Vom Ich zum intelligenten Wir

Die Idee einer neuen Aufklärung
Von Bernhard von Mutius

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen – und des der anderen. Das könnte das Leitmotiv einer neuen Aufklärung sein. Einer Aufklärung, die eine Wendung vom Ich zum intelligenten Wir vollzieht. Einer Aufklärung, die auf einem neuen Denken und einem erweiterten Verständnis von Rationalität gründet. Diese Idee umreißt Bernhard von Mutius in einem kurzen Essay. Dieser Text bildet den Auftakt zu einer Folge von Gesprächen, die von dieser Idee einer neuen Aufklärung handeln. Es sind Bruchstücke. Kleine Partikel einer Flaschenpost aus dieser Umbruchszeit.

Dies ist eine Zeit der zu Ende gehenden Gewissheiten und der Ratlosigkeit. Es ist aber auch der Anfang eines neuen Fragens, eines anderen Umgangs mit unserem Wissen und Nichtwissen und des gemeinsamen Herausfindens im Gespräch. 

Dies ist eine Zeit der Unmoral und der Verwirrung über die Bedingungen der Möglichkeit von Freiheit. Es ist aber auch eine Zeit der Neubesinnung und der bewussten Übernahme von Verantwortung. 

Dies ist eine Zeit selbstsüchtiger Individuen und Systeme. Es ist aber auch die Zeit einer Suche nach Sinn, nach Nachhaltigkeit und neuen kooperativen Formen: vom Ich zum intelligenten Wir. 

Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise vor gut zehn Jahren, von der viele sagten, sie sei die größte der Nachkriegsgeschichte, und deren Nachwirkungen wir noch spüren, war eine Krise unseres Wissens und Denkens: Das Wissen, das Macht schien und glaubte, keine Schranken zu kennen, ist an seine Grenzen gestoßen. Das Denken, das pure Berechnung war und wähnte, alles reduzieren, trivialisieren und in schlichte Formeln fassen zu können, ist über das Unberechenbare komplexer Entwicklungen und über seine eigenen, berechnenden Emotionen gestolpert. 

Die vielgestaltige ökologische Krise, die mit dem Wort Klimawandel nur unzureichend beschrieben wird, die auf der planmäßigen und gezielten Nutzbarmachung der natürlichen Reichtümer, der Schätze des Bodens, der Flüsse und der Meere beruht, war und ist eine Krise unseres Wissens und Denkens: Das Wissen, das sich einst die Natur als Vorbild nahm, um den Dingen auf den Grund zu gehen, hat kein Bild, keinen Maßstab mehr, an dem es sich orientieren könnte. Das Denken, das die materiellen Grundlagen unseres Lebens sichern wollte, hat eben diesen immer mehr zerstört. 

Die Coronakrise schließlich zeigt uns aufs Schmerzhafteste, wie eng unser Wissen mit dem Nichtwissen verknüpft ist. Das Wissen der Experten ist so reich, vielfältig und ausdifferenziert wie nie zuvor in der Geschichte. Aber auch sie wissen nicht, welchen Verlauf die Fieberkurve der Krise nimmt. Mit einem Wort: Wir haben keine Ahnung, was noch kommen wird. 

So sieht sich die Logik des berechnenden Fortschritts immer wieder auf breiter Front mit der Logik ihres eigenen Misslingens im Gelingen konfrontiert. Es ist eine Logik von Missverhältnissen: Eine beschränkte Rationalität vereint mit einer unbeschränkten Anmaßung der Rationalität, das Buhlen um Aufmerksamkeit für die eigenen Belange und gleichzeitig mangelnde Achtsamkeit gegenüber der Mitwelt, Umwelt und Nachwelt. Und wir fragen uns: Wie ist Veränderung, wie ist Aufklärung heute möglich? 

Eine Antwort ist zunächst: Nein, es gibt keine Instanz, die wir anrufen könnten, um eine neue Aufklärung in Gang zu setzen. Dies müssen wir schon selbst tun. Wir ahnen, dass wir es anders tun müssten als bisher. Damit ist schon gesagt, dass eine neue Aufklärung nicht einfach eine Fortführung der früheren sein kann. 

Diese neue Aufklärung geht von alltäglichen praktischen Beobachtungen aus: Etwas ist unklar geworden, das vordem klar war. Und das, obgleich die Scheinwerfer darauf gerichtet sind und diejenigen, die sie handhaben, stolz darauf sind, diese und andere Präzisionswerkzeuge zu besitzen und sie mit größter Perfektion bedienen zu können. Das, was unklar geworden ist und einer neuen Klärung bedarf, ist nichts Geringes, und es ist auch nichts Einmaliges, möglicherweise Zufälliges. Vielmehr zeigt es sich in lebenswichtigen Bereichen, und zwar zum wiederholten Male. 

Berechnung ist das Leitmotiv der modernen westlichen Industriegesellschaften geworden. Doch wir spüren, dass trotz aller Berechnungen die Welt unberechenbarer geworden ist. Während wir uns an die große Zahl, an Rekordsummen und an Steigerungsraten in allen Lebenslagen klammern, entgleitet uns jegliches Maß. Wir bauen darauf, dass alles wächst, und merken doch, wie vieles schwindet, das wirklich von Wert ist. Und wir fragen: "Warum?" 

Hier setzt die neue Aufklärung ein: Sie will verstehen. Sie will klären. Sie sucht nach größerer Klarheit. 

Die neue Aufklärung ist anders. Sie ist eine Aufklärung der Fragen. Und dies nicht aus didaktischen Gründen, nicht aufgrund taktischer Erwägungen und schon gar nicht in inquisitorischer Absicht, sondern weil es ihr Wesenszug ist, Fragen zu stellen. 

Sie sagt nicht: "So ist es! Ich habe es berechnet." Sie behauptet auch nicht: "Ich weiß es. Du musst mir glauben!" Und keineswegs erklärt sie, die Maximierung von irgendetwas sei ein besonders erstrebenswertes Ziel. Nichts von alledem. 

Sie fragt: "Ist es so?" Sie lädt andere dazu ein, Wissen zu teilen. 

Sie experimentiert. Sie sucht. Und manchmal, in wenigen glücklichen Augenblicken, glaubt sie, im Instabilen eine vorübergehende Stabilität, eine Form der Balance zu entdecken, und sagt: "So könnte es gehen!" 

Die neue Aufklärung, von der in diesem Gespräch die Rede sein wird, ist nötig, weil unsere Vorstellungen von Verstand, Wissenschaft und Vernunft einer neuen Klärung und einer Erweiterung des Blickfeldes bedürfen: Wir brauchen ein anderes Denken und ein erweitertes Verständnis von Rationalität. 

Sie ist nötig, weil wir uns in grundsätzlich neuer Weise nicht nur um die erneuerbaren materiellen, sondern auch um die erneuerbaren immateriellen Ressourcen der Menschheit zu kümmern haben: Wir brauchen eine neue Stellung des Lebens, des Geistigen und des Sozialen. 

Sie ist nötig, weil wir eine andere, demütigere Haltung gegenüber unserem eigenen Wissen benötigen. 

Die neue Aufklärung rät erstens, die Selbstgewissheit zu überwinden, die in einer Welt zunehmender Komplexität und Ungewissheit immer unangebrachter wird. 

Die neue Aufklärung fragt zweitens: "Wer kann uns helfen, unsere Sicht der Dinge zu ergänzen? Wie können wir andere jenseits der Grenze unseres Gebietes einbeziehen in die Lösung von Problemen? Wie kommen wir ohne Preisgabe der Individualität vom Ich zum intelligenten Wir?" 

Die neue Aufklärung stellt drittens die einseitige Ausrichtung auf die große Zahl infrage. Sie hält das bisherige Wachstumsdenken für eine Falle und empfiehlt jenseits von Masse und Mengengerüsten eine Suche nach Maß. Sie hält Balance für wichtiger als jedwede Steigerung. Sie plädiert für eine Wiederentdeckung der Poesie in der Poiesis, für eine Wiedergewinnung von Schönheit, des Klangs, der Form und der Freundlichkeit. 

Die neue Aufklärung ist also eine Aufklärung des Nichtwissens im Wissen, eine Aufklärung des Dialoges und der Kooperation und eine Aufklärung des neu zu bildenden Maßes und der wiederzugewinnenden Form. Das ist der Dreiklang der neuen Aufklärung. Oder, wenn wir es uns visuell vorstellen wollen: Das sind die drei Felder, die es zu bestellen, also zu pflegen, zu kultivieren und fruchtbar zu machen gilt. Womit bereits angedeutet ist, dass Aufklärung, Bildung und Kultur, wie schon Moses Mendelssohn wusste, untrennbar zusammengehören. 


Zitate


"Wir spüren, dass trotz aller Berechnungen die Welt unberechenbarer geworden ist." Bernhard von Mutius: Vom Ich zum intelligenten Wir

"Wir haben keine Ahnung, was noch kommen wird." Bernhard von Mutius: Vom Ich zum intelligenten Wir

"Wir erfahren eine Krise unseres Wissens und Denkens." Bernhard von Mutius: Vom Ich zum intelligenten Wir

"Wir brauchen ein anderes Denken und ein erweitertes Verständnis von Rationalität." Bernhard von Mutius: Vom Ich zum intelligenten Wir

"Wir benötigen eine andere, demütigere Haltung gegenüber unserem eigenen Wissen. Wir brauchen die Wendung vom Ich zum intelligenten Wir." Bernhard von Mutius: Eine neue Aufklärung

 

changeX 22.12.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Bernhard von Mutius
Mutius

Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler

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