Könnte sein

Kontingenz ist die Kulturform der nächsten Gesellschaft - oder könnte es sein. Ein Interview mit Dirk Baecker
Interview: Winfried Kretschmer

Stabilität, Gleichgewicht, das war einmal. In der alten Gesellschaft. Turbulenz, Komplexität und Unsicherheit könnten sich als Kennzeichen nicht nur eines Übergangs, sondern einer neuen, kommenden Gesellschaft erweisen. Einer Gesellschaft, in der Kontingenz zum bestimmenden kulturellen Merkmal wird: die Erfahrung, dass alles, was ist, auch anders sein könnte. In der Unsicherheit und Unberechenbarkeit der Verhältnisse verspricht allein das eigene Handeln vorübergehende Gewissheit. Und daraus entspringt eine Chance: Verantwortung.

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"Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks." Sagt Dirk Baecker.
Dirk Baecker ist Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin University in Friedrichshafen. Er ist einer der prominentesten Vertreter der Soziologischen Systemtheorie. In seinem Buch Studien zur nächsten Gesellschaft (2007) beschäftigt er sich mit dem Übergang zur nächsten, zur Computergesellschaft. Ein Interview zur Aktualität seiner Thesen.
 

Wenn wir von der nächsten Gesellschaft sprechen - was ist die vorhergehende? Gegen was grenzen wir uns ab? 

Mit dem Begriff der nächsten Gesellschaft grenzen wir uns von der modernen Gesellschaft ab. Die These ist, dass die Einführung zunächst der Elektrizität, dann des Computers und des Internets einen ähnlich dramatischen Struktur- und Kulturbruch produziert, wie es seinerzeit der Buchdruck tat. Der Buchdruck war gegenüber der Verfügung über Schrift ein vollkommen neues Kommunikationsmedium, das durch die massenhafte Verbreitung von gedruckten Erzeugnissen aller Art - Flugblätter, Bücher, Zeugnisse, Geldscheine und so weiter - gesellschaftliche Strukturen auf den Plan gerufen hat, die man vorher nicht kannte: die Strukturen der modernen Gesellschaft.
Seit 1890/1910 produziert nun die Verfügung über die Elektrizität als Voraussetzung dafür, dass wir weltweit instantane, also im Moment wirksame Verbindungen knüpfen können, wieder und mit ähnlicher Dramatik einen kommunikativen Überschuss ohnegleichen, der wieder mit gleichsam ganz neuen Strukturen und Kulturen der Gesellschaft beantwortet werden muss. Und wir nennen das im Moment - eher in Form einer heuristischen Verlegenheitsformel - mit einem sehr schönen Vorschlag von Peter Drucker die "nächste Gesellschaft".
 

Sie beschreiben diese nächste Gesellschaft auch als die Computergesellschaft. Ist der Computer das bestimmende Kennzeichen der nächsten Gesellschaft? Oder ihr maßgeblicher Treiber? 

Wir merken es am Computer, dass wir in einer neuen Gesellschaft sind - oder wir können es merken, denn die These der nächsten Gesellschaft ist durchaus noch nicht allgemein anerkannt. Für den Soziologen ist der Computer allerdings eher eine Art Zähmungsmechanismus - nämlich durch die Vernetzung von Computern im maschinellen Bereich, und dann auch im sozialen Bereich, die Überfülle der Möglichkeiten der Elektrizität zu bändigen. Der Computer ist aber gleichzeitig die Voraussetzung dafür, dass man mit elektronischen Impulsen noch mehr erreichen kann als vorher. Wenn man so will, ist der Computer also Symptom und Symbol, gleichzeitig aber auch Träger der Durchsetzung der nächsten Gesellschaft.
 

Ist die zunehmende Vernetzung ebenfalls Ausdruck dieser kommenden Gesellschaft? 

Netzwerke gab es natürlich immer schon. Aber die Art und Weise, wie heutzutage Netzwerke zu einer ubiquitären, also überall vorfindlichen Kategorie werden, ist schon etwas Neues. Das zeigt sich sowohl in den sozialen Netzwerken, den Social Media wie Facebook, Twitter und so weiter, aber auch in unserer zunehmenden Beobachtung, dass große soziale Formen sich nicht mehr den Standards entweder von Wirtschaft oder Politik oder Erziehung oder Kunst fügen, sondern eher Knoten, Cluster und unwahrscheinliche Muster in der Interaktion von politischen und wirtschaftlichen und erzieherischen und künstlerischen Motiven bilden. Dass wir es also zunehmend mit Netzwerken als Prinzip der Differenzierung von Gesellschaft zu tun bekommen, ist in der Tat etwas Neues.
 

Computerisierung, Netzwerke statt funktionaler Differenzierung - was zeichnet diese nächste Gesellschaft noch aus?  

Ausgangspunkt war eine These von Niklas Luhmann - eine seiner wenigen wilden oder spekulativen Thesen. Er war der Erste, der die vier Medienformen, also die Standesgesellschaft auf der Grundlage der Einführung von Sprache, die antike Gesellschaft auf der Grundlage der Einführung von Schrift, die moderne Gesellschaft auf der Grundlage der Einführung des Buchdrucks und die nächste Gesellschaft eben auf der Grundlage der Einführung von Elektrizität und Computer beschrieben hat. Seine These im Buch Die Gesellschaft der Gesellschaft war, dass jede dieser vier Medienepochen der Gesellschaft durch eine unterschiedliche Kulturform geprägt ist: also durch eine unterschiedliche Form, mit der in allen diesen Gesellschaften die - auch bereits in der scheinbar einfachen tribalen Gesellschaft - überfordernde Fülle an kommunikativen Möglichkeiten in Sinnhaftigkeit, Übersicht, Verdichtung gebracht wurde. Nach Luhmanns Annahme war die Kulturform der modernen Gesellschaft durchgängig das Gleichgewicht - und zwar ein unruhiges, ein selbstreferenzielles Gleichgewicht.
Diese Kompetenz, ein Gleichgewicht zu halten, reicht nun nicht mehr hin. Vielmehr wird es eine neue Kulturform geben, die gerade im Begriff ist, zu entstehen. Mir scheint die Formel der Kontingenz, des Aushaltenkönnens von Kontingenz, das heißt des dauernden Rechnens damit, dass man etwas initiieren und im nächsten Schritt schon wieder etwas anderes, gegenteiliges initiieren kann, ein Kandidat für diese Kulturform zu sein. Angesichts des Computers, der schneller rechnen kann als wir, der mit einem Gedächtnis ausgestattet ist, das wir nicht durchschauen, und der uns Kommunikationsangebote offeriert, bei denen die moderne Kulturtechnik der Überprüfung der Autorität der Quelle nicht mehr gegeben ist, scheint - anspruchsvoll gesagt - der Einbau von Reversibilität in Irreversibilität die angemessene Antwort. Eine rasche Entscheidung treffen und sich darauf einlassen, dass die Entscheidung nicht korrigiert werden kann, aber eben deswegen eine so kleine Entscheidung zu treffen, dass diese in gewissen Dimensionen doch noch rückgängig gemacht zu werden vermag - das scheint mir ein Kandidat für die Kulturform der nächsten Gesellschaft zu sein.
Neben der Kulturform benötigt die Gesellschaft jedoch auch eine Strukturform: Wie gelingt es einer Gesellschaft, die Fülle an Möglichkeiten, die der Buchdruck brachte und die heute der Computer bringt, überhaupt auf eine verteilte Art und Weise aufzustellen? Die Gesellschaft braucht eine Form der Differenzierung von Kommunikation: Das waren in der modernen Gesellschaft die Funktionssysteme - und das sind möglicherweise in der nächsten Gesellschaft die Netzwerke.
 

Steht Ihre Diagnose einer Unanschaulichkeit dieser nächsten Gesellschaft im Einklang mit der neuen Unübersichtlichkeit, von der Jürgen Habermas gesprochen hat? 

Die neue Unübersichtlichkeit - das war in den Augen eines Systemtheoretikers nicht viel mehr als der späte Versuch, die Komplexitätsvokabel, die vor allem Niklas Luhmann in die Soziologie eingeführt hat, doch noch zu würdigen. Was daran neu war, war indes damals schon nicht so recht zu sehen.
Die Unanschaulichkeit ist in der Tat ein interessanter Aspekt an dieser Unübersichtlichkeit - aber auch hier gilt, dass die moderne Gesellschaft mindestens genauso unanschaulich war. Wir müssen erst einmal am Verständnis der modernen Gesellschaft arbeiten. Denn wenn wir unsere eigene Situation in dieser Welt reflektieren, denken wir automatisch in aristotelischen Terminologien: Wir sehnen uns nach einem Aufgehobensein, einem Ankommen, Dasein, Bleibenkönnen, nach einem telos - und im Vergleich damit müssen wir die Änderungen, die die moderne Gesellschaft brachte, erst einmal breiter vertraut machen. Erst wenn wir wissen, was die moderne Gesellschaft und ihre hochgradig dynamisierte Stabilität ausmachte, kommen wir zu einem Verständnis der nächsten Gesellschaft.
Allerdings sind wir, während wir uns nach der aristotelischen Welt sehnen, längst in dieser nächsten Gesellschaft unterwegs. Wer seinen Laptop aufklappt, auf seinem iPad oder iPhone herumtippt oder sich bei Facebook einloggt, merkt sofort, womit er es in dieser Welt der Computer, der unendlichen Vernetzung von unsichtbaren Maschinen zu tun hat. Es hat einige Jahrzehnte gedauert, mittlerweile aber bewegen wir uns auch in diesen Medien mit einer Souveränität, Fraglosigkeit und zum Teil auch Harmlosigkeit, die ein Beweis dafür ist, dass wir Menschen intellektuell und emotional hinreichend plastisch sind, um auch mit diesen Verhältnissen zurande zu kommen.
 

Stichwort Komplexität - was verstehen wir darunter, wenn nicht bloß Unübersichtlichkeit?  

Mir persönlich gefällt am besten eine Definition, die auf einen griechisch-alexandrinischen Mathematiker namens Diophantus zurückgeht. Er spricht bereits von Komplexität, wenn ein Zahlenpaar auf Sachverhalte verweist, die ihrerseits nicht aufeinander reduziert werden können. Komplexität meint somit ein Paar von Variablen, die ein Phänomen bezeichnen, das nicht auf eine der beiden Seiten reduziert werden kann.
 

Und Kontingenz? 

Kontingenz ist die Beschreibung von etwas als möglich, aber nicht notwendig. Mit der Formulierung, die Luhmann immer sehr präferiert hat, resultiert Kontingenz aus der doppelten Negation von Notwendigkeit und Unmöglichkeit. Das, was weder notwendig noch unmöglich ist, das ist kontingent.
 

Und Kontingenz im Kontext von Komplexität? 

Komplexität heißt also immer, dass mehrere Dinge zusammenkommen müssen, ohne dass man kontrollieren kann, wie sie zusammenkommen. Kontingenz ist dann eine Formel, mit einer solchen komplexen Welt umzugehen: Wenn du es mit Komplexität zu tun hast, dann musst du irgendeine Entscheidung treffen. Dann musst du einen Satz formulieren und schauen, ob er dem Gedanken entspricht, den du denken und formulieren wolltest. Sobald aber der Satz auf einem Blatt Papier oder einem Computerbildschirm auftaucht, schaust du ihn dir an und siehst, dass er vielleicht besser hätte formuliert werden können ...
Kontingenz ist also mit der alten Formulierung von Niklas Luhmann die Beschreibung von etwas, das so ist, wie es ist, obwohl es so nicht sein muss. Luhmann sagte, ein kontingenter Sachverhalt ist ein Sachverhalt, den man dauernd ändern könnte. Denn es ist ein Sachverhalt, der so ist, wie er ist, ohne dass er so sein müsste, wie er ist. Er ist möglich, aber nicht notwendig.
Wenn man so will, ist dieses Wissen um Kontingenz die Belastung, aber auch die Befreiung des Menschen in der nächsten Gesellschaft, weil jede Entscheidung - die Entscheidung für einen Studiengang, die Entscheidung für eine Vermögensanlage, die Entscheidung für eine politische Partei - in diesem Sinne kontingent ist. Ich kann mich so entscheiden, muss mich aber nicht so entscheiden.
Das bringt uns in die unangenehme und zugleich erfreuliche Lage, für unsere Entscheidungen verantwortlich zu sein. Es bringt uns aber auch in die Lage, in diesen Entscheidungen laufend ungewiss und unsicher zu sein. Und ständig reflektieren zu müssen oder reflektieren zu dürfen, warum wir unter welchen Umständen was getan haben.
Für den Soziologen ist es spannend zu sehen, dass die Reflexion von Kontingenz eine der kräftigsten Heuristiken oder Regeln sein kann, um überhaupt beobachten zu können, was uns umtreibt. Denn nur wenn ich auf mich und auf meine Entscheidung schaue, und auf die Art und Weise, wie ich das Feld der Möglichkeiten auf eine oder zwei reduziert habe, lerne ich etwas über dieses Feld der Möglichkeiten.
 

Ihre These: "Solange man nicht weiß, wie es weitergeht, vergewissert man sich eines Stands der Dinge, auf den kein Verlass ist." Das müssen Sie erläutern! 

Für mich ist das Paradigma dieses Satzes die Untersuchung des amerikanischen Soziologen Eric Leifer über Schach. Er ging davon aus, dass Schachgroßmeister sich dadurch auszeichnen, dass sie mehr Züge ihres Gegners im Voraus berechnen können als der Laie. Leifer hat dann elf solcher Schachmeister befragt: "Sagt mal, wie viele Züge im Vorhinein könnt ihr denn tatsächlich berechnen?" Die haben alle ihre Stirn in Falten gezogen und nach einer gewissen Zeit des Nachdenkens gesagt: "Ja, also, hmm, null bis eins, würden wir sagen." Da war das Erstaunen groß; denn angenommen hatte man fünf bis sechs. Dann war die zweite Frage: "Und worüber denkt ihr dann so lange nach, wenn das Ergebnis nicht darin besteht, die absehbaren Züge des Gegners zu berechnen?" Die Antwort: "Wir denken darüber nach, wie wir ein möglichst vielfältiges Spielfeld aufbauen können, mit dem Gegner zusammen, um im Nachhinein Fehler korrigieren können."
Das ist für mich ein Bild dafür, dass der Umgang mit Komplexität, der Umgang mit Kontingenz, eben darin besteht, zu wissen, dass man immer nur in vorübergehend tauglichen Positionen unterwegs ist - und dies nun nicht als Anlass zur Verzweiflung zu nehmen, sondern im Gegenteil zu sagen: Wenn ich mich immer nur in einer vorübergehenden Position befinde, dann kann ich diese Position gerade deswegen sehr ernst nehmen und mir anschauen: Was habe ich denn da produziert? Wo stehe ich gerade? Was ist die Absicht? Welche Leute stimmen mir zu? Welche Leute lehnen mich ab? - Das eben deswegen, weil ich ja schon im nächsten Moment diese Position ändern kann.
Deswegen ist die einzige Instanz, auf die wir uns verlassen können, die des vorübergehenden Ereignisses selber. Das heißt, ich kann das Ereignis nicht mehr ändern, obwohl ich weiß, dass ich ein neues Ereignis produzieren kann, um mir eine andere Welt zu eröffnen.
 

Und damit wird das Vermögen, den jeweils nächsten Schritt zu finden, zu einer Schlüsselqualifikation? 

Ja, eine wichtige Kompetenz besteht in der Tat darin, immer etwas zu tun, was einem Anschlüsse eröffnet. In diesem Sinne kann man viele hochgradig professionelle Kompetenzen in der nächsten Gesellschaft als Kompetenzen beschreiben, einen Schritt zu machen, der eine Öffnung produziert und Partner einlädt, mitzumachen.
Sei es in Liebesverhältnissen, sei es beim Entwickeln einer Multimedia-Plattform, sei es beim Prototyping besteht mittlerweile die Kunst darin, einen Vorschlag zu machen, der nicht bereits von einem selbst, sondern von anderen beantwortet wird - sodass man in diesem Medium von Vorschlägen und von vorläufigen Schritten die Chance hat, sowohl Zeit zu gewinnen als auch Leute einzuladen als auch den Sachverhalt immer besser kennenzulernen. Diese drei Dinge zusammengenommen - Leute einladen, Sachverhalt kennenlernen und Zeit gewinnen - sind das, was eine kenntnisreiche und intelligente Bewegung in den Verhältnissen der nächsten Gesellschaft ermöglicht.
 

Wenn das Vermögen, diesen nächsten Schritt zu finden, zur entscheidenden Kompetenz wird, geht damit die klare Abfolge definierter Schritte verloren? 

Ich denke, dass die Arbeitsformen in der nächsten Gesellschaft an klassische handwerkliche Formen erinnern, insofern wir eine Parallelität von Experiment, von Kundengespräch und von Erprobung von Ideen beobachten. Die klassische und heroische Vorstellung, dass Management darin besteht, eine Idee zu entwickeln, in einen Plan zu übersetzen, die dafür passende Organisation zu finden und abschließend zu kontrollieren, ob das Ergebnis auch den Plänen entsprechend produziert worden ist, taugt nicht mehr für die Beschreibung von Arbeitsverhältnissen in der nächsten Gesellschaft.
Aber jede Art von beweglicher Verknüpfung von Sachfragen, Sozialfragen und Zeitfragen taugt etwas - bis hin zu der in der Betriebswirtschaftslehre unbeliebten Pflege von loser Kopplung zwischen Leuten, zwischen Abteilungen, zwischen hierarchischen Ebenen. Also in einem Unternehmen oder einer anderen Organisation ein gewisses Chaos, eine gewisse Turbolenz, ein gewisses Durcheinander zuzulassen, weil dies es den Leuten unmöglich macht, an Linearität, an Ordnung, an Struktur zu glauben. Und sie stattdessen eingeladen werden, einander und den Rest der Organisation laufend zu beobachten, um mögliche Anregungen zu gewinnen und ständig an den Fragen zu arbeiten: Was heißt das für uns? Mit wem will ich arbeiten? Auf welches Projekt konzentriere ich mich? Wer ist da auf meiner Seite? Und was wird, wenn dieses Projekt abgeschlossen ist, mein nächstes Projekt sein? In dieser Form der handwerklichen Unruhe - auch des Umgangs mit sich selbst - überleben Organisationen in der nächsten Gesellschaft.
 

Wo liegen die Chancen in dieser nächsten Gesellschaft? 

Ich glaube, die wichtigste Chance, die sich in diesen neuen Arbeits-, Organisations- und Kommunikationsverhältnissen öffnet, ist die der Verantwortung selber. Dieses Wegorganisieren von Unverantwortlichkeit, das Ulrich Beck noch für die spätmodernen Organisationen beschrieben hat, ist immer noch vielfach zu beobachten - aber interessant ist doch eher eine Gegentendenz, so zart sie manchmal auch erst auftauchen mag: Nämlich, sich wieder mit Spaß an der Sache, Spaß an sich und Spaß an Dynamiken auf eigene Verantwortung einzulassen. Sich zu sagen: Ich brauche weder Angst davor zu haben, mir selbst Verantwortung zuzuweisen, noch dass andere mir Verantwortung zuweisen, solange ich meine experimentierenden und meine routinierten Schritte als Kompetenz für das Durchführen von Projekten mit all der dort unvermeidbaren Turbulenz darstellen kann.
 

Bedeutet das die Aufwertung, die Wiederentdeckung des Menschen? 

In einer Computergesellschaft, in der mehr und mehr Arbeitsabläufe automatisiert werden können, ist die entscheidende Frage: Wozu brauchen wir noch Menschen? Wir wissen, dass die Automatisierung noch lange nicht so weit gediehen ist, wie wir das gehofft oder gefürchtet haben. Wir wissen aber noch nicht genau, wozu diese merkwürdige Figur Mensch in Produktions- und Arbeitsabläufen eigentlich erforderlich ist. Und wir entdecken, dass es seine bisher unterschätzten Fähigkeiten sind: Zu riechen, wann Öl in irgendeiner Maschine zu kochen anfängt, und einzugreifen, schon bevor die rote Lampe blinkt. Oder dieses Fingerspitzengefühl, das uns darüber Auskunft gibt, welche Kollegen gerade in kritischen Situationen sind und wie man sie ansprechen kann. Von diesen Fähigkeiten des Menschen als komplexer Organismus, als gerade nicht auf irgendeine Funktionalität zuzuspitzende Figur, müssen wir wissen, an welchen Stellen in Organisationsabläufen wir sie brauchen. Karl Weick und Kathleen Sutcliffe haben das - in sogenannten High Reliability Organisations, also Organisationen, die unter höchsten Zuverlässigkeitsansprüchen arbeiten - als Mindfulness, als eine wache Aufmerksamkeit beschrieben. Davon können aber auch andere Organisationen lernen.
Die größte Chance, die ich in den Organisations- und Arbeitsverhältnissen der nächsten Gesellschaft sehe, ist die der Rejustierung von Kapital und Arbeit: also von Produktionsfaktoren, die systematisch unterschiedlicher Art sind. Wir können mit einer gewissen Berechtigung erwarten, dass unterschiedlichere, vielfältigere Fähigkeiten des Menschen in Produktions- und Arbeitsabläufen besser zur Geltung kommen können als bisher.
 


Zitate


"Eine rasche Entscheidung treffen und sich darauf einlassen, dass die Entscheidung nicht korrigiert werden kann, aber eben deswegen eine so kleine Entscheidung zu treffen, dass diese in gewissen Dimensionen doch noch rückgängig gemacht zu werden vermag - das scheint mir ein Kandidat für die Kulturform der nächsten Gesellschaft zu sein." Dirk Baecker: Könnte sein

"Die einzige Instanz, auf die wir uns verlassen können, die des vorübergehenden Ereignisses selber. Das heißt, ich kann das Ereignis nicht mehr ändern, obwohl ich weiß, dass ich ein neues Ereignis produzieren kann, um mir eine andere Welt zu eröffnen." Dirk Baecker: Könnte sein

"Viele hochgradig professionelle Kompetenzen in der nächsten Gesellschaft lassen sich als Kompetenzen beschreiben, einen Schritt zu machen, der eine Öffnung produziert und Partner einlädt, mitzumachen." Dirk Baecker: Könnte sein

"Die wichtigste Chance, die sich in diesen neuen Arbeits-, Organisations- und Kommunikationsverhältnissen öffnet, ist die der Verantwortung selber." Dirk Baecker: Könnte sein

 

changeX 16.11.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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: Studien zur nächsten Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007, 229 Seiten, 10 Euro, ISBN 978-3-518-29456-7

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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