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In der Zukunft beginnen

Digital denken lernen - ein Gespräch mit Christian Spancken
Interview: Winfried Kretschmer

Im Mittelstand wiegen sich viele Unternehmer noch immer in falscher Sicherheit. Sie glauben an ihr Produkt. Und gehen mit dem digitalen Wandel genauso um wie mit den bisherigen Veränderungsprozessen: abwarten, beobachten, gegebenenfalls nachziehen. Doch das funktioniert heute nicht mehr. Denn der digitale Wandel verläuft nicht mehr allmählich. Sondern schneller. Sprunghafter. Disruptiv. Dafür sind die alten Strategien und Vorgehensweisen zu gemächlich. Worauf es ankommt: Digital denken lernen. Und das heißt: Das Unternehmen von der Zukunft her denken.

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Digital denken, für Christian Spancken heißt das: Dinge infrage stellen, sie neu interpretieren, ungewöhnlichen Gedanken eine Plattform geben. Digitale Transformation setzt für ihn in der Zukunft an: Sie beginnt dort, wo man über neue Geschäftsmodelle, klare Kundenzentrierung und neue Antworten auf Probleme nachdenkt. Digital denken, das bedeutet auch: Statt nach dem perfekten Produkt zu streben, herausfinden, was der Kunde wirklich will. Mittels Daten. 

Christian Spancken ist Wirtschaftsinformatiker und seit über zehn Jahren Geschäftsführer einer Marketingagentur mit Schwerpunkt Online- und B2B-Marketing. Er ist Vortragsredner für Digitalisierung, hat Lehraufträge in Köln, Bonn, Dortmund, und er ist einer von zwölf offiziellen Trainern der Google Partner Academy.
 

Herr Spancken, die Masterfrage: Was muss man wissen, um die digitale Transformation zu verstehen? 

Das ist eine sensationelle Frage. Sie zielt ein wenig darauf ab, dass es da diese eine Information gibt, die man wissen muss, die man sich erarbeiten kann, und dann ist man digital. Aber genau das ist das Paradoxon der digitalen Transformation: Sie bedeutet für jeden etwas anderes. Für den einen ist schon der Umstieg von Fax auf E-Mail eine digitale Transformation. Der andere spricht gleich von künstlicher Intelligenz.
 

Dann lassen Sie mich die Frage anders stellen: Was bedeutet digitale Transformation für Sie? 

Ich verstehe darunter, mit Veränderung umzugehen. Also: Veränderung zulassen und adaptieren sowie digitale Technologie und digitale Geschäftsmodelle für sich entdecken. Grundsätzlich setzt digitale Transformation in der Zukunft an: Sie beginnt dort, wo man über neue Geschäftsmodelle, klare Kundenzentrierung und neue Antworten auf Probleme nachdenkt.
 

Und wo liegt die große Herausforderung? Oder muss das jedes Unternehmen für sich selbst entscheiden, für sein eigenes Geschäft? 

Der Mittelstand war in Deutschland in den letzten 40, 50 Jahren immer die tragende Säule und ist auch nach wie vor sehr erfolgreich. Neue Wellen an Technologien und Automatisierung wurden immer in einem fließenden Übergang integriert. Das hat alles die Geschäftsmodelle nicht wahnsinnig tangiert. Deshalb geht man mit dem digitalen Wandel genauso um wie mit den bisherigen Veränderungsprozessen. Man sagt sich: "Wir wollen erst mal abwarten, ob sich das durchsetzt." Hier liegen für mich die wesentliche Herausforderung und die größte Gefahr. Denn die Veränderung erfolgt zum ersten Mal nicht allmählich, sondern disruptiv. Von jetzt auf gleich ist da ein neuer Player, und der macht es so viel besser, dass ein Unternehmen das gar nicht mehr aufholen kann - auch wenn es sich noch so sehr bemüht.
 

Das heißt, die Art der Veränderung hat sich selbst verändert? 

In der Tat. Der Wandel ist viel schneller und vor allen Dingen sprunghafter geworden. In der Vergangenheit hat man gesagt: "Ich werde mich schon drauf einstellen können. Und selbst wenn ich nicht der Erste bin, ich schaue erst mal, was die anderen da so ausprobieren, und ziehe dann nach." Heute ist es anders. Bei den Suchmaschinen war lange Zeit Yahoo die Nummer eins, dann kam plötzlich Google - heute spricht kein Mensch mehr von seinem Vorgänger. Wenn sich ein neuer Akteur auf dem Markt mehr auf den Kunden konzentriert und den Prozess besser gestaltet, dann ist er mit einem Sprung um so viel besser.
 

Was würden Sie sagen, ist das entscheidende Kennzeichen dieses Wandels, die Schnelligkeit oder das Disruptive oder beides? 

Ich glaube, eher das Disruptive, denn das Disruptive bedient diese Schnelligkeit. Es geht nicht mehr nur um einen Verbesserungsprozess, sondern zum ersten Mal um eine wirkliche Veränderung, auch eine wirkliche Wahrnehmungsveränderung: Zum ersten Mal müssen Unternehmen user-centric oder nutzerzentriert denken. Das ist gerade für mittelständische Unternehmen total schwierig, denen schon in Fleisch und Blut übergegangen ist: "Wir liefern ein megagutes Produkt, und der Kunde kann dankbar sein, dass er das bekommt." Und dann kommt ein anderer und sagt: "Pass auf, der Kunde hat noch ganz andere Probleme, und die löse ich ihm gleich mit."
 

Sie schreiben, viele mittelständische Unternehmer wollten nicht einsehen, welcher Gefahr sie sich aussetzen, wenn sie nicht umdenken. Doch was braucht es dazu? 

Unternehmer müssen wieder ihren Pioniergeist und ihren Mut auspacken, den sie alle hatten, als sie sich selbständig gemacht haben. Also wieder mit Spaß neue Wege und Denkansätze ausprobieren, statt zu sagen: "Das kann eh nicht funktionieren." Die Unternehmensleitung ist zur Verwaltungsaufgabe geworden, und vielfach regiert Bedenkenträgertum. Wir sehen eher Probleme als Chancen. Das müssen wir umdrehen und dürfen nicht immer Angst vor dem Scheitern haben. Deutschland will immer das perfekte Produkt und das perfekte Ergebnis, wohingegen andere Länder, die in der Digitalisierung viel, viel weiter sind, eher denken: "Wir gehen schnell raus auf den Markt und testen, und wenn es dann mal schiefgeht, ist es nicht so schlimm. Dann haben wir so viel Erfahrung gesammelt, dass wir das nächste Mal viel besser sind. Im Zweifelsfall machen wir ein paar Experimente nebeneinander, eins davon wird schon funktionieren. So habe ich mehr gewonnen, als wenn ich erst das Perfekte erarbeite, dann aber feststelle: ‚Das braucht gar keiner.‘" Die zentrale Erkenntnis, vor der sich viele Unternehmer und Manager drücken, lautet: Das Geschäftsmodell, wie wir es im Moment betreiben, wird nicht mehr lange funktionieren.
 

Wie können digitale Tools es Unternehmen erleichtern, den Fokus auf den Kunden zu richten? 

Indem sie viel, viel mehr Inhalt und Daten liefern. Früher bedeutete es relativ viel Aufwand, herauszufinden, was der Kunde tatsächlich will. Dazu musste man Marktforschung betreiben oder eine Studie machen. Heute können Unternehmen mit relativ einfachen Mitteln, teilweise sogar Gratistools, herausfinden: Wie bewegt sich ein Nutzer auf unserer Website? Welche Produkte und welche Teile der Informationsvideos schaut er sich wie lange an? Was interessiert ihn, was interessiert ihn nicht? Auf Basis dessen gewinnt man natürlich viel, viel schneller Erkenntnisse über potenzielle Kunden.
 

Das Schlüsselzitat aus dem Buch: "Digital handeln kann nur, wer digital denkt." Was heißt digital denken? 

Digital denken bedeutet für mich, flexibel zu werden, und zwar sowohl flexibel im Hinblick darauf, was die Zukunft bringen kann, als auch im Hinblick darauf, was der Kunde tatsächlich will. Das alte analoge Denken sagt: "Das, was ich liefere, ist das Beste und Schönste, was es gibt." Digitales Denken heißt: "Ich bin in der Lage, etwas vollständig infrage zu stellen und beispielsweise nicht in einer Hierarchie zu denken." Wer sagt denn, dass in einem Unternehmen der Azubi keine Ahnung hat und mir nicht helfen kann? Vielleicht ist gerade er im nutzerzentrierten Denken oder den digitalen Möglichkeiten, die wir heute über Technologie oder Plattformen haben, viel tiefer drin als der 45-jährige oder 50-jährige Vertriebsleiter. Sobald wir beginnen, Dinge infrage zu stellen, neu zu interpretieren, ungewöhnlichen Gedanken eine Plattform zu geben, fangen wir an, digital zu denken.
 

Wie schafft ein Unternehmen den Wechsel im Denkmodus? 

Radikal den Schalter umlegen funktioniert nicht. Damit riskiert man, erfahrene und bewährte Mitarbeiter runterfallen zu lassen, denen das vielleicht zu schnell geht, zu komplex ist oder die vielleicht auch zu Recht ihre Arbeitsplätze bedroht sehen. Der erste Schritt ist, zu überlegen: Welche Bereiche im Unternehmen kann man losgelöst von anderen betrachten? Welche Projekte oder Geschäftsbereiche bieten sich vielleicht als eine Art Experimental-Lab an? Wo lassen sich digitales Denken und neue Geschäftsmodelle erproben, um das dann auf andere Bereiche zu übertragen? Gleich das ganze Unternehmen umkrempeln zu wollen, kann hingegen schnell scheitern.
 

Sie schreiben von einer Parallelwelt, in der Produkte, Strategien, Geschäftsmodelle anders gedacht, gemacht und gelebt werden als in traditionellen Unternehmen. Entstehen in diesem Bereich Disruptionen? 

Absolut. Uber oder mytaxi sind nur zwei Beispiele. Was die auszeichnet: Es sind alles Modelle, die analog und digital miteinander verschmelzen. Unternehmen, die das Disruptive nicht so hinkriegen, denken: "Irgendwie müssen wir vom analogen zu einem digitalen Geschäftsmodell hinkommen." Die verstehen gar nicht, dass beides zusammengehört! Man spricht auch gerne von "Digital Twins": Geschäftsmodelle, die analog genauso funktionieren wie digital. Genau dann werden Geschäftsmodelle spannend! Dazu muss man aber akzeptieren, dass alles, was es für digitale Geschäftsmodelle braucht, heutzutage Stand der Technik ist. Es gehört genauso zum Leben dazu wie Autos oder Maschinen.
 

Ist Starrheit ein Kennzeichen der alten Strukturen? Also eine Denkweise, die zu sehr dem Entweder-oder statt dem Sowohl-als-auch verhaftet ist? 

"Richtig oder falsch", "schwarz oder weiß" - diese Denke hat in vielen Bereichen ihre Berechtigung, nach wie vor. Aber natürlich wird dadurch viel ausgeschlossen - aus Angst, etwas zu verlieren. Dann ist man nicht mehr bereit, auch mal eine Stufe runterzugehen …
 

… eine Stufe runter, das heißt, eine kleinere Lösung zu wählen? 

Sagen wir, ein Feld des Ausprobierens zu wählen, wo man auch etwas verlieren kann. Aber diesen Verlust kann man ja begrenzen. Ich muss nicht die Zukunft meines ganzen Geschäfts oder Unternehmens aufs Spiel setzen. Heute werden im Mittelstand die meisten Entscheidungen folgendermaßen getroffen: Man überlegt, tauscht sich aus, diskutiert und wählt dann eine Variante, die man bis zur Perfektion entwickelt, bevor sie rausgeht. Ein grundsätzliches Kennzeichen von Digitalisierung ist jedoch, verschiedene Modelle einander gegenüberzustellen und datengetrieben zu entscheiden, welches das beste ist. Dass man also sagt: "Wir haben hier jetzt drei verschiedene Ideen, lasst uns mal alle drei in einen Prototyp umsetzen und testen, wie die Kunden darauf reagieren, auch mit dem Risiko, dass wir nachher zwei davon einstampfen müssen." Bis heute ist diese Vorgehensweise jedoch für viele Unternehmen utopisch!
 

Also ist das auch ein Kennzeichen dieser alten Denkweise: dieses Fertigmachen-Wollen bis zum perfekten Produkt. 

Absolut. Das Fertigmachen-Wollen des perfekten Produkts und die Vorhersage des perfekten und idealtypischen Verlaufs - beides behindert Unternehmen, denn es ist nicht möglich. Geschäftsmodelle oder Businesspläne, wie sie bisher gebaut wurden, sind Kurven, die im Idealfall Wachstum generieren oder im Worst Case linear verlaufen. Ein digitales Geschäftsmodell ähnelt jedoch einem Hockey Stick. Das heißt, es läuft lange Zeit an der Achse null, aber irgendwann hat es den Punkt erreicht, an dem der Nutzen so hoch ist, dass es von null auf quasi unendlich springt. Exponentiell. Aber das kann man nicht planen. Weder den Zeitpunkt, an dem es passiert, noch, ob es passiert.
 

Haben Sie ein Beispiel? 

Facebook ist von der Technologie her nichts Neues, soziale Netzwerke gibt es en masse. Wir erinnern uns wohl alle noch an studiVZ, auch ein großes Netzwerk. Doch plötzlich war da diese eine Plattform, die den Mehrwert hatte, dass sich alle weltweit miteinander vernetzen konnten: Facebook. Dadurch war alles andere mit einem Schlag uninteressant geworden. Beziehungsweise überflüssig. Oder das iPad: Tablet-Rechner und Touchscreens gab es schon eine ganze Zeit lang, nur die wenigsten haben sie genutzt. Doch auf einmal kam eine Technologie, die einfach zu bedienen war, optisch ansprechend, mit einem geilen Marketing - und auf einmal ist der Tablet-Markt einer der relevantesten Märkte für die Hardware-Hersteller geworden.
 

Um das Wesen der Veränderung noch mal auf den Punkt zu bringen: Der Wandel ist die neue Konstante? 

Für mich ist die Zukunft agil. Ein Unternehmen kann nicht mehr sagen: Ich mache ein Veränderungsprojekt, das läuft zwei Jahre, und dann bin ich digital und kann ich mich erst mal wieder 40 Jahre ausruhen. Heute müssen wir davon ausgehen, dass egal, was wir entwickeln, egal, was wir denken, egal, welches Geschäftsmodell siegt, die Veränderung immer weiter voranschreiten wird - und zwar schneller und schneller. Es gilt also, eine Struktur oder Organisationsform zu finden, die es zulässt, dass Unternehmen sich kontinuierlich verändern können.
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt.
 


Zitate


"Digitale Transformation setzt in der Zukunft an: Sie beginnt dort, wo man über neue Geschäftsmodelle, klare Kundenzentrierung und neue Antworten auf Probleme nachdenkt." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Der Wandel ist viel schneller und vor allen Dingen sprunghafter geworden." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Unternehmer müssen wieder ihren Pioniergeist und ihren Mut auspacken, den sie alle hatten, als sie sich selbständig gemacht haben. Also wieder mit Spaß neue Wege und Denkansätze ausprobieren, statt zu sagen: ‚Das kann eh nicht funktionieren.‘" Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Die zentrale Erkenntnis, vor der sich viele Unternehmer und Manager drücken, lautet: Das Geschäftsmodell, wie wir es im Moment betreiben, wird nicht mehr lange funktionieren." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Digital denken bedeutet, flexibel zu werden, und zwar sowohl flexibel im Hinblick darauf, was die Zukunft bringen kann, als auch im Hinblick darauf, was der Kunde tatsächlich will." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Sobald wir beginnen, Dinge infrage zu stellen, neu zu interpretieren, ungewöhnlichen Gedanken eine Plattform zu geben, fangen wir an, digital zu denken." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

"Es gilt, eine Organisationsform zu finden, die es zulässt, dass Unternehmen sich kontinuierlich verändern können." Christian Spancken: In der Zukunft beginnen

 

changeX 19.10.2018. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Christian Spancken Digital denken statt Umsatz verschenken. Online-Strategien für den Mittelstand und im B2B-Geschäft. Econ Verlag, Berlin 2018, 224 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 9783430202428

Christian Spancken Digital denken statt Umsatz verschenken

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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