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Form auf Zeit

"Habt Mut, die eigene Organisation zu erfinden" - ein Gespräch mit Susanne Ehmer und Herbert Schober-Ehmer
Interview: Winfried Kretschmer

Was ist die richtige Organisationsform für ein Unternehmen? Das ist die falsche Frage, sagen zwei Organisationsberater. Es gibt nicht mehr eine bestimmte Struktur, die besser als andere geeignet wäre. Nicht die richtige oder angesagte Organisationsform. Vielmehr gilt es, genau zu beobachten, was die eigene Organisation braucht. Auszuprobieren und zu experimentieren. Und das Konstrukt permanent in Beobachtung zu halten, um es jederzeit wieder ändern zu können. Die Organisation als temporale Form.

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Susanne Ehmer und Herbert Schober-Ehmer sind Organisationsberater und Coaches in Wien. Ihr Buch ÜberLeben in der Gleichzeitigkeit. Leadership in der "Organisation N. N." (zusammen mit Wolfgang Regele und Doris Regele) ist im Frühjahr bei Carl-Auer erschienen.
 

Frau Ehmer, Herr Schober-Ehmer, Organisation N. N. - was hat man sich darunter vorzustellen? 

Herbert Schober-Ehmer: N. N. heißt "nomen nominandum", lateinisch für "noch zu nennender Name". Wenn in Organigrammen bei einer Position "N. N." steht, bezeichnet das eine noch nicht besetzte, noch zu besetzende Stelle: eine Leerstelle, die es möglich macht, alle Entscheidungen zu treffen, wie diese Leerstelle gefüllt wird. Dieses Offenhalten ist die Idee: das Offenhalten einer ganzen Organisation, um zukunftsfähig und innovativ zu werden.
 

In einem Organigrammkästchen wird "N. N." irgendwann durch einen richtigen Namen ersetzt, und alles hat seine Ordnung. Ist das in der Organisation N. N. auch so? 

Susanne Ehmer: Nicht ganz. Ich möchte hier vom Denken in Organigrammen weggehen und auf das schauen, was eine Organisation ausmacht, mit welchen Eigenschaften man sie beschreiben kann. Eine Organisation muss sich immer wieder neu auf die aktuellen Anforderungen und Gegebenheiten ausrichten, sie muss schauen, wie sie erfolgreich sein kann, sie muss sich immer wieder neu erfinden. Sie kann entscheiden, eine agile Organisation zu werden, sie kann aber auch entscheiden, eine beständige Organisation zu bleiben. Das muss auch nicht die ganze Organisation betreffen: So kann ein Bereich sehr agil und flexibel agieren, während der andere die nötige Stabilität bietet, die das möglich macht. Nach dem Konzept der Organisation N. N. wird das nur für den Moment entschieden.
 

Ist dieses Weggehen vom Organigramm als eine paradigmatische Forderung zu verstehen? 

Herbert Schober-Ehmer: Nein, keine Forderung, sondern ein Denkimpuls, um das wirkliche Leben in der Organisation in den Blick zu bekommen. Man wird nicht umhinkommen, eine Organisation visuell zu symbolisieren, aber das kommt erst später. Organisation N. N. heißt: Wenn man eine Organisation an neuen Anforderungen ausrichtet, wenn man neue Ordnung schafft, dann gilt diese nur für die nächste Periode, für das nächste Quartal oder Jahr. Und sie kann je nach Bereich oder Abteilung unterschiedlich sein.
Die Idee dahinter ist: Man definiert gewünschte Eigenschaften und stellt erst dann die Frage, welche Strukturen, Prozesse und welche Art von Führung es braucht, um diese Eigenschaften zu realisieren. Und man beobachtet, wie die Eigenschaften realisiert werden: Sind wir genügend agil? Sind wir genügend reflexiv? Sind wir hinreichend bereit, Widersprüche auszuhalten? Das ist immer ein wechselseitiger und iterativer Prozess.
 

Versetzen wir uns in einen Leser, in dem jetzt vielleicht Widerspruch aufkeimt: Wir haben doch Organisationen - tun die es nicht mehr? 

Susanne Ehmer: Nicht mehr in dieser Form. Wir brauchen einen veränderten Blick, ein verändertes Verständnis von Organisation und daher auch ein verändertes Gestalten von Organisation. Es geht nicht mehr darum, die eine richtige Organisationsform zu suchen -sondern jedes Unternehmen muss sich fragen: Welche Organisation braucht unser Unternehmen unter seinen spezifischen Rahmenbedingungen, damit es erfolgreich weiter agieren und sich entwickeln kann? 

Herbert Schober-Ehmer: Wir sagen allen Akteuren in der Organisation, den Mitarbeitern wie den Führungskräften: Sucht nicht nach der richtigen oder derzeit angesagten Organisationsform. Sondern habt den Mut, die eigene Organisation selbst zu erfinden! Welche Art des Organisierens oder welche Organisation wollen wir uns schaffen, um die Herausforderungen in der nächsten Periode zu bewältigen? Haben wir die gewünschten Eigenschaften? Oder brauchen wir möglicherweise andere Inhalte und Formen des Koordinierens, Entscheidens und Kooperierens?
 

Sie sagen, ein neuer Typ von Organisation ist nötig? 

Susanne Ehmer: Eher eine neue Art, Organisation zu beobachten, zu verstehen und zu gestalten. Daraus entwickeln sich dann jeweils neue Typen.
 

Ich weiß nicht, ob Sie unseren fiktiven Leser schon überzeugt haben. Warum ist dieses neue Verständnis von Organisation nötig? 

Susanne Ehmer: Die Rahmenbedingungen für jedes Unternehmen haben sich in den letzten zehn Jahren rasant verändert, weil ganz andere Einflüsse in einem ganz anderen Tempo auf jedes Unternehmen einwirken. Die bekannten Stichworte: Globalisierung, Internet, Digitalisierung. Nicht umsonst hat ein Begriff aus den 1970er-Jahren eine Neuauflage erfahren: Die Welt ist VUCA. Dieser Begriff markiert präzise, was viele CEOs ganz ähnlich beschreiben: Die Welt ist volatile, also sprunghaft, sie ist uncertain, also ungewiss, sie ist complex, also nicht mehr berechenbar, und sie ist ambiguous, also mehrdeutig. Das heißt: Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass die Formate des Organisierens - ob mit Matrix, Geschäftsfeldgliederungen, Lean oder was auch immer - noch genauso wirksam sind wie früher.  

Herbert Schober-Ehmer: Und dennoch wird gefragt, welches denn die richtige Organisation sei. Ist es richtig, noch mehr auf Projekte zu setzen, mit Scrum zu arbeiten, sich als Kreisorganisation aufzustellen oder doch bei der funktionalen Gliederung zu bleiben? Da sagen wir: Diese Frage geht in die falsche Richtung. Das ist der alte Ansatz. Hier liegt der entscheidende Unterschied: "Richtig" fußt auf der Illusion einer eindeutigen Wahrheit, auf der Illusion der Berechenbarkeit, auf der Hoffnung, Organisationen ließen sich doch wie Maschinen steuern. Stattdessen geht es um das ständige Suchen nach dem Passenden. Das Passende suchen akzeptiert die Lebendigkeit von Systemen. Es geht also nicht darum, das einmal gefundene Modell zu optimieren - das war der bisherige Weg - sondern immer wieder zu entdecken: Was brauchen wir jetzt?
Unsere Botschaft lautet: Gestalte das Unternehmen nicht nach einer Organisationslogik, sondern beobachte, was die unterschiedlichen Funktionsbereiche und die unterschiedlichen Prozesse brauchen. Deswegen der Begriff "Gleichzeitigkeit". In einem Bereich passt vielleicht eine charismatische, klare Führung, die Orientierung bietet, gleichzeitig aber braucht die Nachbarabteilung viel mehr Widersprüche, Agilität und Selbstorganisation. Das gilt es, zusammenzubringen. Dazu muss man Gesprächs- und Verständigungsarbeit leisten, um an diesen Unterschieden zu arbeiten, die Unterschiede nicht als Problem, sondern als gewünscht sehen.
 

Sie sprechen von Abteilungen - Abteilungen wird es weiter geben? 

Susanne Ehmer: Ganz unterschiedlich. Auch da sagen wir: Es gibt keinen fixen Organisationstyp, sondern das Unternehmen schafft sich die Formen, die es braucht. Wir wollen Mut machen, damit zu experimentieren. Wir beobachten häufig, dass Veränderung als eine große Hürde wahrgenommen wird und Angst vor falschen Entscheidungen herrscht. Man tut dann erst mal gar nichts, um bloß keinen Fehler zu machen. Aber natürlich ist es nicht beliebig, wie man organisiert, daher braucht es das Konzept der Leerstelle, der Organisation N. N. Wir ermutigen zur Beobachtung der eigenen Organisation: Was wird getan, auf welche Art und Weise wird es getan und welche Wirkung hat das auf den Inhalt und die Akzeptanz? Anhand dieser Beobachtungen können sich die verantwortlichen Akteure überlegen, welche Entscheidungsstrukturen sie für hilfreich halten, und diese Strukturen für drei Monate oder ein halbes Jahr ausprobieren. Das wird dann ausgewertet und gegebenenfalls wieder etwas anderes versucht. Wir empfehlen also, ins Experimentieren zu gehen und die Erfahrungen zu beobachten.
 

Meine Frage nach den Abteilungen verweist auf die Schwierigkeiten, die Struktur innerhalb einer Organisation zu bezeichnen. Kann man insofern vielleicht von einem doppelten N. N. sprechen, einem doppelten Unbekannten: Unbekannt ist einmal eine Struktur der Organisation, unbekannt ist zweitens die Form, die diese in der Zeit annehmen wird? 

Beide gleichzeitig: Ja, das kann man so sagen.
 

Meint Dirk Baecker das mit "temporaler Form"? 

Herbert Schober-Ehmer: Eindeutig. Dirk Baecker hat mit seinen Gedanken zu Organisation und Störung den Impuls für unsere Überlegungen gegeben. Er hat uns auch angeregt, statt von "angemessen" vom "Augenmaß" zu reden - ein treffender und sympathischer Begriff: Achtsam mit den Augen erfassen, also genau hinschauen und mit der eigenen Erfahrung bewerten. Das macht deutlich, warum Beobachtung - und die Beobachtung der Beobachtung - zur zentralen Qualität wird. Damit man Organisationen als Leerstelle sehen und als temporale Form überhaupt steuern kann, muss man die Beobachtung - die sowieso abläuft - selbst beobachten. Schauen wir auf die relevanten Aspekte: Wie kommen wir zur Bewertung? Was sind unsere Annahmen hinter unseren Behauptungen und Erklärungen? Dazu braucht es einen nahezu permanenten Austausch.
Ein Beispiel: Eine Organisation hat ihre erfolgskritischen Muster in der Kommunikation und Entscheidungsfindung herausgearbeitet und diese im Meetingraum auf Flipcharts aufgehängt. Bei jedem Meeting wird gefragt: Was haben wir beobachtet? Wie haben unsere Muster heute gewirkt? Sind wir auf einem Lernweg oder kippen wir in destruktive Formen zurück? Worauf wollen wir das nächste Mal achten? Das erzeugt einen spannenden Effekt von Temporalisierung in deren Entscheidungsprozessen.
 

Um den großen Gegensatz aufzumachen: Die alte Organisation in der Tradition von Taylor und Fayol war durch eine eindeutige, vorgegebene Struktur gekennzeichnet, symbolisiert durch das Organigramm. Sie sagen, heute funktioniert das nicht mehr, wir brauchen eine Organisation, die flexibel an die jeweiligen Anforderungen angepasst wird. Richtig interpretiert? 

Susanne Ehmer: Letztlich ja. Ich würde es so formulieren: Es gibt nicht mehr eine bestimmte Form oder Struktur der Organisation. Natürlich gibt es Strukturen und Formen in jeder Organisation, aber die sind ein Mittel zum Zweck. Man passt also die Struktur den Anforderungen und Wünschen an. Gleichzeitig gehört zu diesem Konzept, das Konstrukt permanent in Beobachtung zu halten, um es jederzeit ändern zu können.
 

Heute wird Kritik an einem Overload an Management laut: daran, dass in Unternehmen zu viel Energie auf bloße Managementtätigkeiten verwendet wird, und nicht auf die wirklich wertschöpfenden Tätigkeiten. Es heißt, Organisationen sollen um Aufgaben herum gebaut werden. Stimmen Sie zu? 

Beide: Ja.
 

Ist die Organisation N. N. eine theoretisch ambitionierte Ausgestaltung dieser aktuellen Idee, Organisationen um Wertschöpfung, um Aufgaben, um Tätigkeiten herum zu bauen? 

Herbert Schober-Ehmer: All das keine Frage. Ich will nur ergänzen: … und deren Eigenschaften. Wie muss die Aufgabe, die Tätigkeit erfüllt werden? Schnell? Sehr sorgfältig? Oder kann sie vielleicht sogar unscharf erfüllt werden? Die Frage nach dem Wie ist wichtig, das gibt dem Was die erforderliche Form und schafft genügend Spielraum für die einzelnen Akteure.
 

In der alten Organisation ist es letztlich das Management, das weiß, wie dieses Wie auszusehen hat, wie also Arbeit organisiert werden soll. In der neuen Organisation können das eigentlich nur die Beschäftigten selbst sein. 

Susanne Ehmer: Ja, aber durchaus im Zusammenspiel.
 

Aber diese zentrale Instanz, die den Kopf der Organisation bildet, die kann es nicht mehr geben? 

Susanne Ehmer: Nein. Herbert Schober-Ehmer: Herbert Schober-Ehmer: Wenn man Führung als Systemleistung versteht, dann hängt diese nicht mehr an der einen Person, sondern wird zum gemeinsamen Prozess, an dem alle zu beteiligen sind. Es geht darum, einen Impuls zu geben, wahrzunehmen, wie dieser Impuls aufgenommen wird, und dies dann für den nächsten Impuls zu nützen. Wie beim Tango Argentino. Der Tango Argentino lebt von der Improvisation, von der Beobachtung des Umfeldes, von den Möglichkeiten beider Partner und wie diese sich aufeinander einlassen.
 

Haben Sie ein Beispiel? 

Herbert Schober-Ehmer: Wir kennen ein Unternehmen, in dem nicht von der Entwicklung der Führungskräfte die Rede ist, sondern von der Entwicklung des Führungssystems, und zwar anhand von sechs zentralen Themen: Wie bewältigen wir Komplexität, wie gestalten wir das Beziehungsgefüge … 

Susanne Ehmer: … wie gestalten wir Kollaboration, wie gestalten wir Reflexion, wie gehen wir mit Wissen um und wie gestalten wir unser Innovationsmanagement? Das sind die zentralen Themen. 

Herbert Schober-Ehmer: In dieser Organisation tauschen sich alle Führungsebenen gemeinsam über diese Themen aus. Die Mitarbeiter sind in diesen Prozess noch nicht einbezogen, das steht eindeutig noch an. Aber immerhin überlegen die verschiedenen Führungsebenen nicht getrennt, wie das Führungssystem zu entwickeln ist, sondern interaktiv. Das Schlagwort heißt "Connected Leadership".
 

"Connected", das spielt auf die Verbundenheit, auf das Gemeinsame an? 

Susanne Ehmer: Auf das Gemeinsame und das Aufeinanderbeziehen zwischen den Hierarchieebenen, aber auch darüber hinaus: zum Markt, zu den Kunden - also ein Aufeinanderbeziehen aller relevanten Aspekte, Dimensionen und Akteure.
 

Welche Bedeutung hat Hierarchie in diesem Führungsmodell? Braucht es die noch? 

Susanne Ehmer: Ja, die braucht es noch. Wir beobachten bei vielen Unternehmen, dass die Hierarchie als ein Stabilitätsfaktor notwendig ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Unternehmen, die Hierarchie ganz abschaffen. Hier gilt es wiederum, zu beobachten: Welche Wirkung hat das und welche Überlegungen stehen dahinter? 

Herbert Schober-Ehmer: Die Antwort auf die Frage, ob Hierarchie noch nötig ist, ist nicht mit Ja oder Nein zu geben. Im Sinne der Organisation N. N. kommt es darauf an, ob es in einer Organisation Wertschöpfungsprozesse gibt, die eine Struktur mit verschiedenen Funktionsebenen erforderlich machen. Manchmal kann es durchaus sinnvoll sein, die Hierarchie als Organisationselement zu benutzen, damit die Personen in der Wertschöpfung sich auf ihre Aufgabe konzentrieren können.
 

Bin ich jetzt in die Falle des großen Gegensatzes gegangen? Will sagen: Man kontrastiert in heuristischer Absicht das Alte mit dem Neuen - und verfällt dem Fehlschluss, das Neue sei besser als das Alte? Es gibt kein Besser oder Schlechter mehr? 

Susanne Ehmer: Nicht generalisiert. Für eine bestimmte Situation gibt es natürlich schon besser und schlechter im Sinne von hilfreich oder nicht hilfreich. Da sind wir wieder bei der Gleichzeitigkeit: Es kann sehr wohl ein Sowohl-als-auch geben, nicht nur ein Entweder-oder.
 

Was bedeutet Gleichzeitigkeit für Sie? 

Herbert Schober-Ehmer: Ein Beispiel: Als Führungskraft muss ich mich auf mich selbst und auf die Mitarbeiter und meine Kollegen einlassen, um wirksam sein zu können, zugleich muss ich aber die nötige Distanz zu mir selbst und zum anderen sicherstellen. Ich muss gleichzeitig auf Stabilisierung und auf Beweglichkeit achten. Ich muss mich um die Anliegen oder Sorgen meines Teams kümmern und gleichzeitig Verantwortung für das Ganze übernehmen.
Gleichzeitigkeit heißt aber nicht, dass wir alles gleichzeitig tun müssen; damit ist nicht Multitasking gemeint, sondern die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Organisationsformen und Anforderungen. Die Frage ist nicht: Ist das eine oder andere richtig? Sondern es gilt, Paradoxien als solche anzunehmen. Organisationen sind, wie immer man sie auch gestaltet, um Paradoxien herum gebaut.
 

Welche Paradoxien sind das? 

Susanne Ehmer: Sie resultieren letztlich aus der Ausdifferenzierung der Organisation in die verschiedenen Aufgabenbereiche: Vertrieb, Produktion und so weiter. Durch die verschiedenen Abteilungen können die verschiedenen Logiken unterschiedlicher Aufgaben parallel arbeiten und gleichzeitig verzahnt werden. Es gibt viele Paradoxien, die ständig gegeneinander zu balancieren sind: zwischen Personenorientierung und Funktionsorientierung, zwischen Stabilität und Flexibilität, zwischen Innenorientierung und Außenorientierung, zwischen Innovation und Tradition … Von diesen Paaren wird manchmal nur eine Seite bearbeitet und die andere vernachlässigt. Das geht oft erstaunlich lang gut, aber es kann zu spät sein, wenn die andere Seite wieder in den Blick geholt werden muss. 

Herbert Schober-Ehmer: Aporien - also logische Ausweglosigkeit - begleiten unser Leben und beschäftigen uns immer wieder. Aber sie in Organisationen als solche zu erkennen und damit umzugehen, das ist nach wie vor mit Erstaunen verbunden. Ich nenne ein Beispiel: Um die Aufgaben in einem Projektteam zu erfüllen, braucht es gleichzeitig Autonomie der Teammitglieder und ein hohes Maß an Verbindlichkeit, und das heißt Verlust von Autonomie. Es braucht also Freiheit und Disziplin. Solche Widersprüche muss man strukturell oder über Festlegungen bewältigen, die brisantesten Aspekte kann man aber nur kommunikativ lösen. Das erfordert lebendige Auseinandersetzung statt der üblichen langweiligen Meetings. 

Susanne Ehmer: … und eine andere Form der Beobachtung und der Selbstbeobachtung. Widersprüche lassen sich wesentlich leichter handhaben, wenn man sich der jeweiligen Rolle bewusst wird, die man gerade innehat. Ein Mediziner im Krankenhaus ist der Experte, der Wissende, als Führungskraft in seiner Abteilung ist er aber auch der Fragende. Der Akteur muss sich also immer wieder klarmachen: Aus welcher Rolle heraus und mit welcher Perspektive gehe ich an die Anforderungen heran?
 

Im Gespräch ist von "Organisationen bauen" die Rede gewesen. Inwieweit lassen sich Organisationen überhaupt bauen oder umbauen? 

Herbert Schober-Ehmer: Das ist eine Metapher, die in die Irre führen kann. Es spukt noch immer das Bild vom Zahnrad und dem Sand im Getriebe herum. Einerseits ist es die Aufgabe von Organisationen, nur bestimmtes Verhalten zu erlauben und anderes zu verhindern. Notwendigerweise sind sie also "triviale Maschinen", wie Heinz von Foerster jene Systeme genannt hat, wo man sich darauf verlassen kann, dass ein bestimmter Input zum geplanten Output führt. Zugleich aber sind Organisationen keine trivialen Maschinen, sie sind immer auch organische, lebendige, eigensinnige Dinger. Die Funktionsweise des Organischen zu beschreiben, ist aber viel schwieriger, und so bleiben metaphorische Fehlgriffe in Verwendung.
 

Lassen sich Organisationen nun bauen respektive umbauen oder nicht? 

Herbert Schober-Ehmer: Lassen Sie mich die Frage so beantworten: Wirklich umbauen kann man nur die Gebäude oder die Büros, und das hat sicher Einfluss auf das Miteinander, auf den Austausch. Das Entscheidende aber entzieht sich schon wieder dem Feststofflichen. So gesehen kann auch das Umzeichnen des Organigramms Wirkungen auslösen, aber man kann kaum voraussagen, ob diese der Intention folgen.
 

Geht es Ihnen also um ein besseres Change Management? 

Susanne Ehmer: Letztlich ja. Wir beobachten immer noch ein Verständnis, nach dem man einen Change-Prozess aufsetzt, ihn durchführt, und dann ist er abgeschlossen. Das hilft heute nicht mehr weiter. Passender wäre es, von evolutionären, eigentlich permanenten Anpassungsprozessen auszugehen, das ist nicht mehr klassisches Change Management.  

Herbert Schober-Ehmer: Es gibt ja gute Erfahrungen mit der Wirkung der kontinuierlichen Veränderungsprozesse in der Produktion. Diese Idee lässt sich ausdehnen: Warum nicht auch die Art und Weise zur Disposition stellen, wie Meetings ablaufen, wie unterschiedliche Wertschöpfungsketten verknüpft sind, wie Entscheidungen getroffen werden? Das sollte zu einem permanenten Thema werden. Das erspart zugleich das Erschrecken vor dem nächsten Change-Prozess - den man eh kaum zu Ende bringt, weil sich da draußen schon wieder etwas verändert hat.
 

Routinefrage: Haben wir etwas vergessen, nicht gestreift? 

Susanne Ehmer: Ganz wesentlich neben der Beobachtung des Geschehens in der Organisation und des Umfeldes ist die Selbstbeobachtung. Man kann auch sagen, die Beobachtung meiner Beobachtungen: Wie beobachte ich? Was nehme ich in den Blick, um zu einer Entscheidung zu kommen? Was sind meine Grundannahmen? So entdeckt man möglicherweise, was nicht im Blick war.
In einigen Unternehmen gehört es schon zur Routine, sich wechselseitig zu befragen: "Was bedeutet das für dich?", "Welche Schlussfolgerungen ziehst du daraus?" So gewinnt man ein breiteres Spektrum an Sichtweisen, die mit in die Diskussion kommen.
 

Noch was? 

Herbert Schober-Ehmer: Eines scheint mir noch wichtig: Arbeiten, Führen, Gestalten in Organisationen sollte wirklich Freude machen. Das gelingt am besten, wenn man lernt, Situationen, Ereignisse und sich selbst sowohl positiv als auch relativ zu sehen, das heißt, mit Humor an die Dinge heranzugehen. Und die Ästhetik spielt eine große Rolle. Mathematiker sagen: Eine Formel muss ästhetisch sein. Wenn sie nicht ästhetisch ist, dann stimmt irgendetwas nicht. Warum also nicht fragen: Sind die Vorstellungen, die wir uns machen, ästhetisch? Sind unsere Meetings, unsere Meetingräume anregend? Ist unsere Art, miteinander zu kooperieren, elegant und einladend? Was begeistert uns? Letztlich sind diese emotionalen Aspekte ausschlaggebend für eine erfolgreiche Organisation.
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt. 


Zitate


"Wir brauchen einen veränderten Blick, ein verändertes Verständnis von Organisation und daher auch ein verändertes Gestalten von Organisation." Susanne Ehmer: Form auf Zeit

"Sucht nicht nach der richtigen oder derzeit angesagten Organisationsform. Sondern habt den Mut, die eigene Organisation selbst zu erfinden!" Herbert Schober-Ehmer: Form auf Zeit

"Es geht also nicht darum, das einmal gefundene Modell zu optimieren - das war der bisherige Weg - sondern immer wieder zu entdecken: Was brauchen wir jetzt?" Herbert Schober-Ehmer: Form auf Zeit

"Unsere Botschaft lautet: Gestalte das Unternehmen nicht nach einer Organisationslogik, sondern beobachte, was die unterschiedlichen Funktionsbereiche und die unterschiedlichen Prozesse brauchen." Herbert Schober-Ehmer: Form auf Zeit

"Es gibt keinen fixen Organisationstyp, sondern das Unternehmen schafft sich die Formen, die es braucht." Susanne Ehmer: Form auf Zeit

"Wir ermutigen zur Beobachtung der eigenen Organisation: Was wird getan, auf welche Art und Weise wird es getan und welche Wirkung hat das auf den Inhalt und die Akzeptanz?" Susanne Ehmer: Form auf Zeit

 

changeX 28.04.2016. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: ÜberLeben in der Gleichzeitigkeit. Leadership in der "Organisation N. N.". Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2016, 336 Seiten, 39 Euro, ISBN 978-3-8497-0103-1

ÜberLeben in der Gleichzeitigkeit

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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