Nachschlag 1|2023

Was war noch bemerkenswert im zurückliegenden Jahr?

 

Hier unser Nachschlag: sieben Bücher, die in diesem Jahr auf unserem Büchertisch gelandet sind - Bücher über den Zufall, über Kreativität, über Zeit, über Lebenskunst, über Möglichkeiten, Zwischenräume und glückliche Eingebungen, über Bildung mit einigen weitreichenden Vorschlägen dazu, vorgelegt lange schon vor der aktuellen PISA-Studie; sowie ein historischer Roman, passend zu und handelnd von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium. Plus eine ganz besondere Klaviereinspielung mit brandaktuellem Hintergrund.

Erfolgsfaktor Zufall Zufälle zu Möglichkeiten

Christian Busch: Erfolgsfaktor Zufall. Wie wir Ungewissheit und unerwartete Ereignisse für uns nutzen können. Murmann Verlag, Hamburg 2023, 318 Seiten, 29 Euro (D), ISBN 978-3-86774-754-7

"Unerwarteterweise" sagen wir, "aus heiterem Himmel" oder "unversehens", wenn uns etwas widerfährt, womit wir nicht gerechnet hatten. Wenn Unerwartetes geschieht. Handelt es sich um einen glücklichen Zufall, um unerwartetes Glück, das sich aus ungeplanten Ereignissen zufällig ergibt und unser Handeln zu positiven Ergebnissen führt, hat es sich eingebürgert, von Serendipity zu sprechen. In den Erzählungen von solchen Ereignissen steht dann zumeist auch das Überraschende, die zufällige Wendung im Vordergrund. Ganz so, als sei das Glück jemanden gewissermaßen in den Schoß gefallen. Serendipity als zufälliges Glück. Ganz anders konzipiert den Begriff Christian Busch, international bekannter Experte für Innovation, bewusste Führung und Serendipity. In seinem Buch Erfolgsfaktor Zufall präsentiert er eine "aktive Sichtweise der Serendipität" und grenzt diese als aktives Glück ab vom bloßen rein zufälligen Losglück. Der Schlüsselsatz lautet: "Serendipität ist nicht einfach etwas, das uns passiv widerfährt". Sie ist nicht bloß zufälliges Ereignis, "sondern hat eine Form und eine Struktur - sie ist ein Prozess, den wir beeinflussen können". Busch verschiebt damit die Perspektive vom Zufall auf das Vorbereitetsein, auf den "vorbereiteten Geist", von dem schon der französische Chemiker und Bakteriologe Louis Pasteur gesprochen hatte. Dieses Vorbereitetsein setzt Busch nun nicht als Vorbedingung gewissermaßen voraus, sondern rückt es als aktiv zu beeinflussenden Faktor in den Mittelpunkt - als Vorarbeit: Erfolgreiche Menschen hätten "bewusst oder unbewusst die notwendige Vorarbeit geleistet, um die Bedingungen für Glücksfälle zu schaffen", schreibt er. Es gelte, das Unerwartete zu sehen, offen zu sein für Dinge, die eben aus heiterem Himmel, unversehens und unerwartet geschehen. Aus dieser mentalen Haltung erst erwächst Serendipität als glücklicher Zufall. Sonst bleibt sie ein Zufall, der vorbeizieht. Es geht darum, "zufällige Beobachtungen bewusst wahrzunehmen und sie in Möglichkeiten zu verwandeln" - und wenn das geschieht, das Unerwartete und Ungewöhnliche weiterzuverfolgen. "Menschen, die sich des Unerwarteten bewusst sind, sind offen für Serendipität, weil sie in der Lage sind, nach dem verborgenen Wert in unerwarteten Daten und Ereignissen Ausschau zu halten." Christian Busch verschiebt den Fokus damit von Serendipität als Zufallsfaktor hin zu einem "Ansatz zur Freisetzung menschlichen Potenzials". Großartig.
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kreativ Antennen fürs Universum

Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein, übersetzt von Judith Elze. Verlag O.W. Barth / Droemer Knaur, München 2023, 416 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-426-29339-3

Der legendäre Musikproduzent Rick Rubin habe einen Selbsthilferatgeber geschrieben, der perfekt zur heutigen Arbeitswelt passt, schreibt Der Spiegel in einem ausführlichen Feature, das auf dem Buch und einem längeren Gespräch mit dem Autor basiert. Das stimmt, das Buch passt exakt zur modernen Arbeitswelt mit dem weiter wachsenden Anteil an kreativen und problemlösenden Tätigkeiten. Aber es stimmt auch wieder nicht. Sicher lässt sich dieses Buch als Selbsthilferatgeber lesen, doch erschöpft es sich darin nicht und wäre auch unter Wert behandelt. Denn in dem Buch steckt tiefes Wissen über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr. Man mag das spirituell nennen oder esoterisch oder auch den Begriff Weisheit verwenden, jedenfalls spiegeln sich in dem, was Rubin schreibt, tiefe Einsichten über Kunst, Kreativität und schöpferische Schaffensprozesse. Kurzum, das Buch ist widersprüchlich wie die neue Arbeitswelt, aber es spürt den wirklich wichtigen Fragen menschlichen Schaffens nach.
In 78 kurzen Kapiteln breitet der Autor sein Wissen und seine Weltsicht aus. Es ist ein ruhiger, fast meditativer Text, zugleich prägnant und auf den Punkt hin geschrieben. Es geht dabei um Dinge wie Gewahrsein, Regeln, Zuhören, Geduld, Offenheit, Harmonie, Freiheit oder auch "Etwas abschließen, um etwas Neues zu beginnen", um einige der Kapitelüberschriften zu nennen. Bei Themen wie diesen bleibt es nicht aus, dass durchaus einige Gemeinplätze und Banalitäten den Weg in den Text gefunden haben. Und auch einige Widersprüche verbergen sich darin, wie Rezensenten verschiedener Medien süffisant vermerkt haben. Beispiel Regeln. Auf der einen Seite ermuntert Rubin zum kreativen Regelbruch und zum Ausbrechen aus Gewohnheiten, auf der anderen Seite empfiehlt er, Regeln aufzustellen, um die eigene Arbeit zu kanalisieren. Das kann man kritisieren, sollte aber auch die unterschiedlichen Kontexte reflektieren, in denen Rubins Empfehlungen stehen: Auf der einen Seite geht es darum, von außen kommende oder verinnerlichte Regeln, die den Schaffensprozess einschränken, zu erkennen und zu brechen, auf der anderen Seite steht die Intention, den eigenen Schaffensprozess selbstbestimmt zu kontrollieren. Zwei vollkommen unterschiedliche Ansatzpunkte also.
Ein großer Widerspruch aber steckt in Rubins zentraler These. Für ihn ist menschliche Kreativität "keine seltene Fähigkeit", sondern "ein grundlegender Aspekt des Menschseins". Jeder Mensch kann kreativ sein, aber die Kreativität liegt nicht in uns. "Der Geist meint, das Material käme von innen. Doch das ist eine Illusion." Die "große Quelle" finde sich draußen, im Universum. Wie aber Rubin sein Universum konzipiert, bleibt rätselhaft. Auf der einen Seite ist es Konstruktion, eine Wirklichkeit, die wir uns herstellen. Auf der anderen Seite tritt es als etwas in Erscheinung, das Nachrichten aussendet. Es liege an uns, sie zu übersetzen. "Wir sind allesamt Antennen für kreatives Denken", so Rubin. Eine Unklarheit oder Unschärfe, die Anlass gibt, nachzudenken. Nicht das schlechteste, was ein Buch zu leisten vermag.
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Alle_Zeit Arbeitszeit, Freizeit … und?

Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit. Ullstein Verlag, Berlin 2022, 400 Seiten, 21.99 Euro (D), ISBN 978-3-550201721

Zeitmangel ist kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem. Diese These steht im Mittelpunkt des Buches Alle_Zeit. Darin beschäftigt sich die Journalistin Teresa Bücker umfassend mit unserem gesellschaftlichen Umgang mit Zeit. Im Zentrum unserer Zeitkultur steht die Erwerbsarbeit, der sich andere Lebensbereiche unterzuordnen haben. Meist wird unhinterfragt akzeptiert, dass der größte Teil des Tages mit Erwerbsarbeit ausgefüllt ist, während für andere Tätigkeiten und Bedürfnisse weniger Zeit zur Verfügung steht. Diese Fokussierung auf Erwerbsarbeit verfestige "die Maßstäbe, die auf männlichen und kapitalistischen Lebensentwürfen basieren" - und wir "versäumen, eigene Ideen vom guten Leben zu entwickeln", schreibt Bücker. Notwendig sei daher eine Arbeitszeitverkürzung, die nicht nur eine gerechtere Verteilung von Erwerbsarbeitszeit, sondern auch von unbezahlter Care-Arbeit, politischer Teilhabe und Freizeit ermöglichen würde. Generell werde die übliche simple Zweiteilung unserer Zeit in Arbeitszeit und Freizeit der Komplexität unserer Zeitnutzung nicht gerecht, findet Bücker. Denn auch außerhalb von Erwerbsarbeit ist nicht alle Zeit frei verfügbar. Neben Hausarbeit und Fürsorge für andere gibt es eine Reihe an Tätigkeiten, zu denen wir uns verpflichtet fühlen - Sport, Hausaufgabenbetreuung, Kochen, Verwandtschaftsbesuche zum Beispiel. Zeiträume, die wir frei und selbstbestimmt gestalten können, kommen dabei oft zu kurz oder sind stark fragmentiert. Vor allem Frauen haben weniger qualitativ hochwertige freie Zeit, da diese häufiger durch Betreuungsaufgaben unterbrochen wird. "Dass wir über einen großen Teil unserer Zeit nicht frei verfügen können, ist nicht naturgegeben, sondern veränderbar", so Bücker. Der Kampf um mehr Zeitwohlstand müsse jedoch nicht auf individueller, sondern auf gesellschaftlicher Ebene geführt werden. Nur so könne eine zeitgerechte Gesellschaft entstehen. Von Stefanie Gerold
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Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten Überlebenskunst

Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten. GABAL Verlag, Offenbach 2023, 208 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-96739-144-2

Über Lebenskunst wurde schon viel geschrieben, in besseren Zeiten zumeist. Doch die Zeiten haben sich geändert, es ist Krieg in Europa, die Klimakrise verschärft sich, um nur zwei der Krisenerscheinungen der Zeit zu nennen. Damit verändert sich der Rahmen. Gefragt ist "Überlebenskunst in unsicheren Zeiten" - was freilich ein Lesefehler ist, geschuldet der typografischen Gestaltung des Covers, wo die Wortsilben in Versalschrift untereinander angeordnet sind. Doch das Missverständnis klärt sich schnell auf, gleich auf dem Innentitel steht der korrekte Titel Über Lebenskunst. Das neue Buch von Bernhard von Mutius. Dennoch eröffnet die kleine Fehlwahrnehmung ein Sprachspiel, das ein Verständnis dieses Buches erschließt. Denn darin geht es nicht um die Lebenskunst, die gewöhnlich mit diesem Begriff gemeint ist. Es geht um eine andere Form, eine andere Art von Lebenskunst, die eher mit Disruption zu tun hat als mit Konvention. Mit dem Ungewöhnlichen mehr als mit dem Gewöhnlichen und Gewohnten. Es geht um die Brüche und Umbrüche, die in den letzten Jahren an Dramatik gewonnen haben und die Frage des Überlebens neben die nach dem guten Leben stellen. Auf diese Brüche und Umbrüche versucht dieses Buch eine Antwort zu geben. Das nicht in Lektionen, auch nicht mittels Tools und Methoden und schon gar nicht mittels in Akronyme gezwungener XY-Coaching-Formeln. Sondern in kleinen Lebensweisheiten und sinnigen Geschichten.
Vier Eckpunkte umreißen das Feld der Lebenskunst, von Mutius nennt dies "das magische Viereck". Diese vier Punkte geben dem Buch auch seine Gliederung vor: der Lebensmut, der Lebenssinn, die "Disziplin und Kunst, Brücken zu bauen" sowie das Anfangen. Anfangen meint dabei nicht den großen Plan, die ausgefeilte Strategie, das große Projekt. Sondern Anfangen meint: mit Freundlichkeit und kleinen Dingen. Anfangen "mit ganz einfachen, freundlichen Schritten im Alltag". Weil Freundlichkeit "uns hilft, in einer Zeit der Ungewissheit miteinander respektvoll und menschenwürdig umzugehen". Es sind die kleinen Dinge, die kleinen Formen, die in ihrem Zusammenspiel "das Leben … lebenswerter, manchmal liebenswerter und gelingender" machen, so der Autor. Hier gilt es zu beginnen. Dieses Prinzip spiegelt sich auch im Buch. Es ist die kleine Form, die es prägt: die Anekdote, die Geschichte, das Erzählerische, das in der eigenen Erfahrung gründet. "Ich kenne da eine Geschichte", wie es recht weit am Anfang heißt, ist das Stilprinzip des Buches. Lebenskunst "ist die Geschichte in der Geschichte, mit der etwas anfängt". Und natürlich geht es auch um Bernhard von Mutius’ großes Thema, den Umgang mit unserem Nichtwissen. Auch das hat mit Lebenskunst zu tun, sehr viel sogar: "Erst wenn wir zugeben, nicht mehr weiter zu wissen, finden wir vielleicht weiter."
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Die Kunst der Möglichkeit Abschweifen, um zur Sache zu kommen

Gabrielle Schmid: Die Kunst der Möglichkeit. Alles, was sein könnte. Verlage Vahlen und Versus, München und Zürich 2023, 124 Seiten, 34 Euro (D), ISBN 978-3-909066-30-8

"Mit jeder Gewissheit verlieren wir die unendlich vielen anderen Möglichkeiten, der Welt zu begegnen", schreibt Gabrielle Schmid, "ganz zu schweigen vom Zauber der Schwebe, der Vielfalt, der Offenheit, der uns so entgeht." Schmid ist Gestalterin, Coach und Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und hat es sich zur Aufgabe gemacht "die Vielfalt und Vielzahl der Möglichkeiten zu erweitern, die ein Mensch in einem Moment hat". Diesem Motto ist auch ihr Buch Die Kunst der Möglichkeit gewidmet, das zu einem verzweigten "Streifzug durch die Welt der Möglichkeiten" einlädt. Es ist ein wunderbar inspirierendes Buch geworden, voller Einsichten über Möglichkeiten, Zufälle, Zwischenräume, Nichtwissen, Denksprünge und glückliche Eingebungen. Es ist eine wunderbare Einführung für alle, die sich diesen Themen nähern wollen, und wer sich darin bereits ein wenig auskennt, wird dennoch vieles Verquere und Unbekannte finden, alles sorgsam zitiert und belegt und weiteren Nachforschungen erschlossen. Etwa das Zitat aus Peter Webers Erstlingsroman Der Wettermacher von 1996, das als weiteres Buchmotto durchgehen würde: "Ich schweifte ab, um zur Sache zu kommen." Auf ihrem insofern mäandernden Streifzug durch die Gefilde zwischen Konstruktivismus und Possibilismus, Coaching und Ideenarbeit, Kreativität und Kunst landet Schmid mit nachvollziehbarer Folgerichtigkeit bei der Kunst. Denn die einfach dahingesagte Aufforderung, aus dem Gewohnten auszubrechen und sich von Zwängen und eingeschliffenen Denkgewohnheiten zu lösen, führt sehr schnell zur Frage des Wie. Da ist es nur konsequent, sich der Kunst zu nähern. Weniger der Inspiration wegen, das auch. Vor allem aber, um sich aus der Umklammerung des Instrumentellen zu lösen, das auch die Frage nach dem Wie fest im Griff hat. Nur die Kunst vermag sich zu entziehen. "Die Wahrnehmung von Kunst stimuliert und eröffnet ungewohnte Erkenntniswege", schreibt Schmid. "Kunst bildet die Wahrnehmung und rüttelt Wahrnehmungsroutinen auf. Sie strebt Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit in der Interpretation unserer Wahrnehmungen an." Sie stört und verstört, unsere Denkgewohnheiten ebenso wie unsere Verhaltensmuster. "So bringen uns die Künste in konstruktiver Weise durcheinander." Möglicherweise zumindest …
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Weltbeste Bildung! Bildung als gesamtgesellschaftliche Herzensaufgabe

Yasmin Weiß: Weltbeste Bildung!. Wie wir unsere digitale Zukunft sichern. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022, 246 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-593516165

Ein Moonshot-Projekt: Amerikas Mondfahrt-Programm der 1960er-Jahre ist für Yasmin Weiß leuchtendes Vorbild für eine Bildungsrevolution in Deutschland. Ihre Vision, die sie in ihrem Buch Weltbeste Bildung! vorstellt: "eine kontinuierlich lernende Gesellschaft" aus technologie- und weltoffenen, neugierigen Individuen zu werden und, zweitens, verstanden zu haben, "dass wir nur durch herausragende Bildung eine lebenswerte digitale Zukunft sichern können, weil wir in der Lage sind, sie selbst zu gestalten". Der Expertin für digitale Bildung geht es darum, "Bildung möglichst weit zu fassen" - Bildung müsse "mehrdimensionale Anforderungen widerspiegeln". Im Mittelpunkt stehen also nicht bloß die unverzichtbaren digitalen Kompetenzen. Vielmehr sieht Weiß Bildung im Schnittpunkt von Humanismus, Nachhaltigkeit und erfinderischem und unternehmerischem Denken. Ihr Konzept von Bildung ist mehrdimensional und interdisziplinär angelegt. Entsprechend breit ist das Verständnis des Bildungssystems. Weiß spricht sich aus für "ein weit gefasstes, offenes Bildungssystem, bei dem die Lernenden ihre Eigenverantwortung kennen und durch viele Akteure aus unterschiedlichen Branchen dabei unterstützt werden, das Richtige zu lernen". Das übergeordnete Ziel ist Empowerment als die Fähigkeit, "sich selbst in einer sich konstant wandelnden Welt zu befähigen und sich in dieser zurechtzufinden". Wichtig dabei sind weniger spezifische Skills, sondern Metakompetenzen wie Lernen (und Verlernen), kritisches Denken, eine interdisziplinäre Bildung und das Anerkennen von Multirationalität, um nur einige aus dem breiten Fächer an Kompetenzen zu nennen, den das Buch aufspannt. Jasmin Weiß schwebt eine gesellschaftliche Bewegung vor, bei der unterschiedliche Akteure aus unterschiedlichen Sektoren zusammenarbeiten - auch Privatpersonen. Zum Beispiel - eine soziale Mikroinnovation - mit dem Instrument der Kompetenzspende, geschenkte Zeit also für die Kompetenzentwicklung des Beschenkten. Das Projekt in ihren Worten: "Bildung als gesamtgesellschaftliche Herzensaufgabe".
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Aufklärung Die Aufklärung, sie hat ja noch kaum angefangen

Angela Steidele: Aufklärung. Ein Roman. Insel Verlag, Berlin 2022, 603 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-458-64340-1

"Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage" - der Eröffnungschor zum Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Aus wessen Feder diese berühmte Eröffnungsstrophe stammt, liegt im Dunkeln. Wer das Libretto für Bachs populärstes Werk verfasst hat, "bleibt bis heute ein Rätsel", beschreibt Angela Steidele den Ausgangspunkt ihres Romans Aufklärung. Ihr Kunstgriff: Sie setzt eine Person, über die ebenfalls nichts bekannt ist, als Ich-Erzählerin ein: des Komponisten älteste Tochter Catharina Dorothea Bach, über die ihr Vater einmal notiert hat, dass sie im Familien-Ensemble "nicht schlimm einschläget". Also offenbar ganz passabel gesungen hat. Mehr sei über sie nicht bekannt, notiert Steidele über die Schlüsselfigur ihres Romans. In ihren Aufzeichnungen entwirft die "Jungfer Bachin" ein schillerndes Gemälde der Zeit der Aufklärung in Leipzig, geschrieben aus einer dezidiert weiblichen Perspektive, garniert mit ironischen Bezügen auf die heutige Zeit und mit klangvollen Schilderungen der Musik Bachs. Um die geht es auch in dem zentralen Erzählstrang, der von der Freundschaft der Erzählerin zu Luise Gottsched, der Frau des Literatur- und Sprachwissenschaftlers Johann Christoph Gottsched, Professor für Weltweisheit in Leipzig und einer der maßgeblichen Aufklärer der Zeit. Luise Gottsched, die schon zwei Bücher verfasst hatte und als Hoffnungsträgerin der weiblichen Geistesgeschichte der Epoche galt, sei eingesprungen, als Bachs bisheriger Textdichter Picander sich mit dem Komponisten überwarf. Sie habe das Libretto für das Weihnachtsoratorium geschrieben, so die kühne These.
So plastisch Steideles fiktive Erzählerin die Entstehung des Oratoriumstextes auch geschildert hat, kommen mit den Jahren (und im Verlauf des Erzählung) doch Zweifel an dieser Interpretation auf. Zunächst in zeitlicher Hinsicht. Weilte Luise Gottsched zur Zeit der Entstehung des Oratoriums tatsächlich schon in Leipzig? Die fiktive Dorothea Bach beginnt an ihrem Erinnerungsvermögen, ihrer Urteilskraft, ihrer Rationalität zu zweifeln. "Mir dreht sich alles. Oh Gott - was, wenn ich mich ... tatsächlich getäuscht haben sollte? Kann ich mir selber noch über den Weg trauen?" Sie lässt ihre Zweifel zu, ganz anders als die gelehrten Wortführer der Aufklärung, denen es, anders als in den Anfängen, um die Durchsetzung der eigenen Position und Meinung geht, ums Rechthaben und um ihre persönliche Reputation. Die Aufbruchstimmung des sapere aude ist verflogen. Krieg zieht ins Land. Zweifel an der Aufklärung machen sich breit. Und es ist Dorothea Bach, die das Licht hochhält. "Wir kommen doch aus einer Zeit des Lichts", sagt sie, "die Aufklärung, sie hat ja noch kaum angefangen." Das ist die Botschaft des Buches: ein Plädoyer für eine Weiterführung der Aufklärung mit einem umfassenderen Anspruch. Das Buch legt nahe, dass die selbstkritische, reflektierende Art und Weise, in der die fiktive Erzählerin mit Zweifeln an ihrer Wahrnehmung und Beschreibung der Welt umgeht, dieser neuen Aufklärung die Richtung weist.
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Mendelssohn: Lieder ohne Worte
Nicht mehr in Sprachlosigkeit gefangen

Igor Levit: Mendelssohn: Lieder ohne Worte. digital erhältlich, als CD Ende Januar 2024. Sony Classical (Sony Music), 2023

"Was kann ich tun, um in diese Verzweiflung eine Sinnhaftigkeit zu bringen? " Diese Frage stellte sich der Pianist Igor Levit nach dem Massaker der Terrororganisation Hamas in Israel am 7. Oktober. Und: "Wie kann ich den Menschen helfen, die Wichtigeres tun als ich?" Mehrfach hat sich er seither zu Wort gemeldet, große Aufmerksamkeit fand das von ihm initiierte Solidaritätskonzert "Gegen das Schweigen und gegen Antisemitismus" in Berlin. Nun veröffentlicht Igor Levit als seine persönliche künstlerische Antwort auf die Anschläge vom 7. Oktober und den wachsenden Antisemitismus ein neues, digitales Album. Er spielt seine Auswahl aus Felix Mendelssohns "Lieder ohne Worte", ergänzt von einem Präludium des französischen Komponisten Charles-Valentin Alkan, konzipiert und eingespielt in nur wenigen Tagen. Es seien "Stücke mit gewisser Melancholie, die ich in letzter Zeit viel gespielt habe", so Levit, der den Erlös aus diesem Album an zwei deutsche Organisationen spendet, die Antisemitismus bekämpfen, die Ofek Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung und die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus. "Ich habe diese Aufnahme gemacht aus einer sehr starken inneren Notwendigkeit heraus. Die ersten vier, fünf Wochen nach dem Anschlag am 7. Oktober habe ich in einer Mischung von Sprachlosigkeit und totaler Paralyse verbracht. Und irgendwann war klar, ich habe keine anderen Instrumente, um als Künstler zu reagieren. Ich habe das Klavier. Ich habe meine Musik", so Levit. "Es ist meine künstlerische Reaktion als Mensch, als Musiker, als Jude auf das, was ich in den letzten Wochen und Monaten gespürt habe." Er sei "nicht mehr in Sprachlosigkeit gefangen", sagt Levit, betont aber auch, dass Musik allein nicht heilen könne. "Das können nur Menschen, die Empathie zeigen und danach handeln." Text zusammengestellt aus Material der Deutschen Presseagentur, der Süddeutschen Zeitung, von BR Klassik und von Sony Music

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