Zukunftsbuch 2022

Die Bücher des Jahres ausgewählt von pro zukunft und changeX
Auswahl und Redaktion: Katharina Kiening und Winfried Kretschmer

Die inspirierendsten Bücher des zurückliegenden Jahres. Ausgewählt von pro zukunft und changeX: Sachbücher, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisch reflektieren und neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Bücher für zukunftsweisendes Denken.

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Jedes Jahr stellen wir Anfang Dezember die inspirierendsten und spannendsten Bücher des zurückliegenden Jahres vor. Nun schon zum fünften Mal gemeinsam ausgewählt mit pro zukunft, dem Magazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Ziel unserer Kooperation: die Perspektivenvielfalt erhöhen, indem wir unsere Sichtweisen zusammenwerfen. Hier ist unsere Auswahl der Toptitel der Zukunftsliteratur im zurückliegenden Jahr, sortiert nach Titel in alphabetischer Reihenfolge.
 


Zukunftsbuch 2022: Die Bücher des Jahres


Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit von David Graeber und David Wengrow (Verlag Klett-Cotta) | Hierarchie, Herrschaft und zynisches Eigeninteresse waren schon immer die Grundlage der menschlichen Gesellschaft, so die gängige Erzählung menschlicher Entwicklung. Dem halten der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow eine andere, konträre Erzählung entgegen, "eine völlig andere Weltgeschichte". Dieses neue Bild zeigt, wie unterschiedlich menschliches Zusammenleben in der Vergangenheit ausgesehen hat. Die Entwicklung der Menschheit hat also keineswegs notwendigerweise den bekannten Verlauf genommen. Geschichte ist alles andere als alternativlos. Ein eindrucksvolles Werk, das eine völlig neue Perspektive auf die Menschheitsgeschichte eröffnet.
 

Das Fluchtparadox von Judith Kohlenberger (Verlag Kremayr & Scheriau) | Die Überzeugung, dass gleiche Rechte für alle gelten sollten, geht mit der Realität unseres Umgangs mit dem Grundrecht auf Asyl nicht konform. Die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger arbeitet grundlegende Paradoxien heraus, um den als normal angesehenen Zuständen ihre eigene Widersprüchlichkeit aufzuzeigen: Diese Paradoxien prägen den Umgang mit Flucht und Migration und schließen Lösungsansätze, die sich außerhalb der gegebenen Logik bewegen, aus, so die These der Autorin. Ein absolut lesenswertes Buch, das eine Fülle an Informationen von rechtlichen bis hin zu moralischen Fragen bietet und die Komplexität des Themas Flucht und Migration deutlich macht - und zugleich seine Widersprüchlichkeit.
 

Das Zeitalter der Resilienz von Jeremy Rifkin (Campus Verlag) | Bestsellerautor Jeremy Rifkin proklamiert einen grundlegenden Umbruch in Reaktion auf Klimawandel, Artensterben und Pandemien als Anzeichen einer zunehmend instabiler werdenden, einer "verwildernden Erde". Das erfordere eine vollständige Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft auf Resilienz und Anpassungsfähigkeit - es geht um ein neues Weltverständnis, um einen Paradigmenwechsel im Denken, der die Verbundenheit allen Lebens auf der Erde in den Blickpunkt rückt. Rifkin verbindet zentrale Themen der Zeit zu einer großen Erzählung. Das Buch macht deutlich, wie umfassend der Umbruch ist, den wir erleben, und wie tief er geht. Gefordert ist ein neues Verhältnis zur Natur - auch zu unserer eigenen.
 

Die Mutter der Erfindung von Katrine Marçal (Verlag Rowohlt Berlin) | Katrine Marçal zeigt, wie die klassischen Geschlechterrollen die Entwicklung der Technik und die Technikgeschichte geprägt haben. Damit wurden nicht nur Innovationen verhindert. Es werden auch weibliche Bedürfnisse und Sichtweisen ausgeschlossen. Geistiges Potenzial liegt brach. Bleibt ungenutzt. Nicht zuletzt prägt männliches Dominanzstreben auch unser Verhältnis zur Natur. Wir werden nicht aufhören, der Natur zu schaden, so die Autorin, "solange wir die Natur als das Weibliche betrachten und das Weibliche durch männliche Technik unterwerfen". Ein weiterer wichtiger Baustein in der Dekonstruktion männlicher Dominanz. Und weiterer Beitrag zur Aufklärung weiblicher Unsichtbarkeit.
 

Die Qualen des Narzissmus von Isolde Charim (Zsolnay Verlag) | Was bedeuten Individualisierung, Subjektivierung, Singularisierung für den Zusammenhalt der Gesellschaft? Isolde Charim stellt die Frage so: "Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden?" Ihre Antwort: "Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen." Die Wiener Philosophin fasst Narzissmus jedoch nicht als psychisches, als individuelles, sondern als strukturell gesellschaftliches Moment. Genau darin liegt die Sprengkraft ihres Buches: in der These, dass Narzissmus als antigesellschaftliches Prinzip nun zur gesellschaftsbildenden, gesellschaftsbestimmenden Kraft geworden sei. Eine düstere These. Am Ende bleibt Charim nur die Feststellung: "Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse."
 

Die Schönheit der Differenz von Hadija Haruna-Oelker (btb Verlag) | Unsere Persönlichkeit setzt sich aus vielen Ichs zusammen, Menschen tragen viele Identitäten in sich - die Vorstellung einer in sich geschlossenen Identität ist somit eine Illusion. "Weil kein Mensch eindeutig ist", sagt die Autorin, Redakteurin und Politikwissenschaftlerin Hadija Haruna-Oelker. In ihrem Buch bestimmt sie Differenz, also die Auseinandersetzung mit dem, was uns unterscheidet, als zentrale gesellschaftliche Aufgabe der Zukunft. Ein aufrüttelndes Buch, das zugleich eine Praxis anbietet, wie Verständigungsprozesse gestaltet werden können. Das verlangt ein "intersektionales Denken", das sich vor allem durch Empathie auszeichnet: zu lernen, "miteinander füreinander zu fühlen".
 

Konflikt von Armen Avanessian (Ullstein Verlag) | Konflikte sind allgegenwärtig. Doch es ist alles andere als klar, was ein Konflikt ist und was ihn auszeichnet. Der Philosoph und politische Theoretiker Armen Avanessian entwickelt nun einen anderen Blick auf den Konflikt. Mit überraschenden Einsichten. Entgegen der üblichen Ansicht, Konflikte in der Gegenwart zu verorten oder aus der Vergangenheit abzuleiten, seien Konflikte "immer erst herzustellen und liegen somit in der Zukunft", so Avanessian. Seine These: "Konflikte kommen aus der Zukunft auf uns zu. Darum müssen wir sie auch von der Zukunft her verstehen." Um die Probleme von morgen schon heute zu lösen - also rechtzeitig. Lehrreich für Konflikte, die kommen.
 

Nicht mehr normal von Stephan Lessenich (Verlag Hanser Berlin) | Die neue Normalität unserer Welt besteht eben darin, dass nichts mehr normal ist. Und dass die "Normalitätsproduktion", die soziale Konstruktion von Normalität, ins Stocken gekommen ist. Der Soziologe Stephan Lessenich beschreibt diesen Normalitätsverlust eindringlich an den Krisen der Zeit. Am eindringlichsten dabei gelingt ihm die Demaskierung der Klimakrise als Normalitätsproblem: Die industrielle Moderne beruhe maßgeblich auf einer "Kultur und Infrastruktur des Fossilismus" - nicht auf Effizienz also, sondern auf der beständigen Zufuhr riesiger Mengen an fossiler Energie. Dieser Fossilismus aber steckt - als Ergebnis von Normalisierung als sozialer Konstruktion - in den Köpfen aller.
 

Sand Talk von Tyson Yunkaporta (Verlag Matthes & Seitz) | Tyson Yunkaporta hält dem einspurig rationalen westlichen Denken den Spiegel vor. Der Künstler und Forscher über indigenes Wissen beschreibt die Überlieferungen der australischen Ureinwohner als Wissenssystem und überwindet damit die diskriminierende Kluft zwischen "primitiv" und "kultiviert". Er zeigt, dass indigenes Wissen dem dominanten westlichen keineswegs unterlegen ist. Und er macht deutlich: Zivilisationen, die nicht nachhaltig agieren, haben nie lange Bestand gehabt. Als Hüter-Spezies sind wir Menschen aber dafür verantwortlich, zur Schöpfung beizutragen, sagt Yunkaporta. Ein reiches und inspirierendes Buch, das uns Menschen im vermeintlich entwickelten Westen die Augen öffnet.
 

Think Again. Die Kraft des flexiblen Denkens von Adam Grant (Piper Verlag) | Intelligenz ist die Fähigkeit zu denken und zu lernen. In einer turbulenten Welt könnten indes andere kognitive Fähigkeiten wichtiger sein: umzudenken und umzulernen. Adam Grant, Professor für Organisationspsychologie an der renommierten Wharton Business School, rückt den Wert des Umdenkens in den Blick. Heute komme es darauf an, geistige Flexibilität zu entwickeln und zu fördern, statt sich auf die Verteidigung vorhandenen Wissens zurückzuziehen. Es gelte, "aktiv unvoreingenommen" den Dingen gegenüberzutreten. Mit "selbstbewusster Demut", so Grant. Wobei selbstbewusst hier eine neue Bedeutung gewinnt: sich selbst seiner kognitiven Einschränkungen und Verzerrungen bewusst werden.
 

Übungen im Fremdsein von Olga Tokarczuk (Kampa Verlag) | Wir haben für die rasend schnellen Veränderungen heute noch keine passenden Erzählformen gefunden, konstatierte die polnische Literatin Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede 2018. Das gilt auch für die Form des Erkenntnisgewinns, die ebenso wenig mit dem Wandel und der Vielgestaltigkeit der Welt Schritt hält. Deshalb schlägt die Autorin einen neuen, komplexitätsbasierten Erkenntnisprozess vor: Ognosie ist ein "narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen". Was für eine Ansage. Ein Muss, hier weiterzudenken.
 

Und hier die Bücher, in Kurzrezensionen vorgestellt, mit vollständigen bibliografischen Angaben und Online-Bestellmöglichkeit: Kurzrezensionen
 


changeX 10.12.2022. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autorin

Katharina Kiening
Kiening

Katharina Kiening ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Foto: Andre Hinderlich

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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