Wert plus Werte = Zukunftsfähigkeit

Living at Work-Serie | Folge 30 | - Bernhard von Mutius über das Konzept wertebalancierte Unternehmensführung.

Die Shareholdervalue-Doktrin hat in der Wirtschaft viel Schaden angerichtet, die Unternehmen haben eine Menge Vertrauen verspielt. Es ist deshalb Zeit für ein neues Leitbild der Balance von Wert und Werten, das den strategischen Herausforderungen der Wissensgesellschaft angemessen ist. Glücklicherweise gibt es für eine solche Erneuerungsbewegung bereits vielfältige Ansätze in Theorie und Praxis.

Was hatten uns manche Trendforscher, Marketing- und PR-Strategen in der vergangenen Dekade nicht alles versprochen: unbeschränkte Wachstumssteigerungen und unermessliche Reichtumsmehrung. Über allem stand ein Wort, das jeden zu elektrisieren schien: Shareholdervalue. Mit der Zeit hatte sich dieses Konzept zu einer Doktrin mit nahezu totalitärem Charakter ausgewachsen, zu einem Diktat, dem sich jeder beugen musste. Doch heute hat das Konzept einer strikt und ausschließlich auf den Unternehmenswert zielenden Unternehmensführung seine beste Zeit vermutlich hinter sich. Denn seine Nachteile sind inzwischen offensichtlich. Was als Konzept für stabile und langfristige Wertsteigerungen gedacht war, wurde von den Aktienmärkten dankbar aufgegriffen, gemäß ihren Spielregeln kurzfristig interpretiert und immer weiter reduziert, bis es schließlich nur noch um Quartalsberichte ging. Die Konsequenz solcher strukturellen Fehlentwicklungen ist ein massiv geschwundenes Vertrauen in die Wirtschaftselite.
Nun wird sich kein ökonomisch vernünftig denkender Mensch gegen konsequente Maßnahmen zur Wert- oder Wachstumssteigerung im globalen Wettbewerb aussprechen - gerade in der gegenwärtigen Phase der wirtschaftlichen Entwicklung benötigen wir neue, innovative Impulse für mehr Wachstum. Zur Debatte steht vielmehr die Einseitigkeit einer ausschließlich in materiellen Kategorien gedachten und an finanziellen Kennzahlen ausgerichteten Zielsetzung, die in ihrer Begrenztheit lebensfremd ist und den mehrdimensionalen Steuerungsaufgaben einer zeitgemäßen Unternehmensführung nicht entspricht.
Oder, wie es der Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ausdrückt: "Wachstum um seiner selbst willen ist nicht genug. Wir brauchen Strategien für ein nachhaltiges, gerechtes und demokratisches Wachstum." Ich plädiere deshalb für ein bewusstes "Sowohl-als-auch" von materieller "Wert-Orientierung" und immaterieller "Werte-Orientierung", das dem Aufbau des intellektuellen und sozialen Kapitals die gleiche Aufmerksamkeit schenkt wie der Mehrung des Sach- und Finanzkapitals.

Vertrauenskapital aufbauen.


Dafür spricht: In einer Wissensgesellschaft kommt den "Intangible Assets" einer Organisation eine wachsende Bedeutung zu. Das Realvermögen beruht mehr und mehr auf den immateriellen Vermögenswerten, insbesondere auf dem intellektuellen Kapital, das in den Köpfen und in grenzüberschreitenden Beziehungsnetzwerken kaum sichtbar verborgen ist. Dazu gehören Kreativität und Kundenorientierung, Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit ebenso wie Teamgeist, Toleranz, Transparenz und Integrität. Diese "Beziehungs-Werte" ermöglichen erst die wertschöpfenden Prozesse der Verwandlung von Wissen in funktionierende, marktfähige Innovationen.
Zudem sind Unternehmen in einer wissens- und beziehungsbasierten Ökonomie zunehmend abhängig von ihrem Umfeld, insbesondere von funktionierenden Infrastrukturen, guten Forschungs- und Bildungseinrichtungen und einer intakten Umwelt in ihrer Region. Im globalen Wettbewerb - der nicht zuletzt ein Wettbewerb um die besten Köpfe der Wissensarbeit ist - können sich daraus entscheidende Standortvorteile ergeben. Daher haben Unternehmen ein strategisches Eigeninteresse an Corporate Citizenship, an Werten wie Social Responsibility und Sustainability. Denn richtig verstanden und praktiziert, mehren diese Werte ihr soziales Kapital und damit ihr letztlich zukunftsentscheidendes Vertrauenskapital. Und dieses hat - wie wir aus mehreren neuen Studien wissen - positive Auswirkungen auf das Umsatz- und Ertragswachstum.
Es ist deshalb wohl kein Zufall, dass längst verschiedene Managementmodelle und Reportinginstrumente entwickelt wurden, die das Balancieren von harten und weichen Faktoren, von materiellen und immateriellen Werten explizit oder implizit als unternehmerische Aufgabe stellen. Von der Balanced Scorecard über das Business Excellence-Modell bis hin zu den verschiedenen, vor allem in Skandinavien genutzten Intellectual Capital Rating- und Reporting-Modellen. In Dänemark sind Unternehmen beispielsweise bereits verpflichtet, ihr intellektuelles Kapital zu bilanzieren. Darüber hinaus wird europaweit vielerorts an neuen Formen der Unternehmensbewertung gearbeitet, bei denen die so genannten "ethischen" Werte der sozialen und ökologischen Verantwortung im Fokus stehen. Beispielhaft hierfür ist die "Global Reporting Initiative", an der ja viele bekannte internationale Firmen mitwirken. Über kurz oder lang werden vermutlich auch deutsche Firmen den Nachweis bringen müssen, das sie sich um ihr intellektuelles und soziales Kapital kümmern und ihre "Intangible Assets" bilanzieren. In diese Richtung weisen bereits Basel II oder die Richtlinien des International Accounting Standard Board, die 2005 in Kraft treten sollen. Heißt das unterm Strich nicht: Die herkömmliche strikte Trennung von Unternehmensrechnung auf der einen Seite und Unternehmensentwicklung auf der anderen wird zunehmend dysfunktional?

Der Leitcode muss sich ändern.


Die gute Nachricht ist also: Eine Erneuerungsbewegung im Sinne einer neuen Balance von Wert und Werten hat eingesetzt. Die schlechte Nachricht ist, dass die entsprechenden Initiativen der Wissens-, Human Resources- und Qualitätsmanager, der Umwelt- oder Social Responsibilty-Verantwortlichen nicht wirklich integriert sind in das normale strategische und operative Business. In den Präsentationen der Chefstrategen geht es immer noch nahezu ausschließlich um die immer gleichen, einseitigen Ziele: "Kostensenkung", "Fokussierung auf das Kerngeschäft", "Ertragsentwicklung" oder "Wertsteigerung". Von Aussagen zur "Lern- und Entwicklungsperspektive", zum Thema "Qualität", zum "Intellektuellen Kapital" oder zur sozialen und ökologischen Verantwortung findet sich hier zumeist keine Spur. Und Integrationsversuche von tieferen Hierarchieebenen werden auf der obersten Ebene nur mit nachrangiger Priorität behandelt.
Wie aber kann man das ändern? Wie können wir es erreichen, dass aus dem "nice to have" ein "must have" wird? Meine These ist: Solange der Leitcode, der Oberbegriff für die Unternehmensausrichtung "Shareholdervalue" beziehungsweise "wertorientierte Unternehmensführung" heißt, werden wir daran nur sehr schwer etwas ändern können. Deshalb plädiere ich für eine zeitgemäße Erweiterung beziehungsweise Erneuerung des Leitbegriffs. Also: "wertebalancierte" statt wertorientierter Unternehmensführung. Vom "Value Based Management" zum "Balanced Values Management"! Die immateriellen Werte müssen Bestandteil der unternehmerischen Gesamtstrategie und der definierten Kernkompetenzen sein. Sie müssen in die Steuerungs- und Controllingsysteme integriert werden. Und sie müssen - angefangen beim Vorstand - im Business-Alltag mit höchster Priorität behandelt und gelebt werden. Zugespitzt formuliert: Das intellektuelle Vermögen und die Moral gehören in die Kostenrechnung.

Veränderung von unten und oben.


Ausgerechnet der ehemalige GE-Chef Jack Welch, sonst nicht gerade als Weichei bekannt, hat bereits ansatzweise bewiesen, dass so etwas geht. Er hat Anfang der 90er Jahre daran gearbeitet, die so genannten "GE-Values" zu entwickeln. Er hat diese Werte die "soziale Architektur des Unternehmens" genannt und um sie herum die Organisation neu ausgerichtet. Er hat diesen Values nicht nur selbst höchste Priorität zugemessen, er hat auch seine Manager ausdrücklich verpflichtet, stärker mit Werten als mit Zahlen zu führen. Von Managern, die diese Werte nicht teilten, trennte sich Welch.
Die Veränderung muss also nicht nur von unten kommen, sondern sie muss auch ganz oben ansetzen. Und sie sollte in einer neuen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit über herkömmliche Hierarchie- und Ressortbarrieren hinweg ihren Ausdruck finden. Warum soll es nicht möglich sein, Strategen und Controller mit Wissens-, Veränderungs-, Qualitäts- und Kommunikationsmanagern an einem Tisch zusammenzubringen? Und warum sollte man diese Akteure nicht dazu bewegen können, grenzüberschreitend miteinander an einer neuen "sozialen Architektur" des Unternehmens zu arbeiten? Nur so wird es uns gelingen, aus einer relevanten "Wert-orientierten" Hauptstruktur und einer bislang vernachlässigten "Werte-orientierten" Parallelstruktur eine die Menschen verbindende, integrierte Struktur zu gestalten. Dies würde auf allen Ebenen neue Energien freisetzen. Es würde die Entwicklung von Innovationen fördern. Es würde vor allem Sinn machen. Und Sinn ist, wie wir wissen, ein höchst knappe, jedoch - ähnlich wie Vertrauen - eine immer wichtiger werdende Ressource in der Wissensökonomie.
Selbstverständlich ist mir bewusst, dass sich diese Gedanken nicht von heute auf morgen durchsetzen werden. Es werden noch intensive Diskussionen mit Anhängern und hartnäckigen Verfechtern der Shareholdervalue-Doktrin zu führen sein. Anhänger, die sich ja in den zurückliegenden Jahren dadurch ausgezeichnet haben, dass sie zwar oft im Irrtum, aber nie im Zweifel waren. Aber vielleicht ist die gegenwärtige Vertrauenskrise der Wirtschaft bei diesen Diskussionen hilfreich. Vielleicht ist sie insofern heilsam, als sie selbst die Frage nach dem Verhältnis von Wert und Werten aufwirft - und die Dinge in Bewegung bringt. Denn es geht letztlich um ein anderes Verständnis von Führung. Die Aufgabe heißt: "Rethinking leadership in the knowledge society." Aber das ist ein anderes Kapitel.

Übersicht aller bereits erschienenen Beiträge der "Living at Work-Serie".

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Bernhard von Mutius befasst sich als Zukunftsdenker, wissenschaftlicher Berater und Autor vor allem mit der strategischen Zukunftsausrichtung von Organisationen. Sein neuestes Buch Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden ist gerade bei Klett-Cotta erschienen.

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Vom 19. bis 23. Oktober 2004

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Autor

Bernhard von Mutius
Mutius

Bernhard von Mutius ist Sozialwissenschaftler und Philosoph, systemischer Berater und Führungscoach. Er ist Autor zahlreicher Publikationen über Erneuerungsprozesse in Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Sein Hauptaugenmerk gilt der Entwicklung einer disziplinübergreifenden Denkkultur, die uns helfen könnte, mit den komplexen Prozessen unserer Zeit verständiger umzugehen. © Autorenfoto: Richard Pichler

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