close

changeX Login

Bitte loggen Sie sich ein, wenn Sie Artikel lesen und changeX nutzen wollen.

Sie haben Ihr Passwort vergessen?
Jetzt neu registrieren.
Barrierefreier Login

Staunen rückwärts

Die Zukunft nach Corona - das neue Buch von Matthias Horx
Rezension: Winfried Kretschmer

Es hat Aufsehen erregt, als der Trend- und Zukunftsforscher in einer frühen Phase der Coronakrise einen Blogbeitrag publizierte, in dem er den pandemischen Ängsten ein positives Zukunftsbild entgegenstellte. Und damit die Stimmungslage vieler Menschen traf. Nun gibt es das Buch dazu. Es erweitert den erzählerischen Kunstgriff des Essays, Zukunft in einem staunenden Rückblick zu erzählen, zu einer besonderen Form der Zukunftsbetrachtung: Regnose statt Prognose. Schleife statt linearer Extrapolation.

cv_horx_corona_120.jpg

Ohne Zweifel ist Matthias Horx ein bemerkenswerter Coup gelungen. Mit seinem Blogbeitrag "Die Welt nach Corona" hat der Trend- und Zukunftsforscher in einer frühen Phase der Coronakrise die Stimmungslage der Menschen getroffen und den pandemischen Ängsten ein positives Zukunftsbild entgegengesetzt. Das Bild einer entschleunigten und geläuterten Welt nach der Pandemie. Sein Beitrag ging (wenn man so will) "viral" und wurde nach eigenen Angaben millionenfach geklickt und in 20 Sprachen übersetzt. 

Und nun das Buch dazu, bemerkenswert schnell vom Econ Verlag editiert und auf den Markt gebracht. Das Buch ist eine erweiterte und fortgeschriebene Fassung dieses Essays. Und wie dieser versucht es, die Stimmung der Krise einzufangen und eine Einschätzung ihrer Bedeutung zu geben. Der Originalbeitrag ist dabei geschickt in das Buch eingebunden. Um diese Kernerzählung herum finden sich die zentralen Diagnosen des Autors zur Coronakrise weiter ausgeführt und zu einer Reflexion über die Zukunft erweitert.


Staunen rückwärts - aus dem Herbst 2020


Horx bedient sich bei seinem Zukunftsentwurf eines Kunstgriffs: In Form eines staunenden Rückblicks aus dem Herbst 2020 zeichnet er ein gelassen-optimistisches Bild der Krise und konfrontiert die Ambivalenz der Bedrohungssituation, die verbreitete Verunsicherung, die Ängste in der Pandemie mit den Chancen, die auch in dieser Krisensituation verborgen liegen: Verzichte müssten nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern könnten sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur habe sich verschoben. Humor und Mitmenschlichkeit verbreiteten sich. Das Humane trete in den Vordergrund und setze dem Technikhype ein Ende. 

Geschrieben ist dies in der Haltung eines "Staunens rückwärts", einer Verwunderung über den reflektierten Umgang der Menschen mit der Krise: Körperliche Distanz erzeugte gleichzeitig neue Nähe. Erstaunlich schnell bewährten sich digitale Kulturtechniken in der Praxis, während gleichzeitig scheinbar veraltete, der Telefonanruf zum Beispiel, eine Renaissance erlebten. Eine neue Kultur der Erreichbarkeit, der Verbindlichkeit etablierte sich. 

Optimistisch ist auch die Darstellung der wirtschaftlichen Lage. Staunen rückwärts, das gilt auch für die Ökonomie. Wir würden uns wundern, "wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie ‚Zusammenbruch‘ tatsächlich eintrat".


Kein Zurück zur Normalität


Dass dies, geschrieben wie gesagt Anfang März, angesichts zwischenzeitlich gestiegener Todeszahlen (weltweit aktuell 391.261), angesichts von Millionen Kurzarbeitern, zunehmender Insolvenzen und gravierender wirtschaftlicher Einbrüche in diversen Branchen vielleicht zynisch klingen mag, ist Teil des Experiments von Horx, Zukunft in dieser Haltung des staunenden Rückblicks zu erzählen. Letztlich wird man seine Prognose im Herbst bewerten müssen. 

Die Leichtigkeit, mit der Wirtschaft und Gesellschaft Horx’ Einschätzung zufolge die Krise wegstecken, darf auch nicht dazu verleiten, zu glauben, der ganze Spuk sei schon vorüber. Die Frage, wann Corona denn vorbei sein und alles wieder zur Normalität zurückkehren werde, beantwortet Horx mit einem eindeutigen "niemals". 

"Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert." Die Coronakrise ist für Horx ein solcher Moment: eine Bifurkation, eine Gabelung auf dem Weg in die Zukunft. Eine Tiefenkrise, die anders als andere Krisen alle Ebenen unserer Existenz betrifft. Tiefenkrisen veränderten den Mindset, "die Art und Weise, wie Menschen Realität und Gesellschaft konstruieren", sagt Horx. "Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können." 


Zukunft als fiktionale Form


Ebenso interessant wie das Zukunftsbild, das Horx entwirft, ist seine methodische Herangehensweise. Während andere Zukunftsforscher mit großem Aufwand mehrdimensionale Szenarien erstellen, die jeweils mögliche zukünftige Entwicklungspfade repräsentieren, setzt Horx auf eine relativ simple Methode: die sogenannte "Re-Gnose", einen Rückblick aus der Zukunft in die Jetztzeit (wobei kein Grund ersichtlich ist, dieses Wort anders zu schreiben als die Prognose). In seinem Blogbeitrag stellte Horx die Regnose noch als Instrument der Visionsentwicklung in Organisationen vor: In einem Workshop entwickeln die Beteiligten gemeinsam eine Vorstellung davon, wie die Zukunft der Organisation aussehen könnte - um sich dann in dieses Zukunftsbild zu versetzen und aus dieser angenommenen Zukunft aufs Heute, auf die Jetztzeit zurückzuschauen. Man kann sich vorstellen: Das erzeugt eine suggestive Wirkung, die die Bindungskraft der Vision stärkt. Diese erscheint dann plausibler, verbindlicher, überzeugender. 

Das ist der Kunstgriff, den Horx in seinem Essay verwendet. Genau besehen handelt es sich bei dieser sogenannten Regnose um eine Trendprognose plus eine Erzählperspektive: Horx entwirft ein Zukunftsbild, indem er beobachtete Trends, also Entwicklungen, die heute voraussichtlich für die Zukunft von Bedeutung sind, bündelt und in die Zukunft projiziert, hier auf den Herbst 2020. Diesen Zukunftsentwurf erzählt er dann von diesem zukünftigen Zeitpunkt aus im Rückblick, projiziert also zurück in die Jetztzeit. Das ist das "Re" bei der Prognose - Zukunft als fiktionale Form. Das Staunen verstärkt dabei den Effekt der Rückprojektion. 

Im Buch geht der Autor nun einen guten Schritt weiter. Dort findet sich der Hinweis auf den Entstehungskontext der Regnose als Methode der Visionsentwicklung nicht mehr. Dafür wird die Regnose zu einem Instrument der Zukunftsbetrachtung schlechthin ausgebaut, indem Horx die mentale Veränderung mit einbezieht, die diese Übung bei dem auslöst, der sie vollzieht. Es geht um eine Veränderung in Wahrnehmung und Denken. "Zukunft hat, zu dieser Überzeugung bin ich gekommen, immer zwei Seiten. Sie ist einerseits die Vor-Stellung des Kommenden in einem Bild, eine ‚Manifestation‘ oder Vision oder Pro-Gnose. Sie ist andererseits eine Kraft in unserer Seele, in unserem Geist, die etwas bewirkt." Horx spricht von einer futuristischen Schleife, einem "magischen Prozess, in dem wir uns innerlich dem Morgen nähern, das Neue in uns selbst üben, prüfen und uns dabei selbst neu erschaffen." Diese "innere Zukunft" ist das eigentliche Thema des Buchs: "Re-Gnose bedeutet, dass wir uns durch die Krise selbst verwandeln lassen. Wir verändern unsere Wahrnehmungsformen, und so entsteht Zukunft als neue Wirklichkeit." 


Illusion der Regnose


Das ist auf der einen Seite konsequent weitergedacht. Denn schon in seinem vorangegangenen Buch 15 ½ Regeln für die Zukunft ging es Horx um die inneren Bilder, entlang derer Menschen Zukunft konstruieren. Auf der anderen Seite ist es eine bedauerliche Verengung. Denn das Bemerkenswerte an den 15 ½ Regeln war gerade die multiperspektivische Sicht auf die Zukunft: die unterschiedlichen Entwicklungsformen von Zukunft, die Horx frisch und ohne Wertung nebeneinanderstellte. Zukunft entwickelt sich eben unterschiedlich, sie kann mal so, mal so in die Welt kommen. Es gibt weder ein festes Muster, wie Zukunft entsteht, noch eine fixe Methode, ihr auf die Spur zu kommen. Das war die Kernaussage seines vor nicht einmal einem Jahr erschienenen Buches. Und nun die Reduktion auf die Regnose, die Horx als Methoden-Monolithen präsentiert. Als die Methode der Zukunftsbetrachtung. Ganz so, als sei Multiperspektivität eine Idee von gestern. 

Horx aber geht es offensichtlich um etwas anderes: um eine Vision für die Gesellschaft. Um das neue Narrativ nach der Krise. Hier trägt dann auch wieder der Vergleich mit der Visionsentwicklung: So wie es hier darum geht, eine verbindende, handlungsleitende Vorstellung von der Zukunft einer Organisation zu schaffen, so gilt es nun, eine Vision für die Gesellschaft nach Corona zu entwickeln. Es gilt, die Situation zu nutzen. Zukunft sei eine Entscheidung, schreibt Horx in seinem vorangegangenen Buch. Aber wie gut eine Entscheidung ist, die die Alternativen nicht kennt, steht auf einem anderen Blatt. Die Regnose erzeugt eben keine alternativen Zukunftsbilder, sondern eines, das im Kunstgriff der Rückprojektion seine Plausibilität unterstreicht und daraus seine Überzeugungskraft gewinnt. Aber alternative Zukunftspfade zu kennen wäre schon gut. 

Nicht zuletzt birgt diese Suggestivkraft auch die Gefahr des Missverständnisses. Nämlich Zukunft als gegeben zu begreifen, statt als Möglichkeit. So wie es in einem der zahlreichen Blogbeiträge zu Horx’ Essay anklingt (in Originalschreibweise zitiert): "Im Gegensatz zur PRO-Gnose, die in die Zukunft schaut, schauen wir bei der RE-Gnose von der Zukunft aus zurück ins Heute!!" So als gäbe es diese Zukunft bereits. Das ist die Illusion der Regnose. 


Zitate


"Zukunft hat, zu dieser Überzeugung bin ich gekommen, immer zwei Seiten. Sie ist einerseits die Vor-Stellung des Kommenden in einem Bild, eine ‚Manifestation‘ oder Vision oder Pro-Gnose. Sie ist andererseits eine Kraft in unserer Seele, in unserem Geist, die etwas bewirkt." Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona

"Zukunft entsteht durch einen magischen Prozess, in dem wir uns innerlich dem Morgen nähern, das Neue in uns selbst üben, prüfen und uns dabei selbst neu erschaffen. Und dabei wiederum unsere Um-Welt verändern. Dieses seltsame Schleifen-Phänomen nenne ich auch ‚Re-Gnose‘ - im Unterschied zur Pro-Gnose, die die Zukunft immer nur als externe Veränderung beschreibt." Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona

"Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt." Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona

"Re-Gnose bedeutet, dass wir uns durch die Krise selbst verwandeln lassen. Wir verändern unsere Wahrnehmungsformen, und so entsteht Zukunft als neue Wirklichkeit." Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona

"Zukunft entsteht in der Frage, wie wir - als Kultur, Zivilisation, aber auch als Menschen, als Individuen - auf Krisen reagieren." Matthias Horx: Die Zukunft nach Corona

 

changeX 05.06.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

Artikeltools

PDF öffnen

Ausgewählte Links zum Thema

Quellenangaben

Zum Buch

: Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Econ Verlag, Berlin 2020, 144 Seiten, 15 Euro, ISBN 978-3-430210423

Die Zukunft nach Corona

Buch bestellen bei
Osiander
genialokal
Amazon

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Autor, Redakteur & Macher bei changeX.

weitere Artikel des Autors

nach oben