Wissen tauschen, gemeinsam wachsen

Living at Work-Serie | Folge 10 | - Kai Romhardt über lebendiges Wissensmanagement.

Wissen ist wichtig. Deshalb versuchen viele Unternehmen, gezielt Informationen zu archivieren, Erfahrungsberichte abzuspeichern und Experten zu "melken". Doch das kann leicht dazu führen, dass man etwas Überholtes, Totes konserviert. Erfolgversprechender ist es, wenn die Mitarbeiter sich in Wissensgemeinschaften austauschen - wenn sie gewisse Spielregeln beachten.

Der Mensch ist dem Thema "Wissen" heute viel stärker ausgesetzt als in der Vergangenheit. Er bekommt auf immer mehr Kanälen Informationen. Er wird auch viel mehr über sein Wissen bewertet. Dadurch und durch den Ansturm von Informationen haben sich alte Ängste noch wesentlich verstärkt. Vor allem die alte Angst, nicht zu genügen oder nicht genug zu wissen. Ich habe oft miterlebt, dass Leute in ein Projekt gesteckt wurden und dort kompetent aussehen mussten, obwohl sie gar nicht die Zeit hatten, das nötige Wissen aufzubauen. Erfahrung konnte nicht natürlich in ihnen wachsen, sondern sie wurden sofort in die Situation hineingeworfen.

Wissen ist ständig im Wandel.


Wo mit Wissen gearbeitet wird, wo Wissen wertvoll ist, versuchen Unternehmen inzwischen oft, ein Wissensmanagement aufzubauen. Doch in vielen Organisationen ist die Gefahr des Scheiterns groß, weil man Wissen mit Information verwechselt. Man versucht, Informationen zu archivieren, Erfahrungsberichte abzuspeichern und Experten zu "melken". Das kann leicht dazu führen, dass man sich vom Fluss des Wissens abschneidet und etwas Altes, Überholtes, Totes konserviert. Oft wird nur das, was digitalisierbar ist, tatsächlich als Wissen anerkannt. Aber Wissen ist viel mehr, es ist in einer Situation, in einem Kontext enthalten, aber auch in unserem Körper gespeichert. Es ist ständig im Wandel. Was für mich heute stimmig und richtig ist, gilt in einer Woche vielleicht schon nicht mehr, weil ich dazugelernt habe.
Ein Wissensmanagement im Unternehmen, das auf einem Informationswissensbegriff basiert und vor allem aus einer IT-Lösung besteht, wird sehr viele Leute enttäuschen. Es ist eigentlich ein Schrei nach Sicherheit. Wir wollen festhalten, in den Griff bekommen. Es soll quadratisch, praktisch, gut sein. Schön messbar und ablegbar. Man soll es mit einer E-Mail hin- und herschicken, bilanzieren und mit Geldbeträgen bewerten können. Doch Lern- und Entwicklungsprozesse kann man nicht einfach in den Griff bekommen, sie zeichnen sich ja gerade durch dieses natürliche Prinzip des Wachstums aus. Wir müssen in das eigene Wachstum und das von Gruppen vertrauen und die Informationstechnologie nicht zur Hauptsache, sondern zum nützlichen Helfer machen.
Viele euphorisch gestartete Wissensmanagement-Projekte sind inzwischen gescheitert. Denn obwohl Wissen immer an Personen oder Gruppen gebunden ist, nehmen die meisten Wissensprojekte darauf nicht genügend Rücksicht. Auch Best Practices, Lessons learned, Expertenverzeichnisse mit schicken Lebensläufen guter Wissenshelden sind oft praxisferne, sterile Konzepte, die mit der organisatorischen Realität nichts mehr zu tun haben.

Eine mögliche Lösung: Wissensgemeinschaften.


Die Bedeutung von Wissensgemeinschaften, einer sehr viel sinnvolleren Form des Wissensmanagements, dringt immer mehr ins Bewusstsein von Managern und Organisationsforschern. Doch ihr Potenzial wird noch viel zu wenig ausgeschöpft. Wir alle arbeiten in der einen oder anderen Form in solchen Gruppen mit. In Gruppen, die gemeinsam Wissen entwickeln, Erfahrungen teilen und dabei eine eigene Identität aufbauen. Eine Wissensgemeinschaft kann eine Gruppe von Doktoranden sein, die an einem ähnlichen Thema forscht. Oder eine Projektgruppe eines Joint Venture, die einen bisher noch nicht existierenden Markt erforschen und schaffen will. Oder eine Selbsthilfegruppe, in der alle Mitglieder von derselben Krankheit betroffen sind. Manche dieser Gruppen schaffen eine Kultur, in der ihre Mitglieder inspiriert und gefördert werden. Nach meiner Erfahrung entsteht das Gemeinsame in einer lebendigen Wissensgemeinschaft scheinbar wie von selbst. Mit geringem Energieaufwand kommen erstaunliche Lösungen zustande. Doch das ist leider die Ausnahme. Viele Gruppen verwalten, diskutieren, kritisieren und schaffen es dabei nicht, Vertrauen zwischen den Mitgliedern aufzubauen und eine positive Basis für freie schöpferische Prozesse zu schaffen.

Wissen weitergeben.


Noch herrscht in vielen Unternehmen eine Einstellung, die solche schöpferischen Projekte verhindert. Es fehlt an wahrem Respekt für den Menschen. Menschen werden als wandelnde "Kompetenzportfolios" konzeptualisiert, deren "Skills" effizient (aus)genutzt werden müssen. Für mich sind Menschen von Natur aus auf Entwicklung und inneres Wachstum ausgelegt. Deshalb müssen Wissensgemeinschaften zu Orten persönlichen Wachstums werden.
Wer sich als Experte über Jahrzehnte intuitives Fachwissen, ein ausgedehntes Beziehungsnetz und ein Gefühl für seine Produkte erarbeitet hat, wer mit seinem Körper über Jahrzehnte die Stimmung und Kultur seiner Branche aufgenommen hat, der wird nur einen Bruchteil seiner Erfahrungen als Information expliziert in Datenbanken übertragen können. Erfahrungen zeigen, dass zwar über einen geordneten Prozess der Datenübergabe an einen Nachfolger einiges "gesichert" werden kann, aber der Rückgriff auf tiefere Erfahrungen eines Experten/Wissensträgers nur über die lebendige, persönliche Interaktion erfolgen kann. Konsequenz für Wissensgemeinschaften: Die Übertragung impliziten Wissens und von Erfahrung ist für die dauerhafte Sicherung des Know-hows einer Wissensgemeinschaft zentral. Dies bedeutet enge, vertrauensvolle und offene Interaktion zwischen den Mitgliedern.
Der Begriff der Community of Practice ist weit verbreitet und bildet somit einen guten Einstieg in Diskussionen über Wissensgemeinschaften. Er betont die Bedeutung des Lernens in Gruppen, die Erfahrungen teilen. Das gemeinsame Tun an einem konkreten Thema, Objekt, Problem steht im Vordergrund. Die Erfahrung spielt eine besondere Rolle - damit ist es ein Gegengewicht zum Explizierungseifer mancher Wissensmanager, die Wissen einfach "abtanken" wollen. Lernen in Wissensgemeinschaften ist als ein selbst organisierter und selbststeuernder Prozess von Personengruppen zu verstehen, auf den von außen nur sehr beschränkt Einfluss genommen werden kann.

Respekt und Lernbereitschaft.


Meine Vorstellung von lebendigem Wissensmanagement ist:

  • Lebendiges Wissensmanagement ist balanciert und fixiert nicht, ist stark innenorientiert.
  • Es fordert Wissensmanager zur Selbsterkenntnis auf.
  • Es akzeptiert unser letztendliches Nicht-Wissen und hält nicht an letztendlichen Wahrheiten fest.
  • Es setzt bei Problemen an und klammert sich nicht an Instrumente.
  • Es schaut erst auf den Menschen, die Wissensgemeinschaft und dann auf die Computer (und verknüpft beides zu einem lebendigen System).
  • Es basiert auf ethischen Prinzipien im Umgang mit Wissen und postuliert keine Wertneutralität.
  • Es kann intensiv zuhören und schweigen und durchbricht somit das Dauergerede in vielen (Wissens-)Meetings und anderen Kommunikationszusammenhängen.
  • Es setzt auf interne Kooperation und nicht auf internen Wettbewerb.

In unserer Vision ist eine Wissensgemeinschaft eine Gruppe von Menschen,

  • die ein Thema durchdringen wollen und sich ihm ganz öffnen,
  • die sich alle als Lehrer und Schüler verstehen,
  • die ihre wahren Überzeugungen und Erfahrungen äußern,
  • die offen über Fehler und Misserfolge reden,
  • die nicht an bestehenden Konzepten festhalten, sondern bereit sind, alles neu zu überdenken,
  • die einander zuhören und versuchen, ein gegenseitiges Verständnis zu erreichen,
  • die nicht mit ihrem Wissen in wirtschaftlichen Wettbewerb zueinander treten wollen.

Dieses Leitbild ist natürlich idealtypisch. Aber Utopien sind notwendig. Unsere Vision eines Ortes, an dem ein lebendiger Wissensfluss zu erwarten wäre, muss in unserem eigenen Umgang mit Wissen zum Leben erweckt werden. Dann können wir mit anderen zusammen schöpferische, positive Wissensgemeinschaften schaffen.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

English version: PDF-File.

Kai Romhardt promovierte über das Thema "Wissensmanagement" und war danach Berater bei McKinsey. Heute arbeitet er als selbstständiger Unternehmensberater und Autor. Von ihm sind unter anderem Wissen ist machbar - 50 Basics für einen klaren Kopf und Wissensgemeinschaften - Orte lebendigen Wissensmanagements erschienen.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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