Aus den Fugen?

Eine neue Aufklärung - Folge 4 des Gesprächs
Von Bernhard von Mutius und Winfried Kretschmer

Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen - und des der anderen. Das könnte das Leitmotiv einer neuen Aufklärung sein, die auf einem neuen Denken und einem erweiterten Verständnis von Rationalität gründet. Die Koordinaten dieses neuen Denkens beschreibt Bernhard von Mutius in unserem Gespräch. In Folge vier geht es um den Versuch einer Standortbestimmung in einer Welt, die aus den Fugen zu geraten scheint. Was indes keine ganz neue Erfahrung ist.

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Nachdem die ersten drei Gesprächsschleifen versucht haben, die Koordinaten eines neuen Denkens zu umreißen, und die Erweiterung vom Ich zum Wir als Grundgedanken einer neuen Aufklärung benannt haben, versucht die vierte Gesprächsschleife nun eine Standortbestimmung in unserer post-post-modernen Welt. Und führt einen weiteren zentralen Gedanken ein: dass nämlich Ästhetik und Schönheit als grundlegende Kategorien des Menschseins in ihrer fundamentalen Bedeutung für das Zusammenleben neu zu erschließen sind.
 

Rekapitulieren wir noch einmal: Was sind mögliche Konsequenzen? Wie erreichen wir ein besseres Verständnis von Komplexität? 

Ich glaube, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen immer wieder der Aufgabe der Übersetzung stellen sollten. Unser Nichtwissen und die immer weitere Ausdifferenzierung der Systeme machen es unmöglichen, eine vereinheitlichte Geschichte zu erzählen. Also müssen wir lernen, Informationen, Wissen und Geschichten aus verschiedenen Bereichen und Disziplinen zu übersetzen. Oder es zu versuchen. Zuhörend, differenzierend, vorläufig und unperfekt. 

Aber es gibt noch einen anderen Aspekt, der mir wichtig ist, ein anderer Gedanke der Aufklärung, der auch etwas mit Übersetzerqualität zu tun hat: Es ist das ästhetische Element. Und zwar nicht im platten Sinne der Wahrnehmung der schönen Seite der Dinge. Sondern im Sinne des Verstehens von Ästhetik und Schönheit als grundlegende Kategorien des menschlichen Lebens und sozialen Zusammenlebens. Kategorien, die in der bisherigen, landläufigen Wissenschaftsauffassung eher randständig waren. Bisher galten der Begriff und die Formel als die beiden Schlüssel, um das Verstehen über das Beschreiben hinaus möglich zu machen. Vielleicht auch noch die Metapher, die oft auch in der Beschreibung mit enthalten ist. Doch wenn wir die Metapher und die Formel weiterdenken, dann kommen wir zu etwas, das ich die Form nenne. Ich bin darauf gestoßen bei der Beschäftigung mit der Chaostheorie: Wir können im Chaos Muster, Formen erkennen. Die Natur bringt Formen hervor, mit denen sie eigene Ordnungsmaße in das Chaos hineinbringt. Das eine ist die Selbstorganisation und das andere ist die Selbstähnlichkeit. Jedes Blatt ist anders, und doch gibt es Muster, die immer wieder selbstähnlich im Verschiedenen entstehen. 

In der Ungewissheit, in der Vielfalt und in der Ausdifferenzierung experimentell nach Mustern und Formen zu suchen, die etwas Neues und vielleicht Gemeinsames ermöglichen, das ist eine der Aufgaben dieser Zeit. Ohne das Besondere durch irgendein allgemeines Motiv zu übermalen. Vielmehr die Vielfalt differenziert herauszuarbeiten. Und wenn ich jetzt ganz wagemutig argumentiere, würde ich sagen: Hier schließt sich der Kreis. Hier kommen Elemente der menschlichen Schöpferkraft ins Spiel, die schon seit frühen Zeiten das Leben und Zusammenleben prägten. Es sind die Künste. Darunter die Musik, die ja eigene Formensprachen entwickelt hat und eine Verständigung ermöglicht. Eine Verständigung über Grenzen hinweg, über Kulturen hinweg. 

Nicht nur die mathematische Disziplin und die technischen Disziplinen wirken kulturübergreifend - und davon abgeleitet dann das Geld und das Digitale. Kulturübergreifend wirken auch einige andere Errungenschaften wie die Musik. Und möglicherweise ist das ein ganz, ganz großes Zukunftsfeld, das über den Bereich der Unterhaltung hinausführt. Es ja fein, dass das Digitale Musik ubiquitär verfügbar macht. Aber künftig geht es auch darum, einen ganz anderen Reichtum für das menschliche Zusammenleben neu zu erschließen: den Reichtum der Musik, des Klanges, der Formen, der Rhythmen, der Kontrapunktik und der Mehrstimmigkeit. Das gilt es neu oder wieder zu entdecken. Auch oder gerade, wenn es gar nicht nützlich erscheint - und ich niemandem raten würde, daraus ein Geschäftsmodell zu machen.
 

Eine weitere Vergewisserung: Die Diagnose der Verengung bedeutet, dass etwas aus dem Blick geraten ist. Was gilt es wieder zu entdecken? 

Der berechnende Rationalismus ist zu eng und unachtsam gewesen. Er hat manches verdorren oder versickern lassen, was man als Golfstrom des humanen Denkens und der Kultur bezeichnen könnte. Dazu gehört natürlich das geistige Erbe der Renaissance, dazu gehören auch die abendländische, griechische Mythologie und Philosophie. Ich möchte das mit einer Geschichte verdeutlichen. Eine Geschichte aus dem Protagoras-Dialog von Platon, die weithin in Vergessenheit geraten ist. Eine Schöpfungsgeschichte, die neben der jüdisch-christlichen Erzählung und neben den großen indischen, chinesischen oder afrikanischen Schöpfungsgeschichten der Menschheit durchaus bestehen kann. Sie geht so: 

Zeus schafft die Erde und die Lebewesen und gibt dann den beiden Halbgöttern Prometheus und Epimetheus den Auftrag, diesen Lebewesen Eigenschaften zu geben. Epimetheus übernimmt die Aufgabe und stattet jedes Lebewesen mit einer Eigenschaft aus, die einzigartig ist. Die einen können ganz schnell laufen, die anderen besonders gut sehen, andere richtig gut kämpfen, andere hervorragend schwimmen, wieder andere sind durch ihr Fell in der Lage, sich vor der größten Kälte im Winter zu schützen, und so weiter. All diese Lebewesen haben tolle Eigenschaften. Und dann bleibt ein Lebewesen übrig. Das ist nackt, kann kaum etwas, das ist der Mensch. Der friert so herum. Dann kommt Prometheus - und hier folgt nun die bekannte Prometheus-Geschichte. Er sagt: Ha, ich muss etwas für dieses Wesen tun. Und er geht in das Lager der Götter und stiehlt das Feuer. Und jetzt kommt der eigentliche Clou. Mit dem Feuer kann der Mensch überleben, aber zugleich wird er kriegerisch und droht, die gesamten anderen Lebewesen und sich selbst auszurotten. Nun aber springt Zeus wieder ein, weil ihm das furchtbar erscheint. Und er schenkt den Menschen zwei Tugenden. Die eine ist die Scham oder Rücksichtnahme - also die Tugend, anderen nichts Unangenehmes anzutun. Die andere Tugend ist das Gerechtigkeitsempfinden - also die Tugend, zu erkennen, wenn jemandem unrecht getan wird. Zeus sagt dazu: Das sind Geschenke. Die könnt ihr nicht stehlen, nicht verhökern. Das könnt ihr nur nutzen oder eben nicht nutzen. 

Das ist eine der verloren gegangenen Geschichten. Das gestohlene Feuer ist die technische Intelligenz. Eine wunderbare Gabe - die aber verheerend wirkt, wenn man glaubt, mit ihr allein auszukommen. Dieser Irrglaube ist der verengte technologische Rationalismus. Der die Gewalt ausblendet, seine eigene Gewalttätigkeit nicht sieht. Und jetzt sind wir wieder an einem Punkt, an dem wir uns fragen müssen, ob denn diese technische Intelligenz allein ausreicht. Ausreicht, um die Ungeheuer in uns zu bändigen.
 

Die Ungeheuer in uns, das ist die dunkle Seite des Menschen, die wir ignorieren und ausblenden möchten? 

"Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", heißt es bei Goya. Ungeheuer sind Fabelwesen, aber auch grobe Missbildungen, Disproportionen in Natur und Gesellschaft, die uns ängstigen. Die Entzauberung der Welt, die Max Weber als Signum der Moderne deutete und die er in die Grenzen von Nüchternheit und Rechtschaffenheit bannen wollte, ist ungeheuer geworden. Die Dämonen haben sich ihrer bemächtigt, während die Vernunft schlief. Und wir fragen uns: Warum geht so vieles schief? 

Oder in der Verwendung als Adjektiv - ungeheuer ist das Missverhältnis zwischen der Anmaßung, alles wissen und berechnen zu können, und den so oft kläglichen, ja verheerenden Ergebnissen genau kalkulierter Planungen und Aktionen. Ungeheuer ist das Missverhältnis zwischen der fast spielerischen, täglichen Reichtumsmehrung einer überschaubaren Zahl von Zeitgenossen und der zunehmenden Ausdünnung mittlerer Schichten und ihrer Einkommen - nicht nur, aber vor allem in den USA. Ungeheuer ist das Missverhältnis zwischen den Ansprüchen von Rationalität und Intellektualität, die Welt ordnen, steuern und befrieden zu können und dem weithin vorherrschenden Gefühl: "Wir werden der Probleme nicht mehr Herr."
 

Wenn wir der These folgen, dass es heute eine neue Aufklärung brauche, gibt es eine historische Parallele zu der Situation vor der (ersten) Aufklärung? 

Ich habe einen historischen Vergleich, der nicht unmittelbar diese Frage beantwortet, aber der zumindest eine Facette einer historischen Parallelität aufzeigen könnte. Der Vergleich kam mir beim Nachdenken über das, was da eigentlich in der digitalen Transformation passiert: Sind Amazon, Apple, Google & Co. nicht der Napoleon des 21. Jahrhunderts? 

Im Bild von Napoleon steckt eigentlich alles drin: Napoleon kam aus einem Land, in dem eben die Französische Revolution stattgefunden hatte, eine politische Form der Befreiung, die zunächst einhergegangen ist mit Ideen der Aufklärung, wie sie von Voltaire, Diderot und anderen entwickelt wurden, und die dann mehr und mehr umgeschlagen ist in terroristische Formen der Machtausübung. In den nachrevolutionären Wirren und Instabilitäten setzte er sich durch und an die Spitze. Napoleon hat zunächst noch Elemente der Aufklärung verkörpert: das Neue, das Rationale und das Fortschrittliche. Und die Fortune. Deshalb wurde er anfangs begrüßt - von den deutschen Aufklärern ebenso wie von denjenigen, die in ihre Fußstapfen getreten sind: Schiller, Goethe, Hegel, Hölderlin. Doch dann wurde er mehr und mehr zum Imperator.
 

Begonnen hat das Internet mit der Euphorie einer Zeitenwende. Zugang zu Wissen für alle, freier Fluss von Information ohne Grenzen und Beschränkungen - das Internet als Medium der Freiheit … Heute aber mündet die Entwicklung dieses Mediums in geschlossene Systeme, Beispiel Facebook. 

Das ist die Innenseite, die äußere ist das Imperatorische. Diese Konzerne treten ja ganz bewusst und offen auf als kreative Monopole, die die Old-School-Wirtschaft aushebeln. In der internen Struktur zeigen sich die Aushebelung der Hierarchie und die Förderung des offenen, libertären Gedankens des Internets - jedenfalls bis zu einem gewissen Grade. In der äußeren Struktur, in der Marktstrategie hingegen offenbaren sich die Aushebelung des Wettbewerbsgedankens und die unnachgiebige Beförderung der eigenen Machtposition mit dem Ziel einer universalen imperialen Marktmacht. 

Diese Konzerne wurden groß, weil sie den Träumen und Sehnsüchten von Millionen Menschen Ausdruck verliehen und ihnen eine überraschend einfache Gestalt gaben. So wie Napoleon aus den Sehnsüchten seiner Soldaten überraschend einfache und hochwirksame Strategien und Einsatzpläne formte. In beiden Fällen führte die machtpolitische Erweiterung und imperiale Ausdehnung zu einer Verengung. Sie haben ihr libertäres und ihr liberales Erbe - Stichwort Berkeley - verraten, wenn man diesen hochaufgeladenen Begriff gebrauchen möchte.
 

Erschöpft sich die Napoleon-Analogie mit dem Internet oder reicht sie weiter? 

Man kann das weiterspinnen - die Berkeley-Bewegung war ursprünglich der Versuch vieler, so etwas wie eine emanzipatorische Idee zu entwickeln, die später mit dem Internet verknüpft wurde. Da ging es um Frieden, um neue Formen des Zusammenlebens, um alternative Politikentwürfe, um alternative Zukünfte, überhaupt um Zukunft. Wahrscheinlich war es das letzte Mal in der jüngeren Geschichte, dass so etwas wie Utopie möglich war. Nun könnte man natürlich sagen, das sei eben das Träumerische dieser Zeit gewesen. Aber das ist genau, was die neue Aufklärung zu kritisieren hätte: nämlich das vorschnelle, bequeme und vereinseitigende Kappen über das Ziel hinausschießender Elemente. Ohne zu schauen, was da möglicherweise Wertvolles zu bergen wäre. 

Die amerikanischen Silicon-Valley-Unternehmen haben den Optimismus der Berkeley-Bewegung aufgesogen, aber sie haben ihn in der technologischen Vision aufgehen lassen. Die europäischen Verzweigungen dieser Bewegung konnten kaum positive visionäre Kraft daraus gewinnen, allenfalls die ökologische Bewegung in ihren Anfängen. Doch davon ist nur noch ein Rinnsal geblieben, die anderen Verzweigungen sind ausgetrocknet.
 

Das ist der Punkt, den ich meinte: Das Internet stand für eine Idee von Freiheit und Befreiung. Doch das ist umgeschlagen und mündet heute wiederum in hermetisch geschlossene Systeme. 

Das Libertäre ist mehr und mehr ausgedünnt worden. Allenfalls ist es noch vorhanden in der Vorstellung, den Menschen die Möglichkeit zu geben, kreative Dinge zu entwickeln. Die Zukunftsgerichtetheit hat sich verengt auf das Technologische. Natürlich heute verbunden mit ökologischen Appellen und mit der Aufforderung, das Soziale vom Technologischen aus zu denken. Ein verengter Blick, aber voller Optimismus. Das Problem ist nur: Die digitalen Konzerne haben kein Zivilisationsmodell, obgleich sie sich permanent in unser Leben einmischen. Sie haben auch kein Politikmodell, obschon sie pausenlos in den politischen Raum hinein agieren und ihn am liebsten aushebeln wollen. Sie haben nur Technologiemodelle und Geschäftsmodelle. Und was sie damit erzeugen oder verstärken, sind: Bequemlichkeit, Ungeduld, Selbstsucht, Abhängigkeit. Sie wecken Begehrlichkeiten nach dem, was nicht in unserer Macht steht, nach äußerem Erfolg, nach möglichst schnellem Reichtum, nach dem Von-der-Masse-beachtet-werden. Das sind alles unpraktische, unethische Dinge - wenn wir noch eine Ahnung davon haben, dass Praxis etwas mit Ethik zu tun hat.
 

Hier spiegelt sich die Außenwelt in der Innenwelt: In diesen Technologiekonzernen etabliert sich ein Binnenverhältnis, das auf der Zustimmung zu einer totalen Überwachung der Mitarbeitenden basiert und von ihnen ein bedingungsloses Aufgehen in dem sozialen Organismus Unternehmen fordert. Ich meine das Circle-Unternehmen von Dave Eggers. 

Ja. Das Hermetische des Circle-Unternehmens bedeutet im Grunde: Der Widerspruch ist ausgeschlossen, wird ausgeschlossen. Bewusst oder unbewusst. Die großen Datenmonopole und Plattformen haben den Widerspruch exkludiert. Im Innern wie in ihren Außenverhältnissen. So wie ihre digitalen Maschinen, die den Widerspruch nicht kennen. Die Plattformunternehmen haben kein Sensorium für Widersprüche. Deshalb verstehen und mögen sie Demokratie nicht wirklich. Den Wettbewerb eigentlich auch nicht. Und hier kommt ein interessanter Gedanke hinein. 

Die avanciertesten Vertreter dieser kalifornischen Ideologie, die sich um Ray Kurzweil scharen, sind eine Art digitaler Evangelisten, die der Idee der Singularity anhängen. Seit zehn, 20 Jahren verfolgt Ray Kurzweil konsequent das Programm, den Menschen zu übertrumpfen, eine neue transhumane Gattung zu schaffen. Singularity ist die Idee, dass in wenigen Jahren der Punkt erreicht ist, in dem Mensch und Maschine verschmelzen. Ray Kurzweil arbeitet darauf hin. Das ist sein Traum, dass Cyborgs - das würde er so nicht sagen, das ist meine Interpretation - irgendwann diesen unvollkommenen Menschen, das Mängelwesen Mensch, ersetzen. Und damit endlich ein perfektes, durchberechenbares Wesen an seine Stelle tritt. Da wird gedanklich fast so etwas wie eine neue Herrenrasse gezüchtet. 

Hier kommt eben eine der großen Schwächen und dunklen Seiten der Technologists zum Vorschein: Sie sind brillant, wenn es um Technologie und wenn es ums Geschäft geht. Manchmal auch, wenn es darum geht, neue behavioristisch orientierte Erkenntnisse der Psychologie in die organisationale Realität einzuführen. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man: Sie reduzieren ständig und immer wieder alles auf Technologie - gleichzeitig haben sie einen großmächtigen Anspruch "to make the world a better place". Ich hätte es gern eine Nummer kleiner. Dafür etwas mehrdimensionaler.
 

Auch in der digitalen Transformation zeigt sich der Kerngedanke: Es geht nicht alles in der Berechnung auf? 

Ja, gerade wegen dieser Entwicklungen ist es übrigens so wichtig, nicht nur von digitaler Transformation zu reden. Das greift zu kurz. Das ist bereits vom Ansatz her eine Reduktion. Die zudem noch suggeriert: Wenn man nur die neueste Technologie einsetzt, kann man gewissermaßen die Welt neu erschaffen. Alles läuft wie von uns am Rechner geplant. Wir können alles modellieren und prognostizieren. Homo Deus. Es gibt keine Überraschungen. Keine Ungewissheit. Wir haben alles im Griff. 

Aber wir brauchen noch einen zweiten Blick, ein zweites Bild, einen zweiten Begriff: Ich schlage vor - ergänzend - von "kreativer Revolution" zu sprechen. Die Kreativität ist das, was jetzt an die Stelle der Industria tritt. Der Fleiß prägte das industrielle Zeitalter. Jetzt geht es um die Entfaltung der Schöpferkraft des Menschen. In Unternehmen, in der Politik, in den Schulen, in der Umwelt. Um wirklich bahnbrechende und nachhaltige Innovationen zu entwickeln. Um nicht zu ersticken in Bürokratie und SelbstgefäIligkeit. Um mit Brüchen und Überraschungen vielleicht etwas besser umgehen zu lernen. 

Deshalb die Botschaft, und die hängt mit dem Gedanken der neuen Aufklärung zusammen: Ausschließlich von Digitalisierung zu sprechen, ist eine Verengung. Eine der Aufgaben dieser Übergangszeit ist die Entfaltung der menschlichen Kreativität im Sozialen, ein neues intelligentes Wir in der Vernetzung. Die - und das ist mir wichtig - sich nicht überschätzt. Eine neue kulturelle Qualität. Und dazu gehört Humanität als Kerngedanke. Und deshalb geht es auch um Befreiung, die wiederum auf die Unterstützung der Vernunft angewiesen ist. Das ist der kantsche Gedanke. 

Wir brauchen Kreativität, eine von der menschlichen Vernunft fundierte Schöpferkraft, auch deshalb, weil die ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen, in dieser vollen Welt so gewaltig sind. Wir werden nicht mit Technologie allein den Klimawandel meistern, die Ressourcen schonen und auf eine nachhaltige Wirtschaft umstellen. Wir brauchen dafür eine neue, intelligentere und humanere Art des Umgangs miteinander. 

Auch deshalb meine Zurückhaltung gegenüber der "Die Welt besser machen"-Ideologie. Ich wäre ja schon zufrieden, wenn es uns gelänge, die Welt ein wenig freundlicher zu machen. Freundlichkeit ist neben der Freiheitlichkeit das Verbindende. Im Dreiklang von digitaler Transformation, kreativer Revolution und ökologischer Wende. 

Von menschenfreundlichen Räumen, Wohnungen und Städten über freundliche Arbeits- und Verkehrsformen bis zur wirklichen Umweltfreundlichkeit. Und die alte Gastfreundlichkeit nicht zu vergessen. Bei allem so wichtig: Wir brauchen das freiheitliche Element, das in der Kreativität steckt, mehr denn je. Gerade wenn wir das Unternehmertum stärken und wenn wir menschenfreundliche Innovationen wollen. Wenn wir das Digitale und das Ökologische allein walten lassen, befürchte ich eine allmähliche Aushöhlung der Freiheit, eine Zunahme von Entmündigung und Überwachung. Dann müssen wir uns nicht wundern, wenn wir eines Tages in einem totalen Social-Credit-System aufwachen.
 

Es ist die Dystopie, die hier aufscheint. Unter dem Eindruck zunehmender Spannungen, gewaltsamer Attacken und Konflikte in diesem neuen Jahrhundert, unter dem Eindruck einer Welt, die immer mehr als VUCA erscheint, nicht zuletzt unter dem Eindruck des voranschreitenden Klimawandels fragen heute viele, ob die Welt denn aus den Fugen gerate. "Die Welt aus den Fugen", ist das eine zutreffende Beschreibung der Weltlage heute? 

Wir haben über Komplexität, Turbulenzen und Nichtwissen gesprochen. Und darüber, dass der Augenblickspragmatismus und der berechnende Rationalismus vieles ausgeblendet haben. Aber das Ausgeblendete kommt immer wieder zurück. Oft in unvermuteter, manchmal in furchtbarer Form. Immer wieder stehen wir ziemlich fassungslos davor, was alles angerichtet werden kann. Nun ist ja die Kategorie "Die Welt ist aus den Fugen" schon ein bisschen älter, sie ist bei Shakespeare im Globe Theatre das erste Mal formuliert worden. Man kann also sagen: Es war schon immer so, dass die Welt aus den Fugen war. Bloß wollten viele Leute uns glauben machen, wir könnten sie beherrschen - mit dieser bestimmten, eng gefassten Form von Rationalität. Und jetzt werden wir mit der Nase, mit der ganzen Seele darauf gestoßen, dass wir das nicht können. Das ist aber nur die eine Seite. 

Die andere Seite ist, so hoffe ich, dass diese Empfindung vielleicht das Nachdenken darüber verstärkt, was da gerade aus den Fugen gerät. Zum Beispiel: Warum haben antiaufklärerische, menschenverachtende Strömungen gerade so viel Zulauf? Warum nimmt der Populismus so enorm zu, der Emotionen schürt und bereits vorhandene Ressentiments verstärkt? Auch in Verbindung mit sozialen Medien, die noch sehr viel schneller Emotionen verstärken. Vieles scheint irgendwie entfesselt. Auch die Aggressivität. Das sind nun zwar verschiedene Elemente, die darf man nicht vorschnell auf einen Nenner bringen. Aber ich glaube, diese Entfesselung des Nichtrationalen in einer sich sonst so rational dünkenden Welt ist ein Thema, dem sich die neue Aufklärung zu stellen hat. Manchmal habe ich den Eindruck: die Vernunft ist aus den Fugen. Die berechnende Ratio allein reicht nicht, das Unvernünftige, Gewalttätige und Inhumane zu bändigen.
 

Diese Entwicklungen haben uns die Fragilität unserer Zivilisation vor Augen geführt … 

… die Zivilisation ist, um das bekannte Bild zu gebrauchen, nur ein Firnis. Und dieses Darunterschauen, auch in tiefere, historisch ältere Schichten, das Hineinschauen auch in dunklere Kammern unseres Wesens, gehört wesentlich mit zum Selbstverständnis einer neuen Aufklärung. Um mit Schopenhauer zu sprechen: Eine Aufklärung, die nicht das Heulen und Zähneklappern mitdenkt, die nicht die dunklen Seiten sieht, ist keine Aufklärung. Es geht nicht nur um die hellen Seiten unserer andauernden Geschichte, es geht auch um das Dunkle, das es aufzuklären gilt. 

Anders gewendet: Ein Fortschrittsverständnis, das sich mit diesen Fragen nicht auseinandersetzt, weil es sich nur auf das "Es wird immer besser" und nur aufs Technologische und Ökonomische konzentriert, ist eben selbst zu dünn. Ist einfach zu flach. Wie die Illusionen, die in den letzten Jahren verbreitet wurden, dass die Erde nun flach wird. Nein, die Erde wird nicht flach. Nicht mal metaphorisch wird sie flach, sondern sie ist unglaublich vielschichtig. 

Verbunden mit dieser Idee von einer flachen Welt ist die Vorstellung, dass Handelsströme und Menschen überall hingehen können, dass Grenzen keine Rolle mehr spielen. Aber das ist eben nicht trivial. Es gibt Zerklüftungen und Gräben, und Grenzen spielen natürlich eine Rolle. Das wissen wir auch aus der Systemtheorie: Systeme definieren sich durch Unterschiede und damit durch Grenzziehung. Zu behaupten, alles sei flach, ist nicht ausreichend.
 

Was bedeutet dieser Gedanke wiederum für die Idee einer neuen Aufklärung? 

Wer Grenzen überschreitet, muss die Grenzen der anderen achten. Und sich seiner eigenen Grenzen bewusst sein. Wer sie öffnet, sollte sich auf etwas gefasst machen. Nur das Digitale und das Kapital fließen mühelos überall hin. Menschen und soziale Systeme müssen sich besondere Mühe geben, dass es zu keinen Verletzungen kommt. Sie müssen achtsam sein, respektvoll und ihr Nichtwissen akzeptieren. 

Dieser Gedanke "die Welt ist aus den Fugen" verbindet das Ende mit dem Anfang: Es geht nicht darum, etwas besser zu wissen, sondern es geht um die Haltung der Demut und des Nichtwissens. Sie ist entscheidend. Und dann aus dieser Erfahrung heraus immer wieder die Suche nach Alternativen. Ganz praktisch. 

Dieses Nichtwissen im Wissen, das Nicht-Abgeschlossene in den Alternativen, das Bestreben, das andere, das noch nicht geäußert wurde, weiter zu suchen, ist eminent praktisch sowohl in den ökonomischen als auch in den politischen Zusammenhängen dieser Zeit. Das bedeutet: Wenn du das Gefühl hast, es sei keine Alternative mehr da, sich genau dann noch einmal gemeinsam im Dialog mit anderen um eine Alternative zu bemühen. Es ist ein Denken ohne Geländer, das wir brauchen - um Hannah Arendt aufzugreifen.
 

Ich würde gerne noch einen Gedanken vertiefen: dass wir auf der einen Seite von Strukturbrüchen reden und einen Paradigmenwechsel, vielleicht sogar einen ganz großen kulturellen Bruch verorten, indem mit dem Digitalen ein neues Medium der Kommunikation und der Speicherung von Information hinzukommt und eine neue Medienepoche einleitet. Auf der anderen Seite sprechen wir ganz selbstverständlich auch davon, in Zeiten des Übergangs zu leben. Sind das zwei unterschiedliche Perspektiven: auf der einen Seite die Brüche zu betonen und auf der anderen Seite eher das Sich-Entwickelnde in den Blickpunkt zu rücken? 

Ich glaube ja. Dazu zwei Gedankenbilder. Das eine ist Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas S. Kuhn. Er beschreibt, wie sich in einer bestimmten Phase wissenschaftliche Theorien verändern. Zunächst werden sie als plausibel erkannt, sie sind stimmig, sie passen. Allmählich kommen dann neue Entwicklungen dazu. Die Verfechter des alten Paradigmas spüren schon, dass es nicht mehr stimmig ist, aber sie bauen immer noch irgendetwas an. Und irgendwann ist dann der Bruch da. Aber es dauert dann noch eine ganze Weile, bis das alte Paradigma abgelöst wird durch ein anderes, neues, das plausibler ist. Das ist das eine Bild, das ich habe.
 

Der Paradigmenwechsel bei Kuhn ist also ein allmählicher Prozess. Es gibt zwar einen Umschlagpunkt, ab dem das neue Paradigma sich durchsetzt, aber das geschieht langsam, Schritt für Schritt. Und das zweite Bild? 

Das andere Bild hat damit zu tun, was mich in letzter Zeit stark beschäftigt auch in der praktischen Arbeit: das Thema Disruption. Clayton Christensen ist ja mit seiner Arbeit umstritten, aber er hat diese Debatte wesentlich ausgelöst und mitgeprägt; auf ihn sind viele der heutigen Diskussionen über disruptive Innovationen zurückzuführen. Wichtig ist: Christensen sprach bewusst von einem Prozess der Disruption. 

Insofern glaube ich, dass da beides ist: der Übergang von der Industriegesellschaft zu einer neuen gesellschaftlichen Formation, also die digitale Transformation, und zugleich die kreative Revolution. Also ein Prozess und zugleich ein Bruch.
 

Und bezogen auf den Gedanken einer neuen Aufklärung? 

Neue Aufklärung heißt: Es zu wagen, eine neue Tradition zu beginnen und sich gleichzeitig auf eine alte Tradition zu besinnen: die Tradition des Geistes, der menschlichen Vernunft und der experimentellen Praxis. Das heißt: Anfangen können. Anfangen können ist der Kern der Freiheit.
 

Ganz kurz
Die vierte Gesprächsschleife versuchte eine Standortbestimmung in unserer post-post-modernen Welt. Und führte dabei verschiedene Entwicklungslinien zusammen: die digitale Transformation, die verengt auf eine technologische Entwicklung nicht verstanden werden kann; die Erfahrung einer Welt, die aus den Fugen gerät; und die Frage, was wir da erleben: einen Bruch oder einen Übergang? Nicht zuletzt benennt dieser Teil einen weiteren zentralen Gedanken: dass nämlich Ästhetik und Schönheit als grundlegende Kategorien des Menschseins in ihrer fundamentalen Bedeutung für das Zusammenleben neu zu erschließen sind.


Zitate


"Ich glaube, dass wir uns in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen immer wieder der Aufgabe der Übersetzung stellen sollten. Unser Nichtwissen und die immer weitere Ausdifferenzierung der Systeme machen es unmöglichen, eine vereinheitlichte Geschichte zu erzählen. Also müssen wir lernen, Informationen, Wissen und Geschichten aus verschiedenen Bereichen und Disziplinen zu übersetzen." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Künftig geht es darum, einen ganz anderen Reichtum für das menschliche Zusammenleben neu zu erschließen: den Reichtum der Musik, des Klanges, der Formen, der Rhythmen, der Kontrapunktik und der Mehrstimmigkeit. Das gilt es neu oder wieder zu entdecken. Auch oder gerade, wenn es gar nicht nützlich erscheint." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Der berechnende Rationalismus ist zu eng und unachtsam gewesen." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Die digitalen Konzerne haben kein Zivilisationsmodell, obgleich sie sich permanent in unser Leben einmischen. Sie haben auch kein Politikmodell, obschon sie pausenlos in den politischen Raum hinein agieren und ihn am liebsten aushebeln wollen. Sie haben nur Technologiemodelle und Geschäftsmodelle." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Der Widerspruch ist ausgeschlossen, wird ausgeschlossen. Bewusst oder unbewusst. Die großen Datenmonopole und Plattformen haben den Widerspruch exkludiert." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Nur von digitaler Transformation zu reden, greift zu kurz, ist bereits vom Ansatz her eine Reduktion." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Die Kreativität ist das, was jetzt an die Stelle der Industria tritt. Der Fleiß prägte das industrielle Zeitalter. Jetzt geht es um die Entfaltung der Schöpferkraft des Menschen. Und dazu gehört Humanität als Kerngedanke." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Wir brauchen Kreativität, eine von der menschlichen Vernunft fundierte Schöpferkraft, auch deshalb, weil die ökologischen Herausforderungen in dieser vollen Welt so gewaltig sind. Wir werden nicht mit Technologie allein den Klimawandel meistern, die Ressourcen schonen und auf eine nachhaltige Wirtschaft umstellen. Wir brauchen dafür eine neue, intelligentere und humanere Art des Umgangs miteinander." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Freundlichkeit ist neben der Freiheitlichkeit das Verbindende." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Es war schon immer so, dass die Welt aus den Fugen war. Bloß wollten viele Leute uns glauben machen, wir könnten sie beherrschen - mit dieser bestimmten, eng gefassten Form von Rationalität." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Die Vernunft ist aus den Fugen. Die berechnende Ratio allein reicht nicht, das Unvernünftige, Gewalttätige und Inhumane zu bändigen." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Wer Grenzen überschreitet, muss die Grenzen der anderen achten. Und sich seiner eigenen Grenzen bewusst sein." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Menschen und soziale Systeme müssen achtsam sein, respektvoll und ihr Nichtwissen akzeptieren. Die Haltung der Demut und des Nichtwissens ist entscheidend." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

"Neue Aufklärung heißt: Es zu wagen, eine neue Tradition zu beginnen und sich gleichzeitig auf eine alte Tradition zu besinnen: die Tradition des Geistes, der menschlichen Vernunft und der experimentellen Praxis." Bernhard von Mutius im Gespräch: Aus den Fugen?

"Anfangen können ist der Kern der Freiheit." Bernhard von Mutius im Gespräch über eine neue Aufklärung

 

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

Autor

Bernhard von Mutius
Mutius

Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler

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