Werde, was du sein willst
Die Wissensgesellschaft eröffnet den Menschen ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten - ein Essay von Michael Gleich und Winfried Kretschmer.
Gelernt ist gelernt, hieß es gestern. In der Wissenswelt von morgen haben Lernende nie ausgelernt. Als Autodidakten bestimmen sie selbst, was sie lernen wollen, als Lebensunternehmer feilen sie an ihrer individuellen Persönlichkeit. Sie kennen ihre Stärken und wissen, wohin sie sich entwickeln wollen. Sie sind bereit für Neues, wachsen an den eigenen Erfahrungen und integrieren neu erworbenes Wissen und Können in ihr einzigartiges Kompetenzprofil. Für sie ist lebenslanges Lernen nicht Mühsal und Qual, sondern Herausforderung und Chance. Ihre Triebfeder: der Wille, das zu tun, was sie leidenschaftlich gern tun möchten. / 22.02.07
Illustration Uwe AuflegerWas treibt uns, bewegt uns, zieht uns vorwärts? Wann überwinden wir unsere Trägheit, wofür raffen wir uns auf? Es sind zwei ältere Menschen, die uns überraschende Antworten geben, ein Witwer in New Jersey und ein Rentner in Arizona. Zwei Menschen, die ihren Leben eine neue Wendung gegeben haben - in einem Alter, in dem man vor nicht allzu langer Zeit längst zum "alten Eisen" zählte.
Harry Bernstein ist 96. Und Bestsellerautor. Als vor fünf Jahren seine Frau starb, mit der er 67 Jahre glücklich verheiratet war, beschloss Harry, noch einmal etwas Neues anzupacken. Er begann seine Lebenserinnerungen aufzuschreiben. Schon vor einigen Jahrzehnten hatte er einige Kurzgeschichten veröffentlicht, darunter auch eine autobiographische Erzählung, die sich mit seiner Kindheit in England und der Emigration seiner Familie in die USA beschäftigte - und diese Geschichte wollte er nun zu Ende erzählen. Zu erzählen gab es genug. Von der Armut und den beengten Verhältnissen, in denen Harry seine Kindheit im Arbeiterviertel von Stockport verbrachte. Und von der Straße, in der die Familie lebte: eine triste Wohnstraße, wie man sie überall in englischen Industriestädten findet, die jedoch eine Besonderheit hatte. Eine unsichtbare Mauer trennte die beiden Straßenhälften. Auf der einen Seite wohnten Juden, auf der anderen Christen; man grüßte sich, ging sich aber ansonsten aus dem Weg - für Harry Bernstein das Leitmotiv seiner Erinnerungen. Während sein Buch The Invisible Wall zeitgleich in mehreren Ländern erscheint, schreibt Harry Bernstein, 96-jährig, bereits an der Fortsetzung.
Oder Bob Johnson, 69 Jahre alt und ebenfalls Rentner, der jedes Jahr in einem Wohnbus in der Wüste Arizonas überwintert. Bob hatte früher Pilot bei der Luftwaffe werden wollen. Weil seine Augen nicht mittaten, wurde er halt Flugzeugmechaniker. Sein ganzes Berufsleben lang schaute er sehnsüchtig schneidigen Kerlen nach, wie sie in den von ihm reparierten Maschinen in den Himmel entschwanden. Bis zur Pensionierung. Damals klebte sich Bob einen Aufkleber an seinen Bus - "Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit" - und beschloss, fliegen zu lernen. Und heute fliegt er. Jeden Winter. Mit einem motorgetriebenen Gleitschirm, an dem ein Zweisitzer hängt, zieht er seine Kreise über der Wüste. Jeweils einen zahlenden Passagier kann er mitnehmen, damit finanziert er den Sprit und bessert die Rente auf. Was bewegt den alten Bob zu lernen, was der junge Bob nicht lernen durfte? Warum bewältigt ein Rentner, was mancher 30-Jährige nicht schafft?

Gelernt ist nicht gelernt.


Bobs Antrieb war eine Vision: der ewige Traum, das freie Leben, seine Freude, mobil zu sein und abzuheben. Genauso wie Harry Bernstein, der nach dem Tod seiner Frau beschloss, dass sein Leben noch nicht zu Ende sei, zumindest, bis er es zu Papier gebracht hatte. Beide Beispiele zeigen: Das Leben ist nie fertig und abgeschlossen. Immer hat es eine Wendung parat - wenn man das will. Sie zeigen auch: Wer leidenschaftlich ein Ziel verfolgt, der muss nicht diszipliniert werden - er lernt von allein, was zu lernen ist.
Mit Zwang dagegen kommt man nicht weit, das zeigte uns das traditionelle Bildungssystem bis in die 70er Jahre hinein. Menschen in starre Lernschablonen zu pressen hat viel Unheil angerichtet. Gymnasium, Realschule, Hauptschule, Sonderschule. Jedem sein Kästchen, aus dem er nie wieder herauskam. Ob ein Kind in den Kohlekasten oder ins Schmuckkästchen kam, entschied sich nach Herkunft und Einkommen der Eltern. Die einmal eingeschlagene Richtung bestimmte den gesamten Berufs- und Lebensweg, entschied meist auch über sozialen Status und persönlichen Wohlstand. Und das Leben war überschaubar, verlief in festen Bahnen: Schule, Ausbildung, Beruf, Ruhestand. Drei Jahre Lehre oder fünf Jahre Uni, und das dort erworbene Wissen hielt bis zur Rente. Und das galt auch umgekehrt: "Was Hänschen nicht lernt, das lernt Hans nimmermehr", sagte man. Und meinte: In der Jugend wird das Wissen erworben, das für den Rest des Lebens reichen muss. Wissen ist abgeschlossen. "Gelernt ist gelernt."
Heute haben diese rigiden Regeln ausgedient: der Zwang als Mittel der Qual ebenso wie die Vorstellung vom Wissenserwerb als Lebensphase. Heute gilt freiwillig lernen, und das ein Leben lang. Einen erfolgreichen Übergang von der Industrie- in die Wissensgesellschaft wird Deutschland nur schaffen mit Heerscharen lernwilliger Menschen, die ihre Bildung in die eigenen Hände nehmen. Motivierte Menschen aus allen Schichten, Einheimische und Einwanderer, egal welchen Alters, ganz nach Bob Johnsons Motto: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit. Auf der persönlichen Ebene mag das wie Selbstverwirklichung aussehen. Tatsächlich kann lebenslanges Lernen in einem Menschen innere Türen öffnen. Er entdeckt, wie Bob, der Wüstenpilot, verborgene Potenziale in sich. Findet Zugang zu lange gehegten Träumen, wie Harry. Oder, ganz einfach, einen Arbeitsplatz, der neue Kenntnisse von ihm verlangt. Er kann Chancen wahrnehmen.

Historisch einmaliger Beschleunigungsvorgang.


Ähnliches gilt auf gesellschaftlicher Ebene - nur geht es dort um sehr viel mehr: Wir erleben einen säkularen Übergang, eine große Transformation unserer Gesellschaft in eine neue, die wir erst erahnen. Rückblickend beobachten wir einen historisch einmaligen Beschleunigungsvorgang. Traditionelle Agrargesellschaften folgten dem Rhythmus der Jahreszeiten und veränderten sich ansonsten nur allmählich: Äcker und Wiesen sind nun mal äußerst immobil. Auch die erwerbbaren Kenntnisse reiften nur langsam. Als der Mönch Isidor von Sevilla um das Jahr 600 eine Enzyklopädie des Weltwissens verfasste, passte dieses in nur 20 Bände - und die wurden erst ein knappes Jahrtausend später als Bücher gedruckt. Nur langsam kam der Erkenntnisfortschritt voran. Oftmals riss der Faden, ging Wissen verloren, mussten Methoden und Techniken abermals erfunden werden. Erst in der Industrialisierung erreichte die Wissensrevolution ihren Take-off. Nun beschleunigte sich die Entwicklung. Spinnmaschine und Webstuhl, Dampfmaschine und Eisenbahn, schließlich das Fließband eröffneten neue Horizonte der Produktivität und Geschwindigkeit. Das Leben verlief schneller, die Entfernungen schrumpften.
Dennoch gab es noch Trägheitsmomente, auch Zechen und Fabriken lassen sich nicht per Fingerschnippen an andere Orte zaubern. Richtig in Fahrt kommt die Welt insofern erst in der Gegenwart, als die weltweite Vernetzung räumliche Distanz beinahe bedeutungslos werden lässt und die Menschen nur noch ein paar Tastaturzeichen und Mausklicks voneinander entfernt sind. Wirtschaft und Gesellschaft werden zunehmend von der Ressource Wissen und ihrer Inwertsetzung geprägt. Es gibt Schätzungen, nach denen Ende dieses Jahrzehnts 80 Prozent aller menschlichen Tätigkeiten darin bestehen werden, Informationen zu verarbeiten: beraten, verkaufen, forschen, entwerfen, ordnen, vernetzen, recherchieren, verwalten und gestalten. Der Rohstoff Information lässt sich in Lichtgeschwindigkeit rund um den Erdball verteilen. Als Folge davon beschleunigt sich der Wandel selbst. Und Wissen veraltetet manchmal schneller, als es aufgeschrieben werden kann: Mönch Isidor sähe schon nach Monaten alt aus.

Lebenslang oder lebenslänglich?


Deshalb wäre es eine Illusion zu glauben, einmal im Leben etwas zu lernen reiche aus, um über die Runden zu kommen. Beispiel Automobil: Das gute alte Vehikel der Industriegesellschaft hat sich innerhalb weniger Jahrzehnte zum Hightech-Produkt gewandelt. Spitzenmodelle gleichen Computern auf Rädern. Schon heute verfügt ein Fahrzeug der Oberklasse über mehr Rechenleistung als die Apollo-Raumfähre, mit der die ersten Menschen zum Mond flogen. Wer vor zehn Jahren als Automechaniker ausgebildet wurde, sieht sich heute der Konkurrenz von Mechatronikern gegenüber, die sich mit den elektronischen Innereien der hochgerüsteten Fahrzeuge von heute besser auskennen. Und nicht anders ist es in vielen anderen Berufen auch. Wer nach einem zehnjährigen Aufenthalt auf einer einsamen Insel wieder zurück in die Zivilisation käme, der hätte Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden, in seinem Beruf ebenso wie im Alltag. Dieser rapide Wandel bedeutet eine gewaltige Herausforderung, für die Gesellschaft wie für die Menschen.
Für Deutschland als Staat, als Volkswirtschaft und als Kulturnation steht nichts weniger auf dem Spiel als die Zukunft. Dazu einige nüchterne Fakten: Die Bevölkerung schrumpft und altert dramatisch. Zuwanderung kann diese Entwicklung bremsen, aber nicht verhindern. Selbst wenn Frauen endlich und tatsächlich die gleichen Chancen hätten, berufstätig zu sein, wäre der Bevölkerungsrückgang nicht zu stoppen. Hinzu kommt: Anders als eine Industriegesellschaft, die mit relativ starren Inhalten in Schule, Lehre oder an den Universitäten und entsprechend eindimensional ausgebildeten Arbeitskräften prima zurechtkam, potenziert sich in einer Wissensgesellschaft der Bedarf an hochgebildeten, kreativen und vor allem lebenslang flexiblen Kopfarbeitern. Doch die Deutschen tun sich schwer mit lebenslangem Lernen. Obwohl dieser Slogan in jeder bildungspolitischen Rede beschworen wird, ist die Botschaft längst nicht in den Köpfen der Menschen angekommen - was kaum erstaunlich ist: Schnell wurde auch diese ehrgeizige Vision zum Schlagwort verkürzt und dann tagespolitisch missbraucht. So springt der Funke nicht über. Das Ergebnis: Die Deutschen tun zu wenig für ihre Weiterbildung; auch auf diesem Feld rangiert unser Land auf einem der hinteren Plätze im europäischen Vergleich. Viele Deutsche leben mental noch in der Industriegesellschaft, sie fühlen sich bei lebenslangem Lernen eher an lebenslänglich erinnert. Die Entwicklung aber strebt längst in Richtung Wissensgesellschaft. Deutschland will dahin. Aber wie?

Der Autodidakt als Ikone der Postmoderne.


Zunächst einmal mit handfesten Maßnahmen: Zur "Hardware" einer wissensbasierten Gesellschaft zählen eine größere Durchlässigkeit zwischen den Schultypen, weniger Bildungsbarrieren für Frauen, mehr Angebote für Erwachsene und Alte. Die Liste des Wünschbaren ist lang und der Politik sattsam bekannt. Genauso wichtig ist jedoch eine neue "Software": ein Wertesystem, das neue Tugenden fordert und fördert. Eine Metapher dafür ist der Autodidakt: ein Mensch, der aus eigenem Antrieb und in einem sehr individuellen Rhythmus lernt - ein Leben lang. Wie Leibniz. Der deutsche Philosoph, Wissenschaftler, Mathematiker, Diplomat und Bibliothekar Gottfried Wilhelm Leibniz, der von 1646 bis 1716 gelebt hat, gilt als der letzte Universalgelehrte. Wohl zum letzten Mal war beinahe das gesamte Wissen der Zeit in einem Kopf vereint, vermochte es ein Mensch auf den verschiedensten Wissensfeldern zur Meisterschaft zu bringen. Und Leibniz war der Prototyp des Autodidakten, vielleicht hat er sogar diesen Begriff ins Deutsche eingeführt, als er beschrieb, wie er schon als Knabe mit Mathematik und Philosophie in Berührung gekommen sei: "Zweierlei kam mir dabei erstaunlich zustatten - was gleichwohl sonst oft bedenklich und manchem schädlich ist: erstens, dass ich fast ganz Autodidakt war, sodann aber, dass ich in jeder Wissenschaft, an die ich herantrat, sogleich nach etwas Neuem suchte: häufig noch ehe ich nur ihren bekannten, gewöhnlichen Inhalt ganz verstand." So füllte er seinen Kopf "nicht mit leeren Sätzen an" und konnte seinen eigenen Weg in die Wissensgründe suchen: "Ferner aber ruhte ich nicht eher, als bis ich in die Fasern und Wurzeln einer jeden Lehre eingedrungen und zu den Prinzipien selbst gelangt war, von denen aus ich dann aus eigener Kraft all das, womit ich es zu tun hatte, aufzufinden vermochte." Hier findet sich wunderbar klar beschrieben, was den Autodidakten ausmacht: der eigene Impuls, sich Wissen zu seinen eigenen Zwecken anzueignen. In dem bürokratisierten Bildungssystem von heute ist das vergessen. Hier gibt es Wissens-Fast-Food in vorkonfektionierten Häppchen; der eigensinnige Drang zum Wissen wurde unseren Lehrplänen und Curricula ausgetrieben. Und in dem Maße, wie Wissen verschult und bürokratisiert wurde, hat der Autodidakt an Bedeutung verloren. Gerade mal fünf Zeilen widmet der Brockhaus dem "Selbstgelehrten", wie das griechische Wort wörtlich übersetzt wird: Ein Autodidakt, das ist "jemand, der durch Selbstunterricht, das heißt ohne Anleitung von Lehrern beziehungsweise außerhalb von Bildungseinrichtungen, Wissen und Bildung erworben hat". Diese knappe Definition spiegelt zugleich den Bedeutungsverlust, den diese selbstbestimmte, eigensinnige Art des Wissenserwerbs erlitten hat. Zu früheren Zeiten hingegen war man sich der Potentiale des selbstbestimmten Lernens sehr wohl bewusst. "Dem Selbstunterrichte", heißt es etwa in der Allgemeinen Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, dem Ur- Brockhaus von 1864, "ist allerdings der Vortheil größerer geistiger Anregung, der Gründlichkeit und Lebendigkeit des Wissens, der Selbständigkeit und Originalität nicht wohl abzusprechen". Und die Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste aus dem Jahr 1821 argumentiert überraschend modern: Weil Autodidakten sich selbst zum Erwerb von Wissen motivieren, Methoden und Verfahren durch eigenes Nachdenken finden, dabei eine Menge von Schwierigkeiten überwinden und erst mit Anstrengung aussuchen, verknüpfen oder hervorbringen müssen, was Bildungseinrichtungen ihnen verarbeitet darbieten, "kommen sie bisweilen auf neue Bahnen, Entdeckungen und Ansichten, die der Kunst und Wissenschaft wesentlichen Gewinn bringen". Modern gesprochen: Innovation.

Zeitalter des permanent unfertigen Menschen.


Das beschreibt nun ziemlich exakt, worauf es heute ankommt: Drang anstelle von Zwang. Lernlust anstelle von Paukfrust. Selbstbestimmung anstelle von Lehrplänen. Der Autodidakt als vormoderner Typus des Lernens wird zur Ikone der Postmoderne. Er symbolisiert die Freiheit, durch neue Kompetenzen nach Gelegenheiten zu greifen. Er ist einer vom Bodenpersonal, der fliegen lernt. Wenn nicht mit 30, dann eben mit 60. Dazu muss man nicht zum Überflieger werden. Offen zu sein für Veränderungen reicht schon. Aber genau das fällt vielen Menschen so schwer. Sie fühlen sich ohnmächtig und überfordert angesichts einer Welt, die sich im Stundenrhythmus zu verändern scheint. Das verunsichert. Verunsicherung aber untergräbt die Chancen zum Handeln. Je unkalkulierbarer und schneller sich die Welt wandelt, desto dringlicher ist es für den Einzelnen, sich handlungsfähig zu halten. Das bedeutet: offen sein für Veränderungen, sich selbst als resistent, entwicklungsfähig und entwicklungswillig zu erleben - so hat der Alternsforscher Paul B. Baltes die neuen Herausforderungen beschrieben. Er hat das 21. Jahrhundert als das "Zeitalter des permanent unfertigen Menschen" bezeichnet, ein Zeitalter, in dem lebenslanges Lernen zur Norm wird.
Mit der Freiheit, seinem Leben immer wieder überraschende Wendungen zu geben, wächst gleichzeitig auch eine Notwendigkeit: Wir müssen auf dem Laufenden bleiben. "Lernen ist wie Rudern gegen den Strom", lautet ein Sprichwort, "sobald man aufhört, treibt man zurück." Wer sich aus dem schnell fließenden Strom des Wandels ausklinkt, gerät in Gefahr, zu den beruflichen Auslaufmodellen zu gehören. Freiheit gibt es nicht ohne Risiko. Wir werden gezwungen sein, uns auf dem Arbeitsmarkt als Manager unserer selbst anzubieten. Und als Lebensunternehmer sind wir dafür verantwortlich, welche Inhalte wir wann wie lange und zu welchem Zweck lernen. Hier dreht sich der Spieß um: Bildung wird Bürgerpflicht. Und Notwendigkeit. Und zugleich wendet sich die Perspektive: Das Unfertige erscheint nicht als Bedrohung, als nicht mehr endende Mühsal und Qual, sondern als Herausforderung und Chance. Permanent unfertig zu sein, das heißt, stets offen zu sein für Neues und sich immer neue Möglichkeiten der Weiterentwicklung zu erschließen.
Diese beiden Idealtypen, der Autodidakt und der Lebensunternehmer, die einander ergänzen und bedingen, sind die Ikonen der Wissens- oder präziser noch: der Kompetenzgesellschaft. Denn worauf es in Zukunft ankommt, das ist ja nicht beliebiges, sondern gebündeltes, fokussiertes, auf individuelle Fähigkeiten und Potentiale bezogenes Wissen. Erst durch einen Menschen, der weiß, wird aus Wissen Kompetenz. Ein Lebensunternehmer ist, wer die zielgerichtete Weiterentwicklung seiner Kompetenzen zu seiner Lebensaufgabe macht. "Ich kann was, ich bin was und ich mache was daraus", das ist die Haltung, die ihn auszeichnet. Kreativ reagiert er auf Herausforderungen, ständig ist er bereit für Neues, lernt an seinen Erfahrungen und integriert neu erworbenes Wissen und Können in sein einzigartiges Kompetenzprofil. Sein Ziel ist so einfach wie anspruchsvoll: Das zu tun, was er leidenschaftlich gern tun möchte. Der Lebensunternehmer ist das selbstbestimmte Individuum des 21. Jahrhunderts. In ihm rundet sich der Jahrhunderte währende Prozess der Individualisierung ab. Die Grundlage des Lebensunternehmertums ist lebenslanges Lernen.

Werde, was du sein willst.


Was ist lebenslanges Lernen also: Lust? Pflicht? Pure Notwendigkeit, um zu überleben? Die Antwort lautet, wie so oft: je nachdem. Es hängt von Temperament und Typus ab, wie ein Mensch auf die sich selbst überholende Wandelwelt reagiert. Die einen betätigen sich als lustvolle Autodidakten, stürzen sich mit Wonne auf Praktika in Island und "Chinesisch für Anfänger", Kurse in Webkunst und Webdesign, Erzählwerkstätten und Qigong. Sie navigieren neugierig durch den Wissensdschungel und halten so ihre Synapsen elastisch. Geschickt wissen sie das sinnstiftende "Werde, was du sein willst" mit den knallharten Anforderungen des Marktes zu verbinden. Kurz: Sie sind bereits flügge.
Doch es gibt auch andere Charaktere. Die Zaghaften und Ängstlichen, diejenigen, die sich einen festen Rahmen wünschen - und die sind in unserer Gesellschaft eine Mehrheit. Ihnen wären Vorgaben lieber, ein Bildungskanon, der ihnen Sicherheit gibt, festgelegte Karriereschritte. Nur, das sind die Denkmuster der Vergangenheit. Sie greifen nicht mehr. Bildung ist nichts, das man hat. Sondern etwas, das man fortwährend erwirbt, sichert, erweitert. Weil es sonst verkümmert und verfällt. Das gilt es den Verzagten nahezubringen. Wer es ernst meint mit der Vorgabe, möglichst viele Bildungswillige zu motivieren, sollte sich nicht nur um die begeisterten Piloten kümmern, sondern vor allem um die Menschen mit Höhenangst. Sie entfalten ihre Talente nur in einer Kultur der Ermutigung, die freilich einen Perspektivwechsel verlangt. Es geht um eine Haltung, die Risiken nicht scheut, sondern als willkommene Begleiter jeglichen Fortschritts preist. Die Weiterentwicklung nicht als Bedrohung, sondern als Chance begreift. Unsere Gesellschaft muss sich eine eigene Zukunftsvision auf der Basis von Wagnis erarbeiten - sie muss fliegen lernen.

Michael Gleich ist Buchautor, Publizist und Mitinitiator von Culture Counts, Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Co-Geschäftsführer bei changeX.

Quellenangaben in der Reihenfolge ihrer Nennung im Text:
Harry Bernstein: Gegenüber die andere Welt. Eine Kindheit, Econ Verlag, Berlin 2007.
Gottfried Wilhelm Leibniz: "Zur allgemeinen Charakteristik", in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band I, Leipzig 1904, Seite 91.
Brockhaus Enzyklopädie, 21. Auflage, Stichwort "Autodidakt".
Allgemeine Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Conversations-Lexikon, Friedrich Arnold Brockhaus, Leipzig 1864, Stichwort "Autodidakt".
Johann Samuel Ersch / Johann Gottfried Gruber (Hrsg.): Allgemeine Enzyclopädie der Wissenschaften und Künste, Johann Friedrich Gelditsch, Leipzig 1821, Stichwort "Autodidakt".

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Michael Gleich
Gleich

Michael Gleich, Publizist, Stroryteller und Redner, hat 2011 "der kongress tanzt. Netzwerk für gute Veranstaltungen" initiiert. Es berät Veranstalter darin, Konferenzen und Foren als lebendige Lernorte zu gestalten.

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Winfried Kretschmer
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Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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