Zukunftsbuch 2022

Unsere Auswahl der Bücher des Jahres

 

Stets stellen wir Anfang Dezember die inspirierendsten Sachbücher vor, die im zurückliegenden Jahr auf unserem Büchertisch gelandet sind. Nun schon zum fünften Mal gemeinsam ausgewählt mit pro zukunft, dem Buchmagazin der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen in Salzburg. Hier sind sie, die Bücher des Jahres. Bücher, die sich durch zukunftsweisendes Denken auszeichnen, die gesellschaftliche Entwicklungen kritisch reflektieren und neue Zukunftsperspektiven eröffnen. Statt langweiliger Top Ten gibt es die (unserer Ansicht nach) Besten Elf. Sortiert nach Titel in alphabetischer Reihenfolge.

Anfänge Eine andere Erzählung

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-608-98508-5

Der gängigen Erzählung menschlicher Entwicklung zufolge waren Hierarchie, Herrschaft und zynisches Eigeninteresse schon immer die Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Jede Form menschlichen Zusammenlebens beruht demnach auf der kollektiven Unterdrückung unserer niedrigeren Instinkte. Diesem vorherrschenden großen Bild der Geschichte halten der Anthropologe David Graeber und der Archäologe David Wengrow ein anderes, konträres entgegen, "eine völlig andere Weltgeschichte", die auf einer puzzleartigen Zusammenstellung und Interpretation der Forschungsergebnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte beruht. Ihr Buch versteht sich als "ein Versuch, mit der Erzählung einer anderen, hoffnungsvolleren und interessanteren Geschichte zu beginnen". Über ein Jahrzehnt haben die beiden die archäologischen und anthropologischen Erkenntnisse der neueren Forschung zusammengetragen, interpretiert und zu einem neuen Bild zusammengesetzt. Sie bauen "ein alternatives Narrativ auf, das unserem heutigen Wissensstand eher entspricht". Dabei zeigt sich, dass die Standarderzählung "so gut wie nichts mit den Fakten zu tun hat". Das herrschende Narrativ sei nicht nur falsch, sondern zudem "völlig langweilig". Die neueren Forschungsergebnisse lassen vermuten, so Graeber und Wengrow, "dass der Verlauf der Menschheitsgeschichte weniger in Stein gemeißelt und reicher an spielerischen Möglichkeiten ist, als gemeinhin angenommen wird". Anhand einer geradezu überwältigenden Fülle an Beispielen aus allen Ecken der Erde illustrieren die Autoren, wie unterschiedlich menschliches Zusammenleben in der Vergangenheit ausgesehen hat. Angesichts dieser Vielfalt an Optionen in der Menschheitsgeschichte sehen sie den gegenwärtigen Zustand der Welt auch nicht als unvermeidliches Ergebnis der Entwicklungen früherer Jahrtausende. Damit stellen sie sich gegen eine Gesellschaftstheorie, die die Entwicklung der Menschheitsgeschichte so darstellt, als hätte sie notwendigerweise dort enden müssen, wo wir heute stehen. Dadurch erscheint nicht nur die Geschichte, sondern auch der gegenwärtige Zustand unserer von Ungleichheit geprägten Gesellschaften alles andere als alternativlos. Ein eindrucksvolles Werk, das eine völlig neue Perspektive auf die Menschheitsgeschichte eröffnet. Von Winfried Kretschmer
Die Zukunftsbücher 2022 in Kurzrezensionen
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Das Fluchtparadox Dreimal paradox

Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2022, 240 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-218-01345-1

Die Überzeugung, dass gleiche Rechte für alle gelten sollten, geht mit der Realität unseres Umgangs mit dem Grundrecht auf Asyl nicht konform. Die Fluchtforscherin Judith Kohlenberger arbeitet zentrale Paradoxien heraus, um den als normal angesehenen Zuständen ihre eigene Widersprüchlichkeit aufzuzeigen: Das Asylparadox soll verdeutlichen, dass Menschen auf der Flucht aufgrund fehlender legaler (und sicherer) Fluchtrouten Recht brechen müssen, um überhaupt einen Asylantrag stellen zu können. Das Flüchtlingsparadox befasst sich mit den Erwartungen, mit denen Geflüchtete im Ankunftsland konfrontiert sind. Zum einen sollen sie natürlich schutzbedürftig sein, andererseits aber auch selbständig und leistungsbereit und -fähig. Das letzte große Paradox ist das Integrationsparadox. Denn die erfolgreiche Integration Geflüchteter in die Aufnahmegesellschaft befeuere erst "Debatten um Verteilung, Aufstieg und Sichtbarkeit in ebendieser". Wenngleich die aufgezeigten Paradoxien oftmals "auf rechtlichen Widersprüchen oder zumindest Überschneidungen fußen", erscheinen sie doch im öffentlichen Diskurs als legitim. Eine große Herausforderung der Fluchtparadoxien liege darin, dass sie sowohl moralisch als teilweise auch rechtlich begründbar erscheinen, was letztlich jeglichen Lösungsansatz, der sich außerhalb der gegebenen Logik bewegt, verhindere, so Kohlenberger: "Deshalb ist es unerlässlich, gerade im Umgang mit dem politisch und ethisch sensiblen Bereich von Flucht und Vertreibung, die Tatsachen offenzulegen und sich immer wieder vor Augen zu führen, dass systemisch-politische wie persönlich-individuelle Entscheidungen unter grundlegenden Bedingungen von Widersprüchlichkeit getroffen werden." Kohlenberger blickt realistisch in die Zukunft. Nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ werden paradoxe Momente im Umgang mit Flucht und Asyl zunehmen. Es gilt daher, der voranschreitenden Dehumanisierung von Geflüchteten sowohl im öffentlich-medialen und politischen Diskurs wie auch in Form von Ressentiments und Übergriffen entgegenzutreten. Es gelte, eine neue Erzählung gegen das Fluchtparadox zu schaffen. Erfahrungen des Gelingens, wie sie auch 2015 zu finden waren, können hierfür die Basis bilden. Ein absolut lesenswertes Buch, das viel Widersprüchliches über Sicherheit, Grenzen und Ausschlussmechanismen wie über europäische Werte bietet und damit zugleich die Komplexität des Themas Flucht und Migration deutlich macht. Von Carmen Bayer
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Das Zeitalter der Resilienz Lernen von der Natur

Jeremy Rifkin: Das Zeitalter der Resilienz. Leben neu denken auf einer wilden Erde. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022, 360 Seiten, 2 Euro (D), ISBN 978-3-593506647

Abermals bemüht Bestsellerautor Jeremy Rifkin das Bild eines epochalen Wandels als Titel seines neuen Buches. Immer bringen Rifkins Bücher Zeitströmungen auf den Begriff. Nicht im Sinne einer Prognose. Sondern als Entwurf einer möglichen Zukunft. So ist es auch mit seinem neuen Buch, in dem Rifkin abermals das Bild eines Epochenwandels zeichnet. Anpassungsfähigkeit steht im Mittelpunkt eines grundlegenden Umbruchs in Reaktion auf Klimawandel, Artensterben und Pandemien als Anzeichen einer zunehmend instabiler werdenden, einer "verwildernden Erde". Das erfordere eine vollständige Neuausrichtung von Wirtschaft und Gesellschaft - einen "Wechsel von Effizienz zu Anpassungsfähigkeit, Fortschritt zu Resilienz, Produktivität zu Erneuerbarkeit, externen Effekten zu Kreislaufwirtschaft, Eigentum zu Zugang und Bruttoinlandsprodukt zu Lebensqualität". Rifkin geht es um ein neues Weltverständnis, um einen großen Paradigmenwechsel im Denken und um eine völlig andere Art des Wirtschaftens. Rifkins radikale Gegenposition zum westlichen Rationalismus heißt: Lernen von der Natur. Die Natur ist unsere Schule, das ist die wohl wichtigste Lehre.#§ Sein Buch erklärt, wie die klassische Wirtschaftslehre basierend auf einem mechanistischen Weltverständnis und fixiert auf Effizienz den Klimawandel ignorierte. Und es zeigt, wie ein neues Verständnis des Menschen und seiner Rolle in der Welt zumindest die Chance eines Auswegs eröffnet. Wir müssten "das Leben auf der Erde und unseren Platz auf ihr ganz neu denken", fordert der Autor. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zeichneten ein neues Bild des Menschen wie des Lebens insgesamt. Ein Bild, in dem alles miteinander verbunden und alles im Fluss ist. Mit diesem neuen Paradigma rückt die Verbundenheit allen Lebens auf der Erde in den Blickpunkt. Die Schlüsselkonzepte dabei: Resilienz, Biophilie, Lernen von der Natur und ein demokratisch geformter Bioregionalismus. Alles Themen der Zeit, die Rifkin zu einer großen Erzählung verbindet. Von Winfried Kretschmer
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Die Mutter der Erfindung Von der Innovation ausgeschlossen

Katrine Marçal: Die Mutter der Erfindung. Wie in einer Welt für Männer gute Ideen ignoriert werden. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 2022, 304 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-7371-0142-4

Der menschliche Erfindungsgeist wurde vielfach gepriesen - die Mondlandung, die Teflonpfanne, neuartige Impfstoffe und vieles andere mehr. Aber warum hat es eine halbe Ewigkeit gebraucht, bis jemand auf die Idee kam, Rollen unter einen Koffer zu montieren? Fragt die schwedische Journalistin und Bestsellerautorin Katrine Marçal? Ihre Antwort: Weil ein mit Rädern versehener Koffer nicht zu den gängigen Vorstellungen von Männlichkeit passte. Das Rollenklischee besagt, "dass Männer schwer tragen müssten und Frauen auf ihre Begleitung angewiesen seien". Das Beispiel zeigt: Der menschliche Erfindungsgeist erscheint im Wesentlichen als männlicher Erfindungsgeist. Es ist ein Beleg für die verbreitete Sichtweise, "Erfindungen verdankten sich in der Regel den großen Triumphen von Männern." Die Wahrheit aber sei, so Marçal, "wie so oft, sehr viel komplexer". Katrine Marçal zeigt an Beispielen wie diesem, wie die klassischen Geschlechterrollen die Entwicklung der Technik und die Technikgeschichte geprägt haben. Damit wurden nicht nur Innovationen verhindert. Es wurden und werden auch weibliche Bedürfnisse und Sichtweisen ausgeschlossen. Geistiges Potenzial liegt brach, bleibt ungenutzt. Das Elektroauto ist ein anderes Beispiel. Dessen Marktanteil lag zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa bei einem Drittel und in den USA sogar noch höher. Doch galt der elektrische Antrieb als Frauensache - erst mit der Einführung des elektrischen Anlassers konnte sich der Verbrennungsmotor durchsetzen. Und mit ihm eine fossil geprägte Form des Lebens. "Wir haben einen bestimmten, benzinfressenden Lebensstil als ‚männlich‘ codiert und dessen maskuline Logik allen anderen Werten übergeordnet", schreibt Marçal und leitet damit zu einem anderen großen Thema ihres Buches über: dem durch Geschlechterrollen geprägten Verhältnis zur Natur. Denn auch dieses ist ein Produkt männlichen Dominanzstrebens. "Solange wir die Natur als das Weibliche betrachten und das Weibliche durch männliche Technik unterwerfen", werden wir nicht aufhören, der Natur zu schaden, so Katrine Marçal. Ihr neues Buch ist - wie schon der Vorgängertitel Machonomics über Die Ökonomie und die Frauen - ein weiterer wichtiger Baustein in der Dekonstruktion männlicher Dominanz. Und weiterer Beitrag zur Aufklärung weiblicher Unsichtbarkeit. Übrigens, die Teflonpfanne ist keineswegs Abfallprodukt heroischer Weltraumabenteuer, sondern die Erfindung einer Frau - der Französin Colette Grégoire, deren Mann basierend auf ihrem Patent das Unternehmen Tefal gründete. Von Winfried Kretschmer
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Die Qualen des Narzissmus Ich. Hier. Jetzt. Unverwechselbar.

Isolde Charim: Die Qualen des Narzissmus. Über freiwillige Unterwerfung. Zsolnay Verlag, Wien 2022, 224 Seiten, 4 Euro (D), ISBN 978-3-552-07309-8

Individualisierung, Subjektivierung, Singularisierung sind Begriffe, die die wachsende Bedeutung des Einzelnen in modernen Gesellschaften zu beschreiben versuchen. Früher bedeutete das Individuum nichts, heute alles. Eine Entwicklung, die offenbar noch nicht an ihr Ende gekommen ist. Aber was treibt und wohin führt sie? Und was bedeutet die veränderte Rolle des Individuums für die Gesellschaft? Isolde Charim wählt als Ausgangspunkt eine subjektive Perspektive, "ein altes Erstaunen". Sie fragt: "Warum sind wir mit dem Bestehenden einverstanden?" Warum fügen wir uns - freiwillig? Ihre Antwort: "Narzissmus ist die Art, wie wir uns heute freiwillig unterwerfen." Narzissmus ist nicht Egoismus, bedeutet nicht Eigenliebe, nicht aggressive Durchsetzung der eigenen Interessen. Narzissmus meint die Orientierung an und das Streben nach einem idealen Ich: "Narzissmus bedeutet freiwillige Unterwerfung unters Ich-Ideal. (...) Freiwillige Unterwerfung unter das Bild von ‚sich‘, mit dem man nicht übereinstimmt. Welches man aber zu verwirklichen sucht." Die Autorin fasst Narzissmus jedoch nicht als psychologisches, als individuelles, sondern "als gesellschaftsbildendes, gesellschaftsbestimmendes Moment". Genau darin liegt die Sprengkraft ihres Buches: in der These, dass Narzissmus "zu einer gesellschaftlichen Forderung geworden ist", zu einer sozialen Form. Zwang wird ersetzt durch subjektiven Antrieb. Jeder wird sich selbst zum Maßstab - genauer: das, was er sein könnte, sein ideales Ich. Nicht austauschbar, nicht vergleichbar, einzigartig zu sein, ist das Streben. Dieser neue Modus ersetze das Konkurrenzprinzip, so Charim: "Einzigartigkeit, Eigenwert bedeutet die Überschreibung der Konkurrenzverhältnisse durch Narzissmus." Anders gesagt, habe der Wettbewerb selbst sich verändert: "Es ist ein gesellschaftlicher Narzissmus, der uns gegeneinander in Stellung bringt." Narzissmus sei zur vorherrschenden Ideologie geworden, ein antigesellschaftliches Prinzip, eine unmittelbare Selbstgewissheit, die alles auf sich bezieht, bei der man sich immer gemeint fühlt: Ich. Hier. Jetzt. Unverwechselbar. Doch was bedeutet das für eine Gesellschaft, wenn die gefühlte Identität zur letzten Wahrheit wird? Wenn die Anerkennung, der die Selbstsetzung noch immer bedarf, zum bloßen Echo gerät? Dann wird der Selbstbezug zur Qual, so Isolde Charim, die am Ende weder eine Befreiung, noch ein Scheitern des Narzissmus an den eigenen Widersprüchen als Aussicht anbieten kann. "So bleibt uns nur die Feststellung: Die Ideologie des Narzissmus ist eine Sackgasse." Ein düsteres Buch mit einer starken These und einem erschreckenden Ausblick. Von Winfried Kretschmer
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Die Schönheit der Differenz Miteinander füreinander fühlen

Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denken. btb Verlag, München 2022, 560 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-442-75946-0

Unsere Persönlichkeit setzt sich aus vielen Ichs zusammen, Menschen tragen viele Identitäten in sich - die Vorstellung einer in sich geschlossenen Identität ist somit eine Illusion. Das ist das Thema, von dem das Buch von Hadija Haruna-Oelker handelt: Identität und Differenz. Sie will "Vorstellungen starrer Kategorien und Konstruktionen aufbrechen, in die wir Menschen als Gruppen gepresst werden". Sie will die Blicke weiten, Möglichkeiten aufzeigen und Handlungsräume eröffnen, "um ein anderes Miteinander zu denken" - ein "Miteinander füreinander". Ihr Buch wendet sich "gegen polarisierendes Denken, Vereinfachungen oder die Vorstellung festgezurrter Gruppenidentitäten". Es ist ein Plädoyer für radikale Diversität als "die Utopie einer Gesellschaft, in der alle Menschen in ihrer Differenz leben können". In einer breiten Perspektive umreißt die Autorin die unterschiedlichen Kategorien, in die Menschen in unterschiedlicher Hinsicht eingeteilt werden. Sie beschreibt, wie diese zustande kommen - und wie sie verschwimmen, "weil kein Mensch eindeutig ist". Unsere gesellschaftliche Aufgabe in Zukunft sei, uns nicht nur damit auseinanderzusetzen, was uns verbindet (Identität), sondern auch mit dem, was uns unterscheidet (Differenz) - eine "Generationenaufgabe", so Haruna-Oelker. Sie betont, "es ist wichtig, mit unseren Differenzen zu arbeiten", und bietet zugleich eine Praxis an, wie das geschehen kann: die indigene Philosophie des Ubuntu, die in der Anti-Apartheid-Bewegung und bei der Begründung des südafrikanischen Staates eine wichtige Rolle spielte. Das Prinzip des Ubuntu ist das Streben nach Übereinstimmung mit dem Ziel, einen Weg für alle zu finden. Entscheidend ist dabei, mit dem Gegenüber zusammenzuarbeiten, um Lösungen zu finden, und so einen gemeinsamen Verhandlungsraum zu eröffnen. Dieser Ansatz könnte für Hadija Haruna-Oelker ein Vorbild sein, Gesellschaften und öffentliche Räume zu gestalten. Das verlangt ein "intersektionales Denken", das sich vor allem durch Empathie auszeichnet. Es bedeutet zu lernen, "miteinander füreinander zu fühlen". Von Winfried Kretschmer
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Konflikt Konflikte aus der Zukunft

Armen Avanessian: Konflikt. Von der Dringlichkeit, Probleme von morgen schon heute zu lösen. Ullstein Verlag, Berlin 2022, 400 Seiten, 24.99 Euro (D), ISBN 978-3-550201790

Konflikte sind allgegenwärtig. Sie treten zwischen einzelnen Menschen auf, im Arbeitsalltag, in Beziehungen, zwischen Organisationen und sozialen wie politischen Gruppen, zwischen Staaten und Staatengruppen. Doch was unterscheidet einen Konflikt eigentlich von benachbarten Begriffen wie Streit, Auseinandersetzung, Konfrontation, Kampf oder gar Krieg? Genau besehen ist es alles andere als klar, was ein Konflikt ist und was ihn auszeichnet. Der Philosoph und politische Theoretiker Armen Avanessian, Professor für Medientheorie an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen, bemüht sich nun um eine begriffliche und theoretische Klärung. Und kommt dabei zu überraschenden Einsichten, die quer liegen zu dem gewohnten Begriffsgebrauch und -verständnis. Er sagt: Entgegen der üblichen Ansicht, die Konflikte in der Gegenwart verortet oder aus der Vergangenheit ableitet, "sind diese immer erst herzustellen und liegen somit in der Zukunft". Konflikte lassen sich auch nicht auflösen, denn sie gehören zu dem Kontext, in dem sie auftreten. Sie sind essenzieller Teil einer Person oder Gesellschaft. Und sie sind auch keine Gefahr, sondern - richtig verstanden - Ansatz zur Lösung der dahinter liegenden Probleme. Konflikte, wie sie mit Klimawandel, Umweltveränderungen und Digitalisierung verbunden sind, machten eine fundamentale Einsicht deutlich, so Avanessian: "Konflikte kommen aus der Zukunft auf uns zu. Darum müssen wir sie auch von der Zukunft her verstehen." Um die Probleme von morgen schon heute zu lösen - "denn wenn wir das erst in der Zukunft versuchen, wird es höchstwahrscheinlich zu spät sein". Keine gute Aussicht fürs Klima. Aber eine Lehre für den Umgang mit Konflikten, die kommen. Von Winfried Kretschmer
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Nicht mehr normal Normalität als soziale Praxis

Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Gesellschaft am Rande des Nervenzusammenbruchs. Hanser Berlin, Berlin 2022, 160 Seiten, 23 Euro (D), ISBN 978-3-446-27383-2

Vor dem Hintergrund einer die Welt bedrohenden Klimakatastrophe bricht eine Pandemie aus, und dann noch ein Krieg in Europa? Ein Drehbuch mit einem solchen Plot wäre vor drei, vier Jahren wohl noch krachend abgelehnt worden. Doch beschreibt dieses Szenario nur die neue Normalität unserer Welt, eine Normalität, die eben darin besteht, dass nichts mehr normal ist. Das ist das Thema des neuen Buchs von Stephan Lessenich: Nicht mehr normal. Darin geht es darum, "wie eine Gesellschaft damit umgeht, dass ihr die bisherige Normalität abhandenkommt". Deutschland heute, das sei "eine Gesellschaft, deren Normalitätsproduktion ins Stocken geraten ist", so der Soziologe, "eine Gesellschaft, die das Alte nicht halten und das Neue nicht denken kann". Dem spürt der Autor entlang der Themen Finanzkrise, Migration, Klimakrise und Aufbegehren gesellschaftlicher Minderheiten und, natürlich, vor dem Hintergrund der Coronakrise nach. Immer geht es dabei um die "soziale Konstruktion von Normalität", um Normalität als soziale Praxis, die aber, so macht das Buch deutlich, auf Irrationalitäten basieren und Illusionen befördern kann. Exemplarisch das Thema Klima und wie es so weit kommen konnte. Lessenich verortet den fundamentalen Widerspruch modernen Wirtschaftens darin, einerseits die Welt als Welt der Knappheiten darzustellen und die Ökonomie als effizienten Umgang mit knappen Mitteln zu verstehen, "zugleich aber, und zwar bis in die allerjüngste Vergangenheit hinein, in der Vorstellung ewig sprudelnder natürlicher Ressourcenquellen zu leben". Die daraus resultierende akute Abhängigkeit des Wirtschaftsmodells von der beständigen Zufuhr riesiger Mengen an fossiler Energie "ist nicht weniger als die Signatur der Moderne". Die industrielle Moderne beruhe maßgeblich auf einer "Kultur und Infrastruktur des Fossilismus". Dieser aber steckt - und das ist das Resultat von Normalisierung als sozialer Konstruktion - in den Köpfen aller. Und so sind wir alle aufgefordert, "die Macht der Illusion zu brechen … dass wir mit den alten Rezepten weiter-, ja auch nur ansatzweise durchkommen könnten". Von Winfried Kretschmer
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Sand Talk Zu einem verbindenden Denken anregen

Tyson Yunkaporta: Sand Talk. Das Wissen der Aborigines und die Krisen der modernen Welt. Matthes & Seitz, Berlin 2021, 286 Seiten, 28 Euro (D), ISBN 978-3-7518-0347-2

Der Dozent und Künstler Tyson Yunkaporta ist Angehöriger des australischen Apalech-Clans und forscht zu indigenem Wissen. Seine Einsicht, "dass es nicht die Welt der Gegenstände war, die uns erdete und erhielt, sondern die Art zu denken", ist zentral für sein Buch. Darin beschreibt er die Muster des Denkens, des Seins und des Tuns, die grundlegend sind für die indigene Kultur der "Ersten Völker". Yunkaporta, der sowohl über Einblick in indigenes Wissen verfügt wie auch in die Wissenssysteme der zivilisierten Welt, erzählt von Mustern, die sich in den vielfältigen Verbindungen zwischen verschiedenen Aborigine-Gemeinschaften entwickelt haben, und grenzt sich dabei ab von einem zu einfachen und folgenlosen Umgang mit indigenem Wissen. Oft werden die "Ersten Völker" und ihre nachhaltige, landverbundene Lebensweise zwar herangezogen, um Lösungen für aktuelle Probleme zu suchen, diese bleiben aber auf die Vergangenheit bezogen. Mit einem "Denken in Mustern" begegnet Yunkaporta heutigen globalen Nachhaltigkeitsfragen und kritisiert damit gegenwärtige Systeme. Dabei verschränkt er unterschiedliche Darstellungsweisen miteinander: erstens die Form mündlicher Überlieferung, die sogenannten Yarns, Erzählungen, die unterschiedliche Denkweisen zusammenbringen, zweitens eine bildhafte, künstlerische Ausdrucksweise in Form traditioneller geschnitzter Objekte und drittens die titelgebenden Sand Talks, das sind Bilder, die zur Weitergabe von Wissen auf den Boden gezeichnet werden. Die westliche geschriebene Sprache bildet erst die letzte, überwölbende Darstellungsform, gewissermaßen die oberste Schicht. So wie alle Objekte der materiellen Welt Wissen beinhalten, will der Autor "zu einem verbindenden Denken anregen". Dabei hält er unserem einspurig rationalen westlichen Denken den Spiegel vor. Und macht deutlich: Zivilisationen, die nicht nachhaltig agieren, haben nie lange Bestand gehabt. Als Hüter-Spezies sind wir Menschen aber dafür verantwortlich, zur Schöpfung beizutragen. Ein Buch, das uns noch ausführlicher beschäftigen wird. Von Clara Buchhorn und Winfried Kretschmer
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Think Again Kunst des Umdenkens

Adam Grant: Think Again. Die Kraft des flexiblen Denkens. Was wir gewinnen, wenn wir unsere Pläne umschmeißen. Piper Verlag, München 2022, 368 Seiten, 22 Euro (D), ISBN 978-3-492-07135-2

Eines seiner Hauptärgernisse, schreibt Adam Grant, Professor für Organisationspsychologie an der renommierten Wharton Business School, sei vorgetäuschtes Wissen - "wenn Menschen so tun, als wüssten sie Dinge, die sie gar nicht wissen". Dies ärgere ihn so sehr, dass er gerade ein ganzes Buch darüber schreibe. Insofern kann man sein derzeit aktuelles Buch als eine letzte Warnung verstehen: Think Again, eine Aufforderung, ein Appell zum Umdenken. Die zentrale These dabei lautet: "Intelligenz wird traditionell als die Fähigkeit zu denken und zu lernen betrachtet. Doch in einer turbulenten Welt könnten andere kognitive Fähigkeiten noch wichtiger sein: die Fähigkeit, umzudenken und umzulernen." Um den Wert des Umdenkens geht es in seinem Buch, also darum, geistige Flexibilität zu entwickeln und dieselbe geistige Beweglichkeit bei anderen zu fördern, sei es im zwischenmenschlichen Umgang oder in der organisierten Zusammenarbeit. Dies sind auch die drei Ebenen und entsprechend die drei Teile des Buches: Umdenken im persönlichen, im interpersonellen und im kollektiven Rahmen. Doch ist der Mensch ein geistig eher träges Wesen und oft wenig geneigt, andere Denkpfade einzuschlagen. "Wir ziehen oft die Bequemlichkeit, an alten Ansichten festzuhalten, der Schwierigkeit vor, uns mit neuen Sichtweisen auseinanderzusetzen", konstatiert Grant. Statt sich auf die Verteidigung vorhandenen Wissens zurückzuziehen, empfiehlt er, sich in den Modus eines Wissenschaftlers zu versetzen, also "aktiv unvoreingenommen" den Dingen gegenüberzutreten. Was wir erlangen sollten, ist "selbstbewusste Demut" - darunter versteht Grant "den Glauben an unsere Fähigkeiten, verbunden mit dem Bewusstsein, dass wir vielleicht nicht die richtige Lösung haben oder nicht einmal das richtige Problem in Angriff nehmen. Wir haben dann genügend Zweifel, um unser altes Wissen zu überprüfen, und genügend Selbstvertrauen, um nach neuen Einsichten zu streben." Von Winfried Kretschmer
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Übungen im Fremdsein Denken in wechselseitigen Bedingtheiten

Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein. Essays und Reden. Kampa Verlag, Zürich 2022, 320 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-311100751

In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Literaturnobelpreises 2018 hat die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk einige sehr präzise Sätze über unsere Wahrnehmung der Welt gesagt. Sie konstatierte, dass wir für die rasend schnellen Veränderungen heute noch keine passenden Erzählformen gefunden haben. Die Coronakrise hat sie dann genutzt, ihr essayistisches Werk zu ordnen. Welch ein Glück. Denn entstanden ist dabei ein Essayband mit inspirierenden Texten, der nun auch in deutscher Sprache vorliegt (und dem auch die Nobelpreisrede beigegeben ist, die wir in den Buchempfehlungen schon kurz gestreift haben). In ihren Essays reflektiert Tokarczuk über ihr Schreiben, die Wahl ihrer Themen und die Perspektiven ihres Erzählens. Das mag als l'art pour l'art erscheinen, doch darf nicht vergessen werden, dass Kunst und Literatur - in Letzterer am deutlichsten in der Auflösung der Perspektive des allwissenden Erzählers im Roman - zuerst die Auflösung einer zentralen Weltsicht vollzogen haben. Zwei kleine Entdeckungen beinhaltet die Essaysammlung. Zum einen Tokarczuks Reflexion über Übersetzer und Übersetzung - eine Funktion, die in einer in hoch spezialisierte Funktionen und Bereiche gegliederten Gesellschaft immer wichtiger wird. Tokarczuks Text ist eine Lobeshymne auf die Kunst des Übersetzens und regt an, die erweiterte Bedeutung mitzudenken. Zum anderen der Text, der mit dem Neologismus "Ognosie" überschrieben ist. Darin schlägt die Literatin einen neuen, komplexitätsbasierten Erkenntnisprozess vor - ein Denken in wechselseitigen Bedingtheiten: Ognosie ist ein "narrativ orientierter, ultrasynthetischer Erkenntnisprozess, in dessen Zuge Dinge, Situationen und Phänomene einer Reflexion unterzogen und so in ein höheres Sinngefüge der wechselseitigen Bedingtheiten eingeordnet werden sollen". Diese Erkenntnis zielt auf Fülle und Vielheit, in ihrem Fokus stehen Ereignisketten außerhalb der kausalen und logischen Zusammenhänge, sie präferiert Fügung, Brücke, Refrain und Synchronizität statt einer Unterteilung in separierte Einheiten. Eine Ansage. Ein Anstoß, weiterzudenken. Von Winfried Kretschmer
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