Sukzessive in Richtung Leidenschaft
Beruf: Gelegenheitsarbeiterin - eine Reportage von Gundula Englisch.
Folge 4 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
Portfolioworker, Multijobber, Patchwork-Unternehmer: bemühte begriffliche Annäherungen an eine Arbeitswirklichkeit, der die Eindeutigkeit verloren gegangen ist. Früher galt: ein Beruf, eine Arbeit, ein Einkommen, eine Familie. Heute kommt das Phänomen der multiplen Berufspersönlichkeit so facettenreich daher, dass es weder in gängige soziologische Schubladen passen will noch in die Arbeitsmarktstatistik. Während die Kategorien versagen, ist der Wille umso eindeutiger: Die Freiheit, das zu tun, was ich will. So arbeiten, wie ich leben möchte. So erklären Menschen ihr Motiv, anders zu arbeiten, als es die industrielle Normwelt vorsah. / 14.11.07
Gisela Ritzenthaler
Gisela Ritzenthaler
"Wenn ich gefragt werde, was ich von Beruf bin, sage ich: Gelegenheitsarbeiterin. Dann sind die Leute immer herrlich irritiert." Man glaubt es gerne, denn Gisela Ritzenthaler macht beim besten Willen nicht den Eindruck einer Tagelöhnerin: anthrazitfarbener Seidenpullover, ein kunstvolles Perlenarmband am Handgelenk, der Schreibtisch aus Vogelaugenahorn und Stahl, das Büro mit Blick auf den Garten ihres Hauses in Ingolstadt. "Aber aus der Gelegenheit heraus zu arbeiten ist meine berufliche Realität. Ich stelle mein Wissen, meine Erfahrung und meine Kompetenz denen zur Verfügung, die sie gerade brauchen", sagt die gelernte Innenarchitektin und Diplomdesignerin. Seit sechs Jahren ist Gisela Ritzenthaler mit einem Beratungs- und Designbüro selbständig und unterstützt ihre Kunden in Sachen Identität, Strategie, Marketing und Kommunikation. Mal feilt sie an der Imagebroschüre einer mittelständischen Firma, mal bearbeitet sie Ausschreibungsunterlagen und kalkuliert die Kosten für einen Messestand, mal organisiert sie als Projektmanagerin die Architektur für einen internationalen Auto-Event, oft schreibt sie Texte für Marketing- und Kommunikationsabteilungen. Und dann ist da noch ihre große Leidenschaft - die Perlen. Gisela Ritzenthaler fertigt in Handarbeit individuelle Schmuckstücke aus Süßwasserperlen und verkauft ihre kleine, aber feine Kollektion via Internet, bei Veranstaltungen oder bei privaten Salonabenden. Was aus purer Lust und nur für den Eigenbedarf begonnen hat, trägt heute den Firmennamen "Perlenrausch" und ist das geschäftliche Spielbein neben dem Standbein Beratung.

Portfolioworker, Multijobber, Patchwork-Unternehmer?


Morgens texten, mittags Messestände durchrechnen, abends Perlennetze knüpfen - ein wenig erinnert das an das Marx'sche Ideal des allseits entfalteten Menschen, der die Freiheit besitzt, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe". Im Mediensprech von heute heißen solche Menschen Portfolioworker, Multijobber oder Patchwork-Unternehmer, und nicht immer ist diese Art von Arbeit deckungsgleich mit dem romantischen Bild des jungen Marx. Stattdessen kommt das Phänomen der multiplen Berufspersönlichkeit so facettenreich daher, dass es sich weder in gängige soziologische Schubladen einsortieren lässt noch in die Arbeitsmarktstatistik. Zwar hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung festgestellt, dass hierzulande eine steigende Zahl von Menschen mehr als einer Beschäftigung nachgeht. Doch eine Bewertung dieser Entwicklung fällt den Experten schwer, denn es sei unklar, ob Arbeitnehmer bewusst flexibler arbeiten wollen oder ob sie schlicht der Not gehorchen. Diffus bleibt auch, wie viele Menschen parallel in mehreren Berufen arbeiten. Zwei bis sieben Millionen Erwerbsbürger sollen es inzwischen sein. Dabei ist die Bandbreite dieser Schätzung ebenso ausladend wie die der Motivlagen für Multijobbing. Sie reichen vom Niedriglohnempfänger, der auf den Zweit- oder Drittjob angewiesen ist, um sich finanziell über Wasser zu halten, bis hin zum gut verdienenden Wissensarbeiter, der den Parallelberuf wählt, um seiner Berufung folgen zu können. Auch die öffentliche Debatte um das, was im Amtsdeutsch schwerfällig "Mehrfachbeschäftigung" heißt, pendelt zwischen den Erklärungsmustern Not und Selbstverwirklichung.
Für Gisela Ritzenthaler indessen sind die Grenzen zwischen materieller Notwendigkeit und ideellem Anspruch fließend. "Es ist wichtig, meine Existenz auf mehrere Beine zu stellen, damit ich nicht umkippe, wenn eins einknickt. Wenn im Sommerloch wenig Text- und Projektarbeit anfällt, überbrücke ich die Durststrecke mit der Schmuckherstellung. Aber genauso wichtig ist es mir, damit etwas zu tun, für das ich brennen kann."

"Die Freiheit, das zu tun, was ich will."


Katrin Mucke
Katrin Mucke
Auch Katrin Mucke hat sich einen individuellen Arbeitsmix zusammengestellt, der gleichzeitig für Umsatz sorgt und der persönlichen Erfüllung dient. Die gelernte Betriebswirtin erstellt Planungs-, Liquiditäts- und Wirtschaftlichkeitsrechnungen, macht Betriebsvergleiche und konzipiert kundenspezifische Excel-Dateien, hauptsächlich für den Autohandel. Mehrmals im Jahr lässt sie die Zahlenwelt aber weit hinter sich und heuert als Reiseleiterin auf Kreuzfahrt-Schiffen an. Daneben betreibt sie von ihrem Schreibtisch aus selbst eine kleine Agentur für Kreuzfahrten und schnuppert ab und zu in Projekte hinein, die mit alternativen Energien zu tun haben. "Was mich treibt, ist die Lust auf Neues", sagt Katrin Mucke. "Arbeit ist für mich ein ständiger Lernprozess, in dem ich meine Neugierde stillen und mich weiterentwickeln kann." Zwischen unterschiedlichen Arbeitswelten zu pendeln ist für die 50-Jährige eine ideale Lernkombination. Allerdings fällt es ihr nicht immer leicht, die unterschiedlichen Jobs unter einen Hut zu bringen. Wenn sie ihr Wohnbüro im elterlichen Bauernhof bei Hannover verlässt, um ihr Geld auf hoher See zu verdienen, müssen alle anderen Jobs zurückstehen: "Ich kann zwar von Alaska oder Südamerika aus telefonieren oder mailen, aber einen Kunden intensiv betreuen, das funktioniert von dort aus nicht." Dafür Mitarbeiter einzustellen, ist für Katrin Mucke allerdings keine Option. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch weil sie sich ihre Unabhängigkeit bewahren will. Und das geht eben nur als Solist und ohne den Ballast von Arbeitsverträgen und Büromieten.
Ähnlich Gisela Ritzenthaler. Auch für sie kommt ein eigener Laden für ihre Perlenkollektion nicht in Frage. Auf andere angewiesen zu sein oder sich Sachzwängen zu unterwerfen ist ihr ein Gräuel. Allerdings hat es eine Zeit lang gedauert, bis sie ihr Solistentum als solches akzeptieren konnte. "Am Anfang glaubte ich auf der Verliererstraße zu sein, wenn die Umsätze nicht stiegen und mein Geschäft nicht expandierte. Aber heute möchte ich dieses Wachstum gar nicht mehr. Wenn ich schon das Risiko der Selbständigkeit trage, dann will ich wenigstens auch die Vorteile genießen, nämlich die Freiheit, das zu tun, was ich will."

Wachstum, persönliches.


Gisela Ritzenthaler und Katrin Mucke verkörpern ein Unternehmerbild, das Zukunft zu haben scheint. Im Selbstverständnis der meisten Mikrounternehmer oder Portfolioworker hat Wachstum weniger eine betriebswirtschaftliche, sondern vielmehr eine persönliche Bedeutung. Das bestätigen auch die wenigen Studien, die über diese neuen Selbständigen bisher gemacht wurden. Wissenschaftler der TU München etwa haben die Szene der IT-Mikrounternehmer untersucht und immer wieder die gleichen Antworten bekommen: Erfolg ist, wenn Arbeit Spaß macht, Abwechslung und Lerngelegenheit bietet, Freiräume öffnet und die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit voranbringt. Und noch etwas hat die Studie ans Licht gebracht. Für viele dieser neuen Selbständigen hat Arbeit Freizeitwert. Das in der Öffentlichkeit gern kolportierte Bild vom gehetzten, gestressten und sich selbst ausbeutenden Mehrfachbeschäftigten mag für einen Teil dieser Menschen zutreffen. Aber mindestens ebenso viele Multijobber haben mit der Balance zwischen Arbeit und Freizeit nicht das geringste Problem. "Leben, lieben und arbeiten ist für mich eins - eine untrennbare Verbindung", sagt Gisela Ritzenthaler. "Das fließt genauso ineinander wie meine unterschiedlichen Tätigkeiten." Wenn sie beim Texten nicht weiterkommt, widmet sie sich ihren Perlen, und wenn sie an ihren Schmuckstücken arbeitet, kommen ihr Ideen für andere Projekte. Es ist dieser Wechsel zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen hartem Business und kreativer Selbstverwirklichung, zwischen dem Eingehen auf Kundenwünsche und dem Ausleben der eigenen Talente, den die 49-Jährige als besonders bereichernd empfindet. Und als etwas, das sie in ihren früheren Festanstellungen schmerzlich vermisst hat, obwohl sie anspruchsvolle Jobs mit hoher Personal- und Budgetverantwortung hatte: "Herkömmliche Unternehmensstrukturen sind immer mit Routine und Eintönigkeit verbunden, auch in leitenden Funktionen. Außerdem fließt gerade in Konzernen viel Energie in Grabenkämpfe. Ich möchte meine Energie aber lieber wertschöpfend einsetzen und das gelingt mir jenseits der Festanstellung viel besser."
Ähnlich schlechte Erfahrungen mit festbetonierten Konzernstrukturen hat auch Katrin Mucke gemacht. Nach elf Jahren im mittleren Management eines Autokonzerns hatte sie genug: "Sicherheitsversessene Vorgesetzte, keine Freiräume für Experimente, null Flexibilität und überall Intrigen - das ist nicht meine Welt." Dass sie jemals wieder einen festen Arbeitsvertrag unterschreiben wird, glaubt sie nicht. "So ein Job müsste meine Ideen, Ansprüche und Bedürfnisse in jeder Hinsicht abdecken und so einen Job gibt es wahrscheinlich nicht."

Your ass will follow.


Wohl wahr, denn Kästchendenken, Anordnungskultur, Missgunst und Risikoscheu sind in der Unternehmenswelt immer noch eher die Regel als die Ausnahme. Welcher Chef hat seine Mitarbeiter jemals nach der ganzen Vielfalt ihrer Fähigkeiten und Talente gefragt, geschweige denn ob und wie sie damit einen Beitrag zum Unternehmenserfolg leisten könnten? Und wie sollen Unternehmen die Einzigartigkeit ihrer Mitarbeiter erkennen und fördern, wenn ihnen selbst die individuellen Bedürfnisse ihrer Kunden noch Kopfschmerzen bereiten? So ist die Bewegung der Patchwork-Selbständigen zum großen Teil wohl auch eine Abstimmung mit den Füßen: gegen eine Arbeitswelt der Anpassung, Abhängigkeit und Langeweile. Und für einen Job, der es erlaubt, so zu arbeiten, wie man leben will. Selbst wenn es manchmal kaum zum Leben reicht. Sowohl Gisela Ritzenthaler als auch Katrin Mucke wissen, was es heißt, an die eisernen Notgroschen zu gehen, den Dispokredit gekürzt zu bekommen und nur das Notwendigste kaufen zu können. "Manchmal hadere ich mit dieser existenziellen Unsicherheit, aber auf der anderen Seite ist sie vielleicht auch ein starker Motor", sagt die Betriebswirtin. Sicherheit sei ein "nice to have" - aber auch ein enormer Bremsklotz für die persönliche Entwicklung. Und die ist ihr einfach zu wichtig, um sie unter Ängsten und Selbstzweifeln zu begraben. Für Katrin Mucke ist Arbeit eine Abenteuerreise mit Unwägbarkeiten, Überraschungen und Umwegen. Ihr nächstes Ziel auf dieser Reise könnte das Weindorf sein, in dem sie neulich ein paar Tage verbracht hat, um die Geschäftsbücher einer befreundeten Winzerin zu ordnen. "Dort habe ich bemerkt, dass ich eigentlich weg will von den üblichen Verzwickungen des Business und hin zum Ursprünglichen - zu alternativen Lebensformen, anderem Bewusstsein, neuem Denken."
Wer bin ich? Was gibt mir Energie? Wie will ich arbeiten? Was ist meine Botschaft? Wie will ich leben? Diese Orientierung von innen heraus ist für Portfolioarbeiter ein unverzichtbarer Kompass auf ihrer Querfeldein-Wanderung abseits der ausgetretenen Karrierepfade. Mehr noch: Diese Selbstreflexion ist Voraussetzung für ein erfolgreiches Austarieren der materiellen und der ideellen Ansprüche an die berufliche Existenz. Zu diesem Schluss kommt auch die Soziologin Sigrid Betzelt in ihrer Analyse der flexiblen Wissensarbeit. Es seien gerade die subjektiven Orientierungen und die reflexiven Handlungsstrategien der Akteure, die das Funktionieren des flexiblen Erwerbsmodells ermöglichen, sprich eine "mehr oder minder gelungene Balance zwischen individuellen Freiheitsgraden und marktlichen Restriktionen".
Für das, was hier in sperrigem Soziologendeutsch konstatiert wird, hält Gisela Ritzenthaler eine griffigere Formel parat: "Move your mind and your ass will follow. Ich versuche, meine Träume zu bewegen und der Rest wird schon werden. Ich mache weiter als Gelegenheitsarbeiterin und verlagere meine Tätigkeiten sukzessive in Richtung Leidenschaft." Sagt's, holt ihren Rollcontainer mit den Perlen heran und macht sich ans Werk.

Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Redakteurin für changeX.

© changeX [14.11.2007] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Gundula Englisch, Journalistin, Autorin und Filmemacherin, arbeitet als freie Autorin und Redakteurin für changeX.

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