Vorstellungen von einem guten Leben

Zu Nicht-Nachhaltigkeit und Tierrechten - die pro zukunft-Buchkolumne 05/2020
Doppelrezension: Hans Holzinger, Birgit Bahtić-Kunrath

Zwei Themen mit Zukunft. Warum tun sich unsere Gesellschaften so schwer damit, einen nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensstil umzusetzen? Und müssen wir Menschen unser Verhältnis zu Tieren nicht grundsätzlich überdenken? Zwei Bücher machen diese Fragen zum Thema. Nachdenken über Nicht-Nachhaltigkeit. Und über ein Recht auf Rechte für Tiere. Eine Doppelrezension zweier Bücher aus unserer Auswahl der Zukunftsbücher des Jahres. Zwei Bücher, die unsere Vorstellungen von einem guten Leben in Frage stellen.

Nicht-Nachhaltigkeit und Tierrechte: Birgit Bahtić-Kunrath und Hans Holzinger von der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen haben sich zwei Titel zu diesen Themen angesehen.


Nachhaltig nicht-nachhaltig


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Er bleibe Optimist, aber als Sozialwissenschaftler versuche er, die Dinge nüchtern zu analysieren, schreibt Ingolfur Blühdorn, Professor für soziale Nachhaltigkeit an der Wirtschaftsuniversität Wien. In dem mit Kollegen und Kolleginnen verfassten Buch Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit begründet der Nachhaltigkeitsforscher seine Skepsis in Bezug auf den ökologischen Wandel. Die mangelnde Steuerungsfähigkeit unserer komplexen ausdifferenzierten Gesellschaften, bestehende Herrschaftsverhältnisse in unserem Wirtschaftssystem oder zu wenig Aufklärung mögen Gründe dafür sein, dass die ökologische Wende nicht gelingt. Der entscheidende Punkt sei jedoch, so Blühdorn, dass unsere Vorstellungen von Freiheit und einem guten Leben der Nachhaltigkeit diametral entgegenstehen. Und diese Vorstellungen seien unverhandelbar, der gebotene Wandel sei daher nicht mehrheitsfähig. Deswegen sei das einzig Nachhaltige eben die Nicht-Nachhaltigkeit. Das Buch argumentiert, dass es in unserer Gesellschaft einen breiten Konsens gebe, keine Abstriche bei der eigenen Lebensweise machen zu wollen. So sei die Verschärfung der Krise unausweichlich. 

Das gute Leben für alle sei zwar eine schöne Utopie, aber eben nicht für alle machbar, umreißt Blühdorn jene Einstellung, die sich derzeit breitmache. Appelle an eine gemeinsame Verantwortung oder an eine Weltgemeinschaft würden im "Me first"-Denken verpuffen. Und der Katastrophendiskurs von Umweltbewegten greife auch nicht. Denn nicht der Planet oder die Menschheit insgesamt seien bedroht, sondern nur Teile davon. Die "Denkfigur der Katastrophe" oder jene der "Rache der Natur" verfehle seine Wirkung. Verdrängung sei angesagt nach dem Motto: "Ist ja nicht mein Regenwald. Ich möchte mein billiges Fleisch auch weiterhin genießen." Die Waldbrände im letzten Jahr, die Demonstrationen von Fridays for Future oder die Erfolge der Grünen bei den Europawahlen hätten ein Zeitfenster für die Ökowende geöffnet. Die Coronapandemie habe dieses wieder geschlossen, so Blühdorn, der Hoffnungen auf einen Paradigmenwechsel im Zuge der Krise nicht erkennen will. Angesagt sei eher die rasche Rückkehr zur alten Normalität. Die Krise des Kapitalismus sei nun mit gigantischen Konjunktur- und Rettungspaketen ein weiteres Mal aufgeschoben worden, man habe noch einmal Zeit gekauft. 

Notwendig sei ein attraktives Gegenmodell einer besseren Welt, wir täten uns aber schwer, dieses einer Mehrheit der Bevölkerung als attraktiv zu vermitteln. Nicht nur das. Die Ökologiebewegung werde selbst Teil des Problems, wenn sie behaupte, man könne die Krise verhindern, ohne unseren Lebensstil grundlegend infrage zu stellen. 

Resümee: Blühdorns nüchterner Blick ist wichtig. Um sich nichts vorzumachen. Aber vielleicht wird er doch nicht recht behalten. Die sich verdichtende Häufigkeit sowohl von Krisen wie von gesellschaftlichen Neuansätzen könnte durchaus dazu führen, dass die Ökowende doch noch gelingt. Von Hans Holzinger


Ein Recht auf Rechte


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Gerade als im Zuge der Covid-19-Pandemie die horrenden Bedingungen in der fleischverarbeitenden Industrie öffentlich diskutiert wurden, legte Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie und Philosophie in Berlin, ein gehaltvolles Werk zu Tierrechten vor. Ladwig beginnt mit einer Bestandsaufnahme tierischer Unterwerfung unter menschliche Bedürfnisse. Diese Unterwerfung ist institutionalisiert; die industrielle Fleischproduktion ist das beste Beispiel dafür. Diese Institutionalisierung von Tierleid ist das zentrale Argument für eine politische Philosophie der Tierrechte. Eine solche entwickelt der Autor in zwei Schritten: mit der Klärung des moralischen Status von Tieren und mit Fragen zu Rechtspflichten von Menschen gegenüber Tieren. Diese Rechtspflichten sind in politisches Handeln eingebettet, was eine eigene politische Theorie der Tierrechte rechtfertigt. 

Schrittweise arbeitet Ladwig Argumente für einen moralischen Status von Tieren heraus, was schließlich in ein "Recht auf Rechte" für Tiere mündet. Dieser moralischen Status wird mit einer speziesneutralen Interessenbetrachtung fundiert: Wie auch Menschen haben Tiere fundamentale Interessen, die Teil einer individuellen Erfahrungswelt sind. Tiere erleben Schmerz als unerfreulich, wollen weiterleben in "physischer und psychischer Funktionsfähigkeit" und suchen Wohlbefinden - beispielsweise, indem sie ihrer Natur entsprechend agieren können. In einem Gedankenexperiment bringt der Autor ein hypothetisches Vetorecht ins Spiel: Was wäre, wenn Tiere ein Veto gegenüber ihrer Behandlung durch Menschen einlegen könnten? "Das Vetorecht (…) verhindert Ergebnisse, die für noch so wenige Individuen unerträglich oder geradezu abwertend wären. Es ist ein Recht auf Rechte." 

Demzufolge erhalten Tiere moralische Statusgleichheit zum Menschen - doch geht der Autor differenziert vor, vor allem wenn Interessen von Tieren und Menschen kollidieren: "Echte Konflikte sind möglich, und manchmal ziehen Rechte darin aus guten Gründen den Kürzeren. Sie werden dann nicht verletzt, wohl aber übertreten." Ein Beispiel dafür wäre medizinische Forschung an Labortieren, die viele Menschenleben retten könnte und damit eine Übertretung von Tierrechten erlauben würde - jedoch nicht etwa der aus "trivialen" Gründen erfolgende Verzehr von Tieren: "Wir konsumieren sie, weil uns der Geschmack zusagt, aus Gewohnheit oder ähnlich schwachen Gründen." 

Im nächsten Schritt diskutiert Ladwig, welche Rechtspflichten und damit Formen des politischen Handelns sich aus dem moralischen Status von Tieren ergeben. Gerade für Tiere, die in enger Beziehung zum Menschen stehen, könne es keine absolute Freiheit jenseits von menschlicher Kontrolle geben bzw. würde eine solche für diese Tiere sogar Stress und Tod bedeuten. Doch hat der Mensch eine Fürsorgepflicht diesen Tieren gegenüber. 

Ein komplexes Thema ist die politische Einbeziehung von Tieren. Freilich ist es absurd, zu glauben, dass Tiere am politischen Willensbildungsprozess teilhaben können. Auch können sie mangels eines Sinnes für Recht und Unrecht nicht zur Verantwortung gezogen werden. Und doch gibt es Möglichkeiten, die Interessen der Tiere angemessen zu repräsentieren: dadurch, dass "politische Mitgliedschaft" von Tieren nicht als aktives Bürgertum, sondern als Besitz von Rechten betrachtet wird, die vom Staat entsprechend zu schützen sind. Auch könnten Tierinteressen direkt im politischen Prozess durch gewählte Dritte repräsentiert werden: "Menschen würden dann nicht nur für Tiere politisch entscheiden, sie würden auch darüber entscheiden, wer für die Tiere entscheiden darf." Zudem solle, analog zum Konzept des Gender Mainstreamings, ein "Spezies-Mainstreaming" in politische Entscheidungen einfließen. Daraus folgt eine "emphatische politische Theorie der Tierrechte": "Sie affirmiert manche dauerhaften und institutionalisierten Mensch-Tier-Beziehungen - nicht wie sie sind, doch wie sie sein könnten. Sie nimmt an, dass wir unterdrückerische und ausbeuterische in wirklich allseits akzeptable Beziehungen verwandeln könnten." 

Am Ende seiner Ausführungen spricht sich der Autor für einen radikalisierten Tierschutz mit Differenzierungen aus - man denke an das Beispiel der Labortiere. Um einen solchen umzusetzen, braucht es zivilgesellschaftliches Engagement bis hin zum zivilen Ungehorsam, solange dieser wirklich den Interessen von Tieren nützt. Gewaltlosigkeit bleibt dabei oberstes Prinzip, ebenso wie die Dialogfähigkeit. Politische Philosophie der Tierrechte kontextualisiert so die mannigfaltigen Debatten rund um Mensch-Tier-Beziehungen in eine politische Theorie, die sich sowohl durch Radikalität als auch durch Augenmaß auszeichnet. Von Birgit Bahtić-Kunrath 


Zitate


"Bioprodukte zu essen ist gut, aber wer das Klima retten will, sollte lieber wählen gehen." Ingolfur Blühdorn et al.: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit

Über Tiere: "Wir konsumieren sie, weil uns der Geschmack zusagt, aus Gewohnheit oder ähnlich schwachen Gründen." Bernd Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte

 

changeX 15.12.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Nachhaltige Nicht-Nachhaltigkeit. Warum die ökologische Transformation der Gesellschaft nicht stattfindet. transcript Verlag, Bielefeld 2020, 334 Seiten, 19.99 Euro (D), ISBN 978-3-8376-4516-3

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: Politische Philosophie der Tierrechte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 411 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-518-29915-9

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Autorin

Birgit Bahtić-Kunrath, Hans Holzinger
Birgit Bahtić-Kunrath, Hans Holzinger

Birgit Bahtić-Kunrath ist Mitarbeiterin, Hans Holzinger Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen. Die Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (JBZ) in Salzburg versteht sich als Einrichtung einer kritischen und kreativen Zukunftsforschung. Sie publiziert das vierteljährlich erscheinende Magazin proZukunft, das sich als Radar für zukunftsrelevante Publikationen versteht, und organisiert Veranstaltungen und Tagungen.

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