Die Welt als Widerspruch
Moulüe - Supraplanung. Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte - das neue Buch von Harro von Senger.
Von Florian Michl
Die Volksrepublik China sei ein Land der Gegensätze, sagt man hierzulande hübsch feuilletonistisch. Und übersieht dabei, dass dieses Land nicht nur von Gegensätzen geprägt ist, sondern in Gegensätzen denkt. Und sich dabei an Marx und Lenin, aber auch an der Kunst des Krieges von Meister Sun orientiert. Dessen wichtigstes Postulat: Plane langfristig, aber sei flexibel. Im Westen hält man das dann für Pragmatismus. / 11.04.08
Senger CoverDie Welt ist voller Widersprüche, besonders in China: nicht weil westliche Unternehmer auf unberechenbare, chinesische Partner stoßen, die Abmachungen und Verträge brechen, geistiges Eigentum kopieren oder die Kontrolle über gemeinsam konzipierte Unternehmungen an sich reißen. Sondern weil Chinesen - ganz in der Tradition von Marx - gewohnt sind, die Wirklichkeit als ein Sammelsurium an Widersprüchen wahrzunehmen: als einen "Gesamtkomplex von miteinander verbundenen Antithesen". So die These des bekannten Sinologen Harro von Senger. So zerfalle die Volkswirtschaft beispielsweise in die Antithesen Industrie und Landwirtschaft, Binnen- und Außenhandel, Kollektiv- und Privatwirtschaft. Und Politik bedeute in China, "ständig Widersprüche zu analysieren und zu regeln" - eine Denkbahn, die sich jeder chinesische Intellektuelle aneignen muss. Anders gesagt: Marx und Lenin prägen nach wie vor die chinesische Wirklichkeit. Marktwirtschaft hin oder her. Der Westen, kritisiert von Senger, reagiere jedoch nicht entsprechend darauf. Und tappe daher von einer Überraschung zur nächsten. Das will der Sinologe ändern. Sein Ziel ist es, Licht in das Denken der Volksrepublik China zu bringen. Zeigen will er insbesondere, wie man im Reich der Mitte Widersprüche, also Probleme löst. Er legt die drei geistigen Quellen des chinesischen Denkens offen, aus denen Führungspersönlichkeiten des Milliardenvolkes gedankliche Nahrung schöpfen. Von der Moulüe, der Supraplanung, und den Strategemen bis zum Sinomarxismus, den marxistisch-leninistischen Denkmodellen.

Nichts als Widersprüche.


Diese nutzt die Kommunistische Partei Chinas (KPCh), um "gleichsam Feuer und Wasser zu vereinen", und zwar nach der - auf westliche Menschen banal wirkenden - Methode, "zwei zu einem vereinen". Und das mit großem Erfolg, denn ob man die Alleinherrschaft der chinesischen Kommunistischen Partei nun mag oder nicht: "Bei der Beurteilung der letzten 25 Jahre wird man nicht um die Anerkennung herumkommen, dass unter ihrer Ägide eines der größten, wenn nicht gar das größte Wirtschaftswunder der Weltgeschichte geschaffen worden ist", zitiert von Senger den China-Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung. Den wahren Grund für dieses Wunder sieht von Senger eben im Umgang mit Widersprüchen. Genauer gesagt, dem "Hauptwiderspruch": Auf dessen Lösung kanalisiere die KPCh sämtliche Energien des Milliardenvolkes.
Nicht kurzfristig, sondern auf sehr lange Sicht. So ersetzte sie 1978 den Hauptwiderspruch von 1949 "chinesisches Proletariat gegen chinesische Kapitalistenklasse" durch einen neuen, der bis heute gilt und in der Parteisatzung von 2007 verankert ist: "Der Hauptwiderspruch in der chinesischen Gesellschaft ist der Widerspruch zwischen den wachsenden materiellen und kulturellen Bedürfnissen des Volkes und der rückständigen gesellschaftlichen Produktion." Ein solches, in weite Etappen gegliedertes Planen ist ganz im Sinne der alten chinesischen Denktradition Moulüe, postuliert es doch "flexibles langfristiges und weiträumiges zielgerichtetes Denken, das ständig zwischen orthodoxem und unorthodoxem strategemischem Verhalten hin und her oszilliert." Damit bewegt es sich eine Denkebene über der höchsten im Westen erschlossenen, meint von Senger. Weshalb es dafür bei uns auch keine Bezeichnung gebe. Bis jetzt: Der Sinologe übersetzt die zweite Denkquelle chinesischer Führungskräfte mit Supraplanung.

Aus zwei mach eins.


Diese setzen sie zur Auflösung des Hauptwiderspruchs gezielt ein und scheuen dabei kein Mittel. Ebenso wenig wie schier unvereinbare Gegensätze, wie die Antithese "Kapitalismus und Sozialismus" oder "Autarkie und wirtschaftliche Abhängigkeit vom Ausland" - wenn sie nur der gemeinsamen Sache dienen. Im Westen freilich kommt das ganz anders an. Hier rede man ständig von "Pragmatismus", übersehe aber die eigentliche Maxime, kritisiert von Senger. Nämlich Flexibilität mit Grundsatztreue zu verknüpfen.
Zudem sei man hierzulande einfach blind gegenüber der strategemischen Denktradition des Reichs der Mitte. Denn dortige Führungskräfte greifen gerne auf das System der 36 Strategeme zurück, das zwar nur aus 138 Schriftzeichen besteht, aber die gesamte chinesische Erfahrung mit der schlauen Bewältigung prekärer Situationen bündelt. Diese Strategeme, denen von Senger sein letztes Buch gewidmet hat, sind im chinesischen Alltag mehr als präsent. Sie werden nicht nur durch Bücher verbreitet, sondern auch über Bilder, Kalender, Kunstausstellungen und Spielkarten, nicht zu vergessen TV-Serien, darunter auch solche für Kinder. Kein Wunder also, dass listkompetente Chinesen die übrige Welt gehörig unter Druck setzen. Und ihre Interessen durchsetzen.
Auch wenn beispielsweise das Strategem Nummer 18 noch so banal klingen mag: "Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muss man deren Anführer fangen." Gehe darauf doch die Logik des Hauptwiderspruchs zurück, so der Sinologe - denn das Strategem zielt auf den Kern einer Sache. Geht man den an, respektive löst den Hauptwiderspruch, dann lösen sich auch die damit verbundenen Probleme. Diese Zielrichtung verfolgt auch von Sengers Buch: Es umreißt den Kern des chinesischen Denkens und macht damit die Handlungslogik der Volksrepublik transparent - und kann damit als eine Art Meta-Ratgeber zu China gelten.

Florian Michl ist freier Mitarbeiter bei changeX.

Harro von Senger:
Moulüe - Supraplanung.
Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte.

Carl Hanser Verlag, München 2008,
286 Seiten, 19.90 Euro.
ISBN 978-3-446-41365-8
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: Moulüe - Supraplanung. . Unerkannte Denkhorizonte aus dem Reich der Mitte. . Carl Hanser Verlag, München 1900, 286 Seiten, ISBN 978-3-446-41365-8

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Florian Michl schreibt als freier Autor für changeX.

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