Offenheit im Auge behalten. Wenn wir bereit sind, vorbehaltlos zu helfen. Und vorurteilslos zu lernen.


Meister des Dilemmas


Ich weiß, das klingt schwierig. Insbesondere wenn in unserer Ausbildung Widersprüche nur als etwas zu Vermeidendes vorkamen. Aber es ist einfacher, als im Wasser zu atmen. Und gerade hier könnten andere Disziplinen von Ökonomen lernen. Insbesondere von dem kürzlich verstorbenen Harvard-Ökonomen und Innovationsforscher Clayton M. Christensen. 

Die Entwicklung der Virusepidemie ähnelt in verblüffender Weise seiner Modellierung disruptiver Entwicklungen, die sich etwas vereinfachend so beschreiben lässt: Anfangs kaum beachtet oder nicht ernst genommen. Zu klein und unbedeutend, so scheint es. Dann beginnen mehr und mehr Menschen plötzlich die steile, exponentielle Wachstumskurve zu registrieren, und es werden "fieberhaft" Abwehrmaßnahmen ersonnen und in Experimenten ausprobiert: Was funktioniert am besten? Doch nun geraten alle Akteure in einen inneren Konflikt, in ein echtes Dilemma. Christensen nennt es das Innovator's Dilemma. Man kann es mit Fug und Recht heute auch das Corona-Dilemma nennen. Wer sich zu sehr auf die Abwehr der Gefahr konzentriert, um heute Leben zu retten, unterbindet und zerstört künftiges Leben. Wer sich zu sehr auf die Entfaltung des Neuen fokussiert, um zukünftiges Leben zu ermöglichen, gefährdet heute die Existenz vieler. 

Ein möglicher, halbwegs passabler Ausweg aus diesem Dilemma, den einige Experten vermutlich sehen, ist zurzeit noch verbaut: Wenn alle Gesichtsmasken tragen würden (und natürlich die Abstandsregeln einhalten), wäre das auch eine Art Unterbindung des physischen Kontakts. Und die Menschen könnten sich weiter begegnen. Einige asiatische Länder machen vor, dass dies funktioniert. Das setzt aber voraus, dass rechtzeitig Vorsorge für die Versorgung getroffen wurde. Zum Beispiel mit Schutzmasken, und zwar für die gesamte Bevölkerung. Das ist hierzulande offensichtlich nicht der Fall, ebenso wenig die Versorgung vieler Kliniken mit dem Notwendigen. "Jetzt wird man ohne weiteres zugeben, dass unsere Mitbürger in keiner Weise auf die Ereignisse vorbereitet waren, die sich im Frühling dieses Jahres abspielen." Albert Camus in Die Pest. 

Also schneller lernen. Von anderen lernen. Positiv gesprochen: Wir hören dem anderen zu. Schaffen wir das in zehn Tagen? Oder in hundert Tagen? Das wäre das Minimum.


Ausnahmezustand - und der Weg hinaus


Viele Diskussionen dieser Tage kreisen um die Frage nach dem Ausnahmezustand. Manchmal klingt die dunkle Bemerkung von Carl Schmitt an: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet." Ich denke, sie muss heute neu gefasst werden. Pragmatischer und rationaler. In zwei Schritten: Souverän ist, wer im Ausnahmezustand gute Entscheidungen trifft. Insbesondere in Dilemmasituationen. Und: Souverän ist, wer im Ausnahmezustand einen Weg hinausweisen kann. Wer das Licht am Ende des Tunnels erkennen, in einem Bild beschreiben und in eine Geschichte fassen kann. Eine ökonomische, eine soziale und natürlich eine nachhaltige. Dazu kommen wir noch. Vor allem eine realistische Geschichte, die den Druck im Tunnel aushält und möglichen Katastrophen gewachsen ist. "Das Katastrophale zerschmettert alles", wie Cornel West, Professor für afroamerikanische Studien an der Universität Princeton, sagt. 

Hält unsere Geschichte der Zukunft dem stand? Ist sie widerstandsfähig? Ohne dass wir uns als Erzähler der Geschichte zu stark und zu sicher fühlen? Die derzeitige Krise, sagte Papst Franziskus neulich, lege die Verwundbarkeit der Menschen bloß und decke falsche Gewissheiten auf. Wie beispielsweise den Glauben, stark zu sein, alles zu können. Was also in den kommenden Wochen und Monaten gebraucht wird, ist eine positive, realistische Vorstellung für die Zeit danach. Eine Vorstellung, die keine falschen Gewissheiten verbreitet. Und die gerade deshalb Mut macht. Basierend auf den realen Entwicklungen und Erfahrungen, die viele generationsübergreifend in dieser Zeit gemacht haben und noch machen werden. Was könnte diese sein? 


Was ist unser Zukunftsbild?


Ich glaube, ja ich bin überzeugt, dass nach der Krise einiges anders sein wird. Vielleicht grundlegend. Denn diese Zeit ist im übertragenen Sinn eine Inkubationszeit. Da bricht gerade viel aus und auf - in überraschend vielfältigen Formen. Neues, aber auch manches, was schon vorher bekannt war, wenn es auch klein und unbedeutend schien. Jetzt bekommt dies einen enormen Schub. "Wenn wir diese Krise überwinden, wird die Welt eine andere sein", sagt der BlackRock-Chef Larry Fink in einem Brief aus dem Homeoffice an seine Aktionäre von Ende März 2020. Langfristiges, nachhaltiges Denken sei gerade jetzt wichtig. Es gelte, "die Augen nicht auf den wackeligen Boden unter uns, sondern auf den Horizont vor uns richten". 

Was ist also unser Zukunftsbild? Manche sagen: Es ist die Digitalisierung. Ist sie es? Sicher auch. Die digitale Transformation ist ein wesentliches Element dieses Bildes. YouTube, Cloud, Plattformen, Big und Smart Data, Video Conferencing und Collaboration Tools, also Zoom, Slack et cetera, sind unverzichtbar - für die Organisation des Alltags und für den Alltag unserer Organisationen. Das spüren alle. Ohne sie wird nichts mehr gehen. Und jeder kann lernen, diese Werkzeuge zu gebrauchen. Doch das ist nicht alles. 

Wir beobachten in diesen Tagen zugleich eine ungeheure, geradezu explosionsartige Entfaltung der menschlichen Kreativität. Überall. In Schulen, in Nachbarschaften, in Stadtvierteln, in Unternehmen, in Orchestern, in Kliniken, in Behörden. All das natürlich mithilfe der digitalen Tools. Aber eben von Menschen schöpferisch, selbständig und mündig erdacht und gemacht. Bis hin zu den Masken, die jetzt überall genäht werden. Die Gesichtsmaske als Signum unserer Zeit: Wir Kinder von Maske, Zoom und Corona. Generationsübergreifend. 


Der Homo creativus


Die ungeheure Entfaltung der menschlichen, kooperativen Kreativität ist Teil eines umfassenderen Wandels, der kreativen Revolution. Sie ist schon länger im Gang, erfährt aber heute im Zeichen der Coronakrise eine unglaubliche Beschleunigung und Intensivierung. Die Vielfalt von Schnittmustern und Nähanleitungen für Schutzmasken ist dabei nur Ausdruck einer Kreativität, die zum Kennzeichen für den Umgang mit dieser Krise geworden ist. Und diese aufblühende Kreativität ist eine Erfahrung, die künftig nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Das ist vermutlich, wenn ich die Hypothese wagen kann, ein historischer Vorgang mit einer neuen gesellschaftlichen Qualität. Vergleichbar mit der Herausbildung des selbstbewussten Bürgers in der Renaissance. Der kreative Bürger und Wissensgestalter, der Homo creativus, um eine Wendung von Richard Florida aufzugreifen, hat endgültig die Bühne der Zeit erobert. 

Anders gesagt: Digitalität und Kreativität gehen Hand in Hand. Wer sie trennt, wird kein stimmiges Zukunftsbild zeichnen können. Menschliche Kreativität ohne digitale Kompetenz ist blind, digitale Kompetenz ohne menschliche Kreativität ist leer. Das sage ich voller Bewunderung für die vielen neuen digitalen Instrumente, die erfunden wurden, damit wir mehr sehen - und besser gesehen werden können. 

Es wird über unsere Zukunft entscheiden, ob wir uns dieser neuen Dimension der menschlichen Kreativität bewusst sind und uns an sie erinnern, wenn der Ausnahmezustand länger anhalten sollte. Denn die Digitalisierung hält wie ein zweischneidiges Schwert noch eine andere wichtige Entwicklungsmöglichkeit parat. Manche halten sie sogar für die dominante dieser historischen Periode: die technologische Möglichkeit der Kontrolle und Überwachung jedes Einzelnen. Kontrollüberschuss nennen es Systemtheoretiker. Es gibt keinen geeigneteren Moment, diese Hypothese zu testen, als den Ausnahmezustand.


Welche Kontrolle wollen wir?


Sich diese Entwicklungsmöglichkeiten bewusst zu machen, könnte in den kommenden Monaten von größter Bedeutung werden, wenn wirklich folgenschwere Entscheidungen zu treffen sind: "In this time of crisis, we face two particularly important choices. The first is between totalitarian surveillance and citizen empowerment. The second is between nationalist isolation and global solidarity", so hat es Yuval Noah Harari drastisch ausgedrückt. 

Das ist natürlich eine rhetorische Zuspitzung. Ich glaube zudem, dass der Ausnahmezustand gar keine andere Wahl lässt, als digitale Kontrollmöglichkeiten noch stärker zu nutzen. Die neue europäische App, die jetzt getestet wird, weist in diese Richtung. Wir sollten uns nur dabei - und bei allen künftigen Vorschlägen zur Eindämmung ungesunder Bewegungen der Bürger - an die neue Qualität einer mündigen, aufgeklärten Kreativität erinnern, die eine zutiefst demokratische ist. Die Wissensteilung, Empathie und Solidarität umfasst. Denn wie sich an einigen asiatischen Staaten sehen lässt, die in der Bekämpfung des Coronavirus bislang gut abgeschnitten haben: Digitalisierung geht auch ohne demokratische Kontrolle. Nur mit Kontrolle. Vom Wohlfahrtsstaat zum Vorsorgestaat und vom Vorsorgestaat zum autoritären Staat sind es nur winzige Schritte.


Wie weiter?


Deshalb ist es so wichtig, dass wir überall in Unternehmen, in Verbänden, in Familien, in Schulen und in der Politik die kommenden Monate auch dazu nutzen, um eine Diskussion darüber zu führen: "Wie sieht unser eigenes Zukunftsbild aus? Ich sage auch nutzen, denn natürlich haben die aktuellen Schutz- und Abwehrmaßnahmen aller Art die höchste Priorität. Doch in einer Zeit, in der überall Arbeitsabläufe neu strukturiert werden, sollte sich ein Fenster finden, durch das wir einen Blick nach vorne werfen. 

Ein solches Bild vor Augen zu haben, macht die tatsächlichen Gründe, die bei den Menschen zu Verunsicherung und Ängsten führen, nicht kleiner. Aber es macht vielleicht den Raum der Zuversicht größer. Denn Gründe können Abgründe sein. Wie es der Extrembergsteiger Rainer Petek einmal nach einem ungeplanten Biwak in den eisigen Grandes Jorasses beschrieben hat: Der Blick in den Abgrund, wenn man in der Wand ins Stocken geraten ist, kann die Ängste verstärken. Macht man sich aber klar, dass der Abgrund die Strecke ist, die man schon geschafft hat, kann man die Sache drehen, wieder nach vorn schauen und die kommende Strecke ins Auge fassen. Eine gute Metapher: Wir machen uns klar, was wir schon erreicht, gemacht und gelernt haben. Wir fassen Mut und richten unseren Blick nach vorn und entdecken möglicherweise neue Gelegenheiten, die wir bisher nicht wahrgenommen haben. 

Es kann auch helfen, unsere gedanklichen und emotionalen Abläufe besser zu strukturieren. Ganz ähnlich wie es die Kollegen aus der Raumfahrt und die Kolleginnen aus der Psychologie jedem von uns mit Blick auf die Routinen des Alltages in den letzten Wochen ans Herz gelegt haben. 

Das gilt insbesondere, wenn wir den Blick nach vorn mit der pragmatischen Haltung verbinden, über die ich eingangs gesprochen habe. Und die überall anzutreffen ist: Was ergeben sich daraus für konkrete Maßnahmen, die wir in den kommenden Wochen in die Strukturen des Alltages einbauen wollen? Des individuellen wie des organisationalen? Natürlich mit nachrangiger Priorität gegenüber den dringenderen Schutz- und Sicherungsmaßnahmen im Notfallmodus. Aber alle Unternehmen, alle Selbständigen und Kreativen wissen, dass man gerade in der Not erfinderisch sein muss. Das ist ja gerade der Kern des Zukunftsbildes. Unternehmen gewinnen im Abschwung, heißt eine alte Weisheit. Sie fangen an, das Gegenteil von dem, was jetzt passiert, für künftig möglich zu halten. Und daraus Handlungen abzuleiten. 


Vier Handlungsfelder


Ich sehe vor allem vier Handlungsfelder: 

Erstens lernen: Viele Organisationen stellen jetzt ihre Projekte auf den Prüfstand. Warum nicht auch ihre Lernziele und Inhalte? Vor allem Themen und Projekte, die mit den digitalen und mit den kreativen Kompetenzen, mit vernetztem Denken und kooperativem Verhalten, mit der Kultur der Organisation und mit der Stärkung von Menschen zu tun haben, sollten jetzt intensiviert werden. Natürlich ressourcenschonend. Und überlegen wir mal, ob es nicht gerade jetzt für uns und unsere Organisation der richtige Zeitpunkt ist, etwas ganz Neues zu lernen - eine neue Sprache, Fähigkeit oder Haltung. Vielleicht ist es die Sprache des Widerspruchs? Die Fähigkeit, aus Widrigkeiten etwas Wertvolles zu machen? Die Haltung der Souveränität in Dilemmasituationen? Ein Beispiel: Wenn jemand 2015 auf dem Höhepunkt des Dieselskandals gesagt hätte, dass VW bald auf dem US-Markt zum Herausforderer von Tesla werden könnte, hätten viele das vermutlich für ausgeschlossen gehalten. Tatsächlich wurde diese Krise zu einer großen Chance für das Wolfsburger Unternehmen. Eine Strafe der US-Regierung war der Auslöser. Heute treibt VW mit der US-Tochter Electrify America den Aufbau eines Ladesäulen-Netzwerkes für Elektroautos in den USA voran. Mit Ladesäulen für Fahrzeuge aller Marken. 

Zweitens cross: Das "Think Cross", das kooperative und kollaborative Zusammenarbeiten und Vernetzen über Grenzen hinweg - mit anderen Disziplinen, anderen Bereichen, anderen Branchen, anderen Regionen und Kulturen - wird zum neuen Gebot für alle kreativ, digital, forschend, produzierend, verkaufend oder heilend Arbeitenden. Wenn es denkbar ist, dass Bosch im Medizinsektor innovativ erfolgreich ist und hilft, Menschenleben zu retten, wenn Automobilhersteller mittels 3-D-Druck dazu beitragen können, dass mehr Beatmungsgeräte auf den Markt kommen, sollte das im positiven Sinne ansteckend wirken. Gerade im Mittelstand wird in Zukunft die branchenübergreifende Kooperation und Vernetzung, das "Cross Industry", also voneinander zu lernen und gemeinsam Innovationen zu entwickeln, ein elementarer Baustein der Zukunftsfähigkeit sein. Beispiel: Trumpf in Ditzingen hat zusammen mit Zeiss und ASML - also in einem industriellen Cross-over zwischen Maschinenbau, Lasertechnik und Optik - ein Lasersystem entwickelt, das mithilfe von EUV-Lithografie Chips belichtet und eine bislang nicht für möglich gehaltene Auflösung erreicht. Eine bahnbrechende Cross-Industry-Innovation. 

Drittens innovativ: Jetzt ist die richtige Zeit, das bisherige Innovationsverständnis der Organisation auf den Prüfstand zu stellen. Nutzen Unternehmen die Kreativität ihrer Mitarbeiter, die sich in diesen Wochen in fast allen Bereichen, in der Mediennutzung, in der Familie, in Schulen, in der Beschaffung et cetera so eindrucksvoll gezeigt hat, auch für die Neuaufstellung der eigenen Organisation für die Zeit danach? Stellen sie sich die Frage: Welchen Stellenwert hat das Thema Innovation, nachdem alles getan wurde, um die Kosten runterzufahren und die lebensnotwendige alltägliche Kommunikation mit Mitarbeitern und Kunden aufrechtzuerhalten? Rückt Innovation jetzt ins Zentrum? Überprüfen wir, ob vieles, was bisher an Start-ups ausgelagert wurde, stärker in die Kernmannschaft geholt werden kann? Suchen wir Freiwillige, die bereit sind, sich auf radikale und nachhaltige Innovationen einzulassen? Was ist das "Social Street" für unsere Organisation? Wie können wir lernen, selbst disruptiv zu sein? 

Viertens nachhaltig: Jetzt ist die Zeit, das Thema Nachhaltigkeit neu zu sichten: War das, was wir bisher unternommen haben, wirklich nachhaltig? Oder eher nur der Versuch, Effizienzpotenziale zu heben? Was nicht verkehrt ist, nur ziemlich einseitig. Und wenn Effizienz: Wie steht es künftig um unsere Wertschöpfungsketten? Was können wir mehr regional organisieren? Nicht nur im Medizin- und Pharmabereich. Wie können wir dabei branchenübergreifend nicht nur Effizienzpotenziale, sondern auch Innovationspotenziale heben? Wollen wir da nicht genauer hinschauen? Genauer hinschauen kann zum Beispiel für Mittelständler bedeuten, spätestens jetzt (sofern das nicht längst passiert ist) wirksame Klimaschutzlösungen aufzusetzen und eine Nachhaltigkeitsbewertung durchzuführen. Und dabei zu schauen, wie es andere machen, die hier Vorreiter sind. Viessmann zum Beispiel, Innovationsführer in Sachen Heizung, produziert schon heute CO2-neutral; oder das Netzwerk Fair'n Green, das ein Siegel für Nachhaltigkeit im Weinbau etabliert. Innovation und Nachhaltigkeit werden zusammengehören. Jetzt können wir neue Standards setzen, die künftig ganze Branchen revolutionieren. Hinschauen heißt auch: insgesamt achtsamer werden. Das gehört zur Kultur der kreativen Zusammenarbeit: schöpferisch für unser Tun und unsere Umwelt Verantwortung übernehmen. Greta würde fragen: Wenn ihr jetzt so schnell handeln könnt, um heute euer Leben zu retten - warum könnt ihr das nicht auch, um morgen das Leben künftiger Generationen zu retten? 

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Zitate


"Umso wichtiger ist, dass wir sehr schnell lernen. Schneller als alles, was wir bisher unter Lernen verstanden haben. Und das nicht im Silo unserer Disziplin, sondern in der Zusammenarbeit der Disziplinen." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Was in den kommenden Wochen und Monaten gebraucht wird, ist eine positive, realistische Vorstellung für die Zeit danach. Eine Vorstellung, die keine falschen Gewissheiten verbreitet. Und die gerade deshalb Mut macht." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Wir beobachten in diesen Tagen zugleich eine ungeheure, geradezu explosionsartige Entfaltung der menschlichen Kreativität. Überall." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Diese aufblühende Kreativität ist eine Erfahrung, die künftig nicht mehr rückgängig gemacht werden kann." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Digitalität und Kreativität gehen Hand in Hand. Wer sie trennt, wird kein stimmiges Zukunftsbild zeichnen können. Menschliche Kreativität ohne digitale Kompetenz ist blind, digitale Kompetenz ohne menschliche Kreativität ist leer." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Wie können wir lernen, selbst disruptiv zu sein?" Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

"Innovation und Nachhaltigkeit werden zusammengehören. Jetzt können wir neue Standards setzen, die künftig ganze Branchen revolutionieren." Bernhard von Mutius: Den Blick nach vorn

 

changeX 08.04.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Bernhard von Mutius
Mutius

Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler

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