Von Aufklärung bis Zukunft

Unsere Buchumschau im Sommer 2023
Auswahl und Kurzrezensionen: Winfried Kretschmer

In unserer Buchauslese geht es dieses Mal um Prospektion als zentrale Zukunftskompetenz, um Kreativität und das Verständnis schöpferischer Schaffensprozesse, um Lebenskunst in einer Zeit der Brüche, Umbrüche und Disruptionen. Es geht um Megathreats als neue Dimension von Krise, um eine neue Aufklärung und einen neuen, weiblichen Blick auf die alte, historische. Und schließlich um Wildkräuter als Indikator für ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Natur wie zur Stadt.

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Martin Seligman, der Begründer der Positiven Psychologie, beschreibt zusammen mit Gabriella Rosen Kellerman die Prospektion als zentrale Zukunftskompetenz unserer Zeit: die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu planen; der legendäre Musikproduzent Rick Rubin formuliert in seinem Buch kreativ. Die Kunst zu sein tiefe Einsichten über Kunst, Kreativität und schöpferische Schaffensprozesse; Bernhard von Mutius denkt nach über Lebenskunst in einer Zeit der Brüche, Umbrüche und Disruptionen; Nouriel Roubini sieht eine Zeit der Instabilität und des Chaos angebrochen, in der Megabedrohungen - Megathreats - eine neue existenzielle Bedrohungslage schaffen; ein Autorenteam um den Philosophen Markus Gabriel beschreibt die Pluralität der Methoden, Ansätze und Perspektiven als Kern einer Weiterentwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften, die den Weg zu einer neuen Aufklärung ebnen soll; die Literatin Angela Steidele entwickelt in ihrem Roman einen dezidiert weiblichen Blick auf die Epoche der Aufklärung und zeigt, warum diese gerade erst angefangen hat und nach einer Fortsetzung ruft; die Autoren James Lawley und Marian Way stellen mit Clean Space eine neue Methode vor, die Räume nutzt, um Kreativität anzuregen, Ideen zu generieren und Probleme zu lösen; ein Kochbuch über das Erkennen, Sammeln und Zubereiten urbaner Wildkräuter, verfasst von Caroline Deiß und fotografiert von Sylwia Erdmanska-Kolanczyk, schließlich reflektiert ein verändertes Verhältnis des Menschen zur Natur wie zur Stadt.


Prospektion, die Metakompetenz unserer Zeit


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In ihrem Buch Homo Prospectus haben die Psychologen Martin Seligman und Roy Baumeister, der Philosoph Peter Railton und der Neurowissenschafter Chandra Sripada die These vertreten, "dass das wesentliche Merkmal unserer Spezies die Fähigkeit ist, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu planen". Einen deutschen Verlag hat das 2016 bei Oxford University Press erschienene Buch leider nicht gefunden. In dem neuen Buch von Martin Seligman, das der Begründer der Positiven Psychologie zusammen mit der Mental-Health-Expertin Gabriella Rosen Kellerman geschrieben hat, wird diese These nun aufgegriffen, und die Fähigkeit zur Prospektion erhält eine Schlüsselrolle als zentrale Zukunftskompetenz. Das Argument kurz zusammengefasst: Als Jäger und Sammler mussten die frühzeitlichen Menschen bereits Tage bis Wochen vorausblicken. Die landwirtschaftliche Revolution erweiterte den Planungshorizont dann auf längere Zeiträume; Aussaat, Ernte, Saatgutgewinnung, Vorratshaltung waren vorauszusehen. Mit der industriellen Revolution rückte dann die gleichmäßige Ausführung klar definierter, unmittelbar zu erledigender Einzelaufgaben in den Fokus der arbeitenden Menschen; Prospektion verlor an Bedeutung. "Jetzt hat sich das Blatt wieder gewendet", schreiben Kellerman und Seligman. "Die heutigen Veränderungen in der Arbeitswelt haben die Prospektion wieder ganz oben auf die Liste der wesentlichen Fähigkeiten von Arbeitskräften katapultiert." Mit dem ständigen, schnellen und unvorhersehbaren Wandel Schritt zu halten, ihm vielleicht zuvorzukommen, verlange prospektive Fähigkeiten. "Prospektion ist die Metakompetenz unserer Zeit", so das Autorenduo. Sie "ist eine Fähigkeit, die wir als Spezies erst noch in vollem Umfang entwickeln müssen". 

Vier weitere Kompetenzen kommen hinzu: Resilienz und geistige Beweglichkeit, Sinn und Wichtigkeit, Kreativität und Innovation sowie Schneller Rapport, also das Gefühl des Einklangs mit anderen Menschen, als Grundlage der Fähigkeit, enge und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Zusammen bilden sie den titelgebenden Tomorrowmind, "eine Denkweise, die uns ermöglicht, Veränderungen vorwegzunehmen, angemessen zu planen, mit Rückschlägen umzugehen und unser volles Potenzial auszuschöpfen". Die Grundhaltung des Buchs ist positiv-optimistisch: Prospektion lässt sich lehren und lernen. Hinzukommt ein starkes und selbstbewusstes Argument: Auch wenn das Gehirn des Menschen durch die lange Entwicklungsgeschichte hindurch auf andere Fähigkeiten eingestellt worden ist, versetzt uns das gesammelte Wissen der Verhaltenswissenschaften in die Lage, mit dem neuartigen Wandel unserer Zeit umzugehen. Die Verhaltenswissenschaften als Rettungsanker in einer Zeit schnellen und unübersichtlichen Wandels.


Antennen fürs Universum


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Der legendäre Musikproduzent Rick Rubin habe einen Selbsthilferatgeber geschrieben, der perfekt zur heutigen Arbeitswelt passt, schreibt Der Spiegel in einem ausführlichen Feature, das auf dem Buch und einem längeren Gespräch mit dem Autor basiert. Das stimmt, das Buch passt exakt zur modernen Arbeitswelt mit dem weiter wachsenden Anteil an kreativen und problemlösenden Tätigkeiten. Aber es stimmt auch wieder nicht. Sicher lässt sich dieses Buch als Selbsthilferatgeber lesen, doch erschöpft es sich darin nicht und wäre auch unter Wert behandelt. Denn in dem Buch steckt tiefes Wissen über die Welt und die Rolle des Menschen in ihr. Man mag das spirituell nennen oder esoterisch oder auch den Begriff Weisheit verwenden, jedenfalls spiegeln sich in dem, was Rubin schreibt, tiefe Einsichten über Kunst, Kreativität und schöpferische Schaffensprozesse. Kurzum, das Buch ist widersprüchlich wie die neue Arbeitswelt, aber es spürt den wirklich wichtigen Fragen menschlichen Schaffens nach. 

In 78 kurzen Kapiteln breitet der Autor sein Wissen und seine Weltsicht aus. Es ist ein ruhiger, fast meditativer Text, zugleich prägnant und auf den Punkt hin geschrieben. Es geht dabei um Dinge wie Gewahrsein, Regeln, Zuhören, Geduld, Offenheit, Harmonie, Freiheit oder auch "Etwas abschließen, um etwas Neues zu beginnen", um einige der Kapitelüberschriften zu nennen. Bei Themen wie diesen bleibt es nicht aus, dass durchaus einige Gemeinplätze und Banalitäten den Weg in den Text gefunden haben. Und auch einige Widersprüche verbergen sich darin, wie Rezensenten verschiedener Medien süffisant vermerkt haben. Beispiel Regeln. Auf der einen Seite ermuntert Rubin zum kreativen Regelbruch und zum Ausbrechen aus Gewohnheiten, auf der anderen Seite empfiehlt er, Regeln aufzustellen, um die eigene Arbeit zu kanalisieren. Das kann man kritisieren, sollte aber auch die unterschiedlichen Kontexte reflektieren, in denen Rubins Empfehlungen stehen: Auf der einen Seite geht es darum, von außen kommende oder verinnerlichte Regeln, die den Schaffensprozess einschränken, zu erkennen und zu brechen, auf der anderen Seite steht die Intention, den eigenen Schaffensprozess selbstbestimmt zu kontrollieren. Zwei vollkommen unterschiedliche Ansatzpunkte also. 

Ein großer Widerspruch aber steckt in Rubins zentraler These. Für ihn ist menschliche Kreativität "keine seltene Fähigkeit", sondern "ein grundlegender Aspekt des Menschseins". Jeder Mensch kann kreativ sein, aber die Kreativität liegt nicht in uns. "Der Geist meint, das Material käme von innen. Doch das ist eine Illusion." Die "große Quelle" finde sich draußen, im Universum. Wie aber Rubin sein Universum konzipiert, bleibt rätselhaft. Auf der einen Seite ist es Konstruktion, eine Wirklichkeit, die wir uns herstellen. Auf der anderen Seite tritt es als etwas in Erscheinung, das Nachrichten aussendet. Es liege an uns, sie zu übersetzen. "Wir sind allesamt Antennen für kreatives Denken", so Rubin. Eine Unklarheit oder Unschärfe, die Anlass gibt, nachzudenken. Nicht das schlechteste, was ein Buch zu leisten vermag.


Überlebenskunst


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Über Lebenskunst wurde schon viel geschrieben, in besseren Zeiten zumeist. Doch die Zeiten haben sich geändert, es ist Krieg in Europa, die Klimakrise verschärft sich, um nur zwei der Krisenerscheinungen der Zeit zu nennen. Damit verändert sich der Rahmen. Gefragt ist "Überlebenskunst in unsicheren Zeiten" - was freilich ein Lesefehler ist, geschuldet der typografischen Gestaltung des Covers, wo die Wortsilben in Versalschrift untereinander angeordnet sind. Doch das Missverständnis klärt sich schnell auf, gleich auf dem Innentitel steht der korrekte Titel Über Lebenskunst. Das neue Buch von Bernhard von Mutius. Dennoch eröffnet die kleine Fehlwahrnehmung ein Sprachspiel, das ein Verständnis dieses Buches erschließt. Denn darin geht es nicht um die Lebenskunst, die gewöhnlich mit diesem Begriff gemeint ist. Es geht um eine andere Form, eine andere Art von Lebenskunst, die eher mit Disruption zu tun hat als mit Konvention. Mit dem Ungewöhnlichen mehr als mit dem Gewöhnlichen und Gewohnten. Es geht um die Brüche und Umbrüche, die in den letzten Jahren an Dramatik gewonnen haben und die Frage des Überlebens neben die nach dem guten Leben stellen. Auf diese Brüche und Umbrüche versucht dieses Buch eine Antwort zu geben. Das nicht in Lektionen, auch nicht mittels Tools und Methoden und schon gar nicht mittels in Akronyme gezwungener XY-Coaching-Formeln. Sondern in kleinen Lebensweisheiten und sinnigen Geschichten. 

Vier Eckpunkte umreißen das Feld der Lebenskunst, von Mutius nennt dies "das magische Viereck". Diese vier Punkte geben dem Buch auch seine Gliederung vor: der Lebensmut, der Lebenssinn, die "Disziplin und Kunst, Brücken zu bauen" sowie das Anfangen. Anfangen meint dabei nicht den großen Plan, die ausgefeilte Strategie, das große Projekt. Sondern Anfangen meint: mit Freundlichkeit und kleinen Dingen. Anfangen "mit ganz einfachen, freundlichen Schritten im Alltag". Weil Freundlichkeit "uns hilft, in einer Zeit der Ungewissheit miteinander respektvoll und menschenwürdig umzugehen". Es sind die kleinen Dinge, die kleinen Formen, die in ihrem Zusammenspiel "das Leben … lebenswerter, manchmal liebenswerter und gelingender" machen, so der Autor. Hier gilt es zu beginnen. Dieses Prinzip spiegelt sich auch im Buch. Es ist die kleine Form, die es prägt: die Anekdote, die Geschichte, das Erzählerische, das in der eigenen Erfahrung gründet. "Ich kenne da eine Geschichte", wie es recht weit am Anfang heißt, ist das Stilprinzip des Buches. Lebenskunst "ist die Geschichte in der Geschichte, mit der etwas anfängt". Und natürlich geht es auch um Bernhard von Mutius’ großes Thema, den Umgang mit unserem Nichtwissen. Auch das hat mit Lebenskunst zu tun, sehr viel sogar: "Erst wenn wir zugeben, nicht mehr weiter zu wissen, finden wir vielleicht weiter."


Finstere Zeiten


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"Zehn Megabedrohungen gleichzeitig sind eine ganz andere Dimension." Eine andere, neue Dimension von Krise. Die These von Nouriel Roubini. Nouriel Roubini, emeritierter Professor der Stern School of Business an der New York University, ist laut Nassim Nicholas Taleb der einzige Wirtschaftsexperte, der die Finanzkrise vorhergesagt hat. Nun legt er ein neues Buch vor, das eine neue Bedrohungslage umreißt: Megathreats, der Titel. Die lange Phase des relativen Wohlstands neige sich dem Ende zu, so seine Diagnose. "Die Epoche der Stabilität endet, und eine Zeit der akuten Instabilität, des Konflikts und des Chaos bricht an. Wir sehen uns Bedrohungen gegenüber, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat - und diese Bedrohungen hängen eng miteinander zusammen." Wirtschaftliche, finanzielle, technische, politische, geopolitische, gesundheitliche Bedrohungen sowie Klima- und Umweltgefahren "haben sich zu etwas viel Größerem aufgeschaukelt und werden die Welt bis zur Unkenntlichkeit verändern", schreibt Roubini, "ob uns das gefällt oder nicht. Wenn wir überleben wollen, dürfen wir uns nicht von ihnen überrumpeln lassen". In den Kapiteln seines Buches beschreibt der Autor diese Herausforderungen und wie sie zusammenhängen. 

Ein stabiles Wirtschaftswachstum, technologische Innovationen und eine vernünftige politische Steuerung sind für ihn die Voraussetzungen, um die drohenden Gefahren abzuwenden. Große Hoffnung, dass das gelingen kann, weckt Roubini allerdings nicht. Am Ende des Buches entwirft er zwei Szenarien für die künftige Entwicklung, die er so umreißt. "Im ersten, dystopischen Szenario werden eine oder mehrere der geschilderten Megabedrohungen wahr, und unsere Zivilisation gleitet in Richtung Instabilität und Chaos ab. Im zweiten, utopischen Szenario lassen sich die Megabedrohungen durch Vernunft und eine kluge Politik abwenden - die Menschheit strauchelt, aber sie fällt nicht." Beruhigen kann und will Roubini jedoch nicht. Sein Positivszenario stützt sich auf vage, teils spekulative Annahmen. Zum Beispiel, dass die Kernfusion die Lösung der Energiekrise bringen würde oder vielleicht "wundersame Erfindungen" helfen könnten, den Klimawandel in der Griff zu bekommen. Am Ende seines Buches gesteht er denn auch ein, dass sein positives, "utopisches" Szenario im Grunde nur der "weniger dystopische" Ausblick ist. Es drohten "finstere Zeiten", so die Überschrift des Schlussteils.


Blick von überallher


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Die fundamentale Einsicht, dass wir heute und auch in Zukunft mit einer Vielzahl globaler, ineinander verwobener und immer komplexerer Krisen konfrontiert sind und sein werden, ist auch der Ausgangspunkt dieses kleinen Bändchens über die Begründung einer neuen Aufklärung. Der Gedanke taucht in den Diskursen ja immer wieder mal auf, und er hat uns auf changeX auch bereits beschäftigt. Nun wird er mit einer ganz konkreten Ausrichtung und Zielrichtung vorgetragen. Es geht um die Rolle, die Funktion und die akademischen Strukturen der Geistes- und Sozialwissenschaften, die bei der Erklärung und Gestaltung unserer Welt gegenüber der instrumentellen Vernunft insbesondere in Form der Naturwissenschaften ins Hintertreffen geraten sind und abgesehen von einer nachträglichen Erklärung der von Wissenschaft und Technik in Gang gesetzten Dynamik nur wenig beizutragen vermögen. Das Buch möchte einen konzeptionellen und strategischen Rahmen für den ambitionierten Versuch entwickeln, die Geisteswissenschaften in den weiteren Kontext der Herbeiführung eines Systemwandels zu stellen, wie es in der Einführung heißt. Es plädiert für einen weiten Begriff von Geistes- und Sozialwissenschaften, für einen Pluralismus der Methoden und Ansätze sowie für Zentrierung und Multiperspektivität. Statt nach einem wertfreien Blick von irgendwo zu suchen - der letztlich zu einem Blick von nirgendwo werde - gehe es darum, einen "Blick von überallher" zu gewinnen - eine schöne Umschreibung für das, was ein breit angelegtes Konzept von Geistes- und Sozialwissenschaften können und ermöglichen sollte: eine breite Palette von Perspektiven zu eröffnen. 

Relevant ist das nicht nur für die wissenschaftliche Arbeit im engeren Sinne, sondern auch für die Praxis der Menschen in einer Welt, in der es den sicheren Standort der Beobachtung und Beurteilung nicht mehr gibt. "Um Geltungsansprüche beurteilen zu können, brauchen Menschen eine Vielzahl von Perspektiven auf dieselben Sachverhalte, um zu begründeten Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, was sie tatsächlich wissen und tun sollten." Gerade auch deshalb, und nicht nur für wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, ist die Pluralität der Ansätze für eine neue Aufklärung wesentlich. Differenz zu verstehen ist nicht nur Ziel und Grundlage wissenschaftlicher Methodik - konkret in der Wiederbelebung der Hermeneutik als Verstehenswissenschaft -, sondern für die Aufklärung schlechthin, "die durch ihre Differenz lebt". Wir müssen "das Anderssein willkommen heißen", "Mitgefühl und Empathie zeigen und einander zuhören". Die Abhandlung ist im Kern selbstbezüglich, richtet sich also an die Geistes- und Sozialwissenschaften, und ist in einer wissenschafts-programmatischen Diktion geschrieben. Gleichwohl bietet es eine Vielzahl von Anregungen zu deren Neubegründung und methodischen Ausrichtung sowie zahlreiche Literaturhinweise zur weiteren Lektüre. Trotz guter Gedanken und vielfältiger Anregungen liest sich das aber so, als ginge es in erster Linie darum, den Geistes- und Sozialwissenschaften wieder den ihnen zustehenden Rang beizumessen. Grundsätzlich aber argumentiert der Text von einer Position gesicherten Wissens aus. Nichtwissen, Widersprüche, Paradoxien und Cognitive Biases, also systematische Verzerrungen menschlicher Wahrnehmung, wie sie Psychologie und Verhaltenswissenschaft zahlreich nachgewiesen haben und die letztlich eine Einschränkung von Rationalität bedeuten, spielen keine Rolle. Gerade das aber wären Themen, denen sich eine neue Aufklärung zu stellen hätte.


Die Aufklärung, sie hat ja noch kaum angefangen


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"Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage" - der Eröffnungschor zum Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach. Aus wessen Feder diese berühmte Eröffnungsstrophe stammt, liegt im Dunkeln. Wer das Libretto für Bachs populärstes Werk verfasst hat, "bleibt bis heute ein Rätsel", beschreibt Angela Steidele den Ausgangspunkt ihres Romans Aufklärung. Ihr Kunstgriff: Sie setzt eine Person, über die ebenfalls nichts bekannt ist, als Ich-Erzählerin ein: des Komponisten älteste Tochter Catharina Dorothea Bach, über die ihr Vater einmal notiert hat, dass sie im Familien-Ensemble "nicht schlimm einschläget". Also offenbar ganz passabel gesungen hat. Mehr sei über sie nicht bekannt, notiert Steidele über die Schlüsselfigur ihres Romans. In ihren Aufzeichnungen entwirft die "Jungfer Bachin" ein schillerndes Gemälde der Zeit der Aufklärung in Leipzig, geschrieben aus einer dezidiert weiblichen Perspektive, garniert mit ironischen Bezügen auf die heutige Zeit und mit klangvollen Schilderungen der Musik Bachs. Um die geht es auch in dem zentralen Erzählstrang, der von der Freundschaft der Erzählerin zu Luise Gottsched, der Frau des Literatur- und Sprachwissenschaftlers Johann Christoph Gottsched, Professor für Weltweisheit in Leipzig und einer der maßgeblichen Aufklärer der Zeit. Luise Gottsched, die schon zwei Bücher verfasst hatte und als Hoffnungsträgerin der weiblichen Geistesgeschichte der Epoche galt, sei eingesprungen, als Bachs bisheriger Textdichter Picander sich mit dem Komponisten überwarf. Sie habe das Libretto für das Weihnachtsoratorium geschrieben, so die kühne These. 

So plastisch Steideles fiktive Erzählerin die Entstehung des Oratoriumstextes auch geschildert hat, kommen mit den Jahren (und im Verlauf des Erzählung) doch Zweifel an dieser Interpretation auf. Zunächst in zeitlicher Hinsicht. Weilte Luise Gottsched zur Zeit der Entstehung des Oratoriums tatsächlich schon in Leipzig? Die fiktive Dorothea Bach beginnt an ihrem Erinnerungsvermögen, ihrer Urteilskraft, ihrer Rationalität zu zweifeln. "Mir dreht sich alles. Oh Gott - was, wenn ich mich ... tatsächlich getäuscht haben sollte? Kann ich mir selber noch über den Weg trauen?" Sie lässt ihre Zweifel zu, ganz anders als die gelehrten Wortführer der Aufklärung, denen es, anders als in den Anfängen, um die Durchsetzung der eigenen Position und Meinung geht, ums Rechthaben und um ihre persönliche Reputation. Die Aufbruchstimmung des sapere aude ist verflogen. Krieg zieht ins Land. Zweifel an der Aufklärung machen sich breit. Und es ist Dorothea Bach, die das Licht hochhält. "Wir kommen doch aus einer Zeit des Lichts", sagt sie, "die Aufklärung, sie hat ja noch kaum angefangen." Das ist die Botschaft des Buches: ein Plädoyer für eine Weiterführung der Aufklärung mit einem umfassenderen Anspruch. Das Buch legt nahe, dass die selbstkritische, reflektierende Art und Weise, in der die fiktive Erzählerin mit Zweifeln an ihrer Wahrnehmung und Beschreibung der Welt umgeht, dieser neuen Aufklärung die Richtung weist.


Was weißt du hier?


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Dass Räume eine unmittelbare Wirkung auf Menschen ausüben, ist bekannt. Wohl die meisten Menschen schon haben bestimmte Räume als besonders eindrucksvoll oder bedeutsam erfahren, eine Kathedrale etwa, ein Schloss, das Parlament, ein Fußballstadion, eine Straße, einen Platz. Kognitionswissenschaftler wie Steven Pinker gehen davon aus, dass Räume und räumliche Metaphern eine besondere Bedeutung für das Denken haben. Und Bürodesigner gestalten Räume, in denen es sich besonders kreativ arbeiten lassen soll; und Psychologen nutzen in der Aufstellungsarbeit Räume, um Beziehungen zu visualisieren. Dennoch scheint unser Wissen über die Bedeutung von Räumen für Wahrnehmung und Denken bei weitem nicht ausgeschöpft. Andere Kulturen gehen wesentlich weiter, wie die australischen Aborigines zum Beispiel, für die Landschaften Erzählungen sind, Zeichensysteme also, die ihre Geschichte spiegeln. 

Einer Ahnung wohl folgte der englische Psychotherapeut David Grove, als er den Raum in seine Therapiearbeit einzubeziehen und sich mit der Bedeutung von Räumen zu beschäftigen begann. Seiner Ansicht nach können Räume "psychoaktiv" werden, wenn Menschen ihre Vorstellungen und psychischen Inhalte in sie projizieren. Aus dieser Erfahrung und Erkenntnis heraus entwickelte der innovative Psychotherapeut die Methode Clean Space, die nach seinem Tod von Weggefährten zusammengefasst und weiterentwickelt worden ist und nun von James Lawley und Marian Way aufbereitet und in Buchform publiziert worden ist. 

Clean Space basiert auf der Metapher, dass der physische Raum eine psychologische und symbolische Bedeutung haben kann. "Clean" wiederum bezieht sich auf die Erfahrung, dass eine Person umso leichter Zugang zu ihrer Kreativität erlangt, je weniger sich eine anleitende Person einbringt und umso neutraler diese ihre leitenden Fragen formuliert. Ausgehend von der Erfahrung, dass die Art und Weise, wie Fragen formuliert werden, die Antworten beeinflusst, verzichtet in Clean Space die anleitende Person darauf, eigene Vorstellungen und Ideen einzubringen und verwendet ausschließlich das Vokabular der Klientin. Der Ablauf: Die erforschende Person notiert ihr Anliegen auf einer Haftnotiz oder einem Blatt Papier und platziert es an dem Ort im Raum, an den es ihrer Ansicht nach gehört. Angeleitet von neutralen Fragen bewegt sie sich durch den Raum, findet weitere Orte und notiert ihre Erfahrungen dort. Standardfragen hierbei: "Was weißt du hier?" Und, einen Ort weiter; "Was weißt du hier?" So entsteht ein "Netzwerk aus Orten", an denen Wissen abgelegt ist. Nach Aussage von Lawley und Way führt dieses einfache Vorgehen zu intensiven Erfahrungen und Einsichten. So "können sich spontan überraschende Gedanken, kreative Einsichten und Lösungen für alte Probleme zeigen". Dabei gehe es weniger um Sprache, "sondern mehr um Bewegung, Körperempfinden und intuitives Wissen". Der Schlüssel ist vielleicht, dass eine Person im Raum Orte findet, an denen "ihr Körper etwas spürt, über das sie fast nichts weiß". Das Buch präsentiert eine überzeugende und leicht zu erlernende Methode, die sich, so der Eindruck, nicht nur in Coaching und Psychoanalyse einsetzen lässt, sondern auch in kreativer Arbeit, in Teamprozessen oder in der Organisationsgestaltung. Was auszuprobieren wäre.


Wildpflanzen in der Stadt


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Indikatorpflanzen, auch Zeigerpflanzen genannt, sind Pflanzen, die durch ihre Spezialisierung bestimmte Standortbedingungen anzeigen, die Bodenbeschaffenheit beispielsweise, wie nassen, trockenen oder nährstoffreichen Boden. Unter Indikatorbüchern könnte man demnach Bücher verstehen, die über ihr eigentliches Thema hinaus auf größere Entwicklungstendenzen verweisen. Die sich einordnen in einen größeren Zusammenhang gesellschaftlicher Entwicklung. Für den hier vorgestellten Titel gilt das in mehrerlei Hinsicht. So deuten viele Anzeichen darauf hin, dass sich ein neues Verständnis von Natur entwickelt und ein neues Verhältnis zu ihr breitzumachen beginnt. Zugleich verändert sich unter dem Eindruck der Klimakrise die Wahrnehmung von Lebensräumen: von Stadt, von Region, von Landschaften. 

Das vorliegende Rezeptbuch von Caroline Deiß über die Magie der Stadtpflanzen reflektiert dies: Über Jahrzehnte hinweg zum Funktionsraum entwickelt, wird die Stadt in zunehmenden Maße wieder als Lebensraum wahrgenommen. In den Blick rücken damit auch Tiere und Pflanzen, die nun nicht mehr als Störenfriede oder Schädlinge gesehen werden, sondern als Teil städtischer Ökosysteme, als Teil einer "Stadtnatur", die als ökologisch wertvoller und reichhaltiger beschrieben wird, als die ausgeräumten Nutzlandschaften der industrialisierten Landwirtschaft. Zu dieser Hinwendung zur Natur gehört auch die Wiederentdeckung von Wildpflanzen, die bislang als Unkräuter verfolgt wurden und nun als schmackhafte und gesunde Kräuter und Gemüsepflanzen Eingang in die ambitionierte Küche fanden: Giersch, Spitzwegerich, Wilde Möhre, Brennnessel oder auch Bärlauch, der als Wegbereiter gewirkt hat. Trendsetter wiederum war die sogenannte nordische Küche mit ihrer bevorzugten Verwendung von meist in direkter Umgebung geernteten Wildpflanzen und Kräutern, exemplarisch das Restaurant Noma in Kopenhagen. 

Nicht zuletzt steht das Buch für eine aufkeimende Ahnung, dass auch im zivilisierten Westen vor Zwangschristianisierung und wissenschaftlicher Revolution ein indigenes Wissen - speziell über die Wirkung und Verwendung von Pflanzen - vorhanden gewesen sein muss. Darauf spielt der Titel des Buchs an. Neben den in Wildkräuterbüchern üblichen Pflanzenbeschreibungen, Tipps für das Sammeln und zahlreichen Rezeptvorschlägen gibt dieses Buch auch Hinweise auf die Verwendung und Bedeutung der vorgestellten Pflanzen in vorwissenschaftlicher Zeit. Woher die Autorin diese Erkenntnisse schöpft, bleibt allerdings unklar. Manche Formulierung lässt indes darauf schließen, dass es sich eher um Mutmaßungen, denn um belegbares Wissen handelt. Gleichwohl ist das Buch mit seinen ansprechenden Rezepten und den von Sylwia Erdmanska-Kolanczyk schön fotografierten Pflanzenbildern, die das Erkennen erleichtern, ein gelungener Beitrag zur Wiederentdeckung alter und ebenso gesunder wie schmackhafter Pflanzen, die oftmals unscheinbar am Wegesrand wachsen. Und eben auch auf Brachflächen, in Parks und Flußauen in der Stadt. 


Zitate


"Das wesentliche Merkmal unserer Spezies ist die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu planen". Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Jetzt hat sich das Blatt wieder gewendet. Die heutigen Veränderungen in der Arbeitswelt haben die Prospektion wieder ganz oben auf die Liste der wesentlichen Fähigkeiten von Arbeitskräften katapultiert." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Der Geist meint, das Material käme von innen. Doch das ist eine Illusion." Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein

"Wir sind allesamt Antennen für kreatives Denken." Rick Rubin: kreativ. Die Kunst zu sein

"Freundlichkeit ist vielleicht auch deshalb so wichtig, weil sie uns hilft, in einer Zeit der Ungewissheit miteinander respektvoll und menschenwürdig umzugehen." Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

"Erst wenn wir zugeben, nicht mehr weiter zu wissen, finden wir vielleicht weiter." Bernhard von Mutius: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

"Die Epoche der Stabilität endet, und eine Zeit der akuten Instabilität, des Konflikts und des Chaos bricht an. Wir sehen uns Bedrohungen gegenüber, wie sie die Menschheit noch nie erlebt hat - und diese Bedrohungen hängen eng miteinander zusammen." Nouriel Roubini: Megathreats

"Im ersten, dystopischen Szenario werden eine oder mehrere der geschilderten Megabedrohungen wahr, und unsere Zivilisation gleitet in Richtung Instabilität und Chaos ab. Im zweiten, utopischen Szenario lassen sich die Megabedrohungen durch Vernunft und eine kluge Politik abwenden - die Menschheit strauchelt, aber sie fällt nicht." Nouriel Roubini: Megathreats

"Wir müssen das Anderssein willkommen heißen, Mitgefühl und Empathie zeigen und einander zuhören." Markus Gabriel u.a.: Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung

"Um Geltungsansprüche beurteilen zu können, brauchen Menschen eine Vielzahl von Perspektiven auf dieselben Sachverhalte, um zu begründeten Schlussfolgerungen darüber zu gelangen, was sie tatsächlich wissen und tun sollten." Markus Gabriel u.a.: Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung

"Wir kommen doch aus einer Zeit des Lichts. Die Aufklärung - sie hat ja noch kaum angefangen." Angela Steidele: Aufklärung

"Es geht weniger um Sprache, sondern mehr um Bewegung, Körperempfinden und intuitives Wissen." James Lawley, Marian Way: Erkenntnisse im Raum

 

changeX 08.07.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zu den Büchern

: Tomorrowmind. Das Toolkit für mentale Stärke, Gesundheit und mehr Freude an der Arbeit, übersetzt von Judith Elze & Katrin Harlaß. Ariston Verlag, München 2023, 336 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3424202649

Tomorrowmind

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: kreativ. Die Kunst zu sein, übersetzt von Judith Elze. Verlag O.W. Barth / Droemer Knaur, München 2023, 416 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-426-29339-3

kreativ

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: Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten. GABAL Verlag, Offenbach 2023, 208 Seiten, 29.90 Euro (D), ISBN 978-3-96739-144-2

Über Lebenskunst in unsicheren Zeiten

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: Megathreats. 10 Bedrohungen unserer Zukunft - und wie wir sie überleben. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Neubauer. Ariston Verlag, München 2022, 384 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3-424-20281-6

Megathreats

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: Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung. Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften. transcript Verlag, Bielefeld 2023, 88 Seiten, 18 Euro (D), ISBN 978-3-8376-6635-9

Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung

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: Aufklärung. Ein Roman. Insel Verlag, Berlin 2022, 603 Seiten, 25 Euro (D), ISBN 978-3-458-64340-1

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: Erkenntnisse im Raum. Mit Clean Space Kreativität anregen, Ideen generieren und Probleme lösen, aus dem Englischen von Andrea Matt u.a.. Carl-Auer Verlag, Heidelberg 2022, 236 Seiten, 44.95 Euro (D), ISBN 978-3-8497-0452-0

Erkenntnisse im Raum

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: Magie der Stadtpflanzen. Urbane Wildkräuter erkennen, sammeln, zubereiten. 35 Kräuter. 55 Rezepte. Christian Verlag, München 2023, 192 Seiten, 29.99 Euro (D), ISBN 978-3-95961-777-2

Magie der Stadtpflanzen

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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