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60 Jahre Wandel
Wir fragen: Welches sind die bedeutendsten sozialen Innovationen in der Geschichte der Bundesrepublik.
Von Winfried Kretschmer
"Innovation! Innovation!", schallt es von überall her. Die fortwährende Erschließung des Neuen gilt als Basis der Wettbewerbsfähigkeit wie als Garant künftigen Wohlstands. Doch dass man Neues ohne die Zerstörung des Alten haben könne, ist nur eines der Missverständnisse im allgemeinen Innovationstaumel. Schwerer noch wiegt die Fokussierung auf den wissenschaftlich-technischen Bereich. Soziale Innovationen geraten erst gar nicht in den Blick. Doch sie sind Experimente mit neuen Formen sozialer Organisation, ohne die gesellschaftlicher Wandel nicht gelingen kann. Zum 60-jährigen Verfassungsjubiläum fragt changeX nach den bedeutendsten sozialen Innovationen im Land. / 27.05.09
Illustration von Limo LechnerWenn die Historiker einmal analysieren werden, welches die bestimmenden Ideen am Anfang des neuen, des dritten Jahrtausends waren, dann wird ein Begriff ganz vorne auf der Liste stehen: Innovation. Innovation ist zu einem zentralen Begriff geworden, wo immer es um die künftige Entwicklung unserer Gesellschaft geht. Nicht mehr Wertarbeit, nicht mehr der hart erarbeitete Ruf des "made in Germany", nicht mehr Fleiß und Arbeitsmoral gelten als Garanten künftigen Wohlstands, sondern die fortwährende Erschließung des Neuen und seine fachkundige Umsetzung in neue Produkte und Prozesse: Innovation eben. "Deutschland ist ein Land der Innovationen" verkündet die Website des Bundeswirtschaftsministeriums, während die Kollegen von Bildung und Forschung auf einem "nicht genug" beharren: "Deutschland braucht Innovationen", heißt es dort. Da gibt es Innovationswettbewerbe in unterschiedlichsten Disziplinen, da werden Listen der innovationsfreudigsten Unternehmen geführt, und wer immer noch nicht begriffen hat, was die Stunde geschlagen hat, der wird von der EU eines Besseren belehrt, die 2009 zum "Jahr der Kreativität und Innovation" gekürt hat. Innovation ist zu einem Schlüsselbegriff in unserer Gesellschaft geworden. Auf sie berufen sich selbst Parteien und Gruppierungen, die eben in der Bewahrung des Bestehenden ihren gesellschaftlichen Auftrag erblickt hatten. Wo eine Idee so breiten Zuspruch findet, bleiben Missverständnisse nicht aus.

Missverständnisse.


So wird in beinahe jeder Rede nach mehr Innovationen gerufen, aber kaum jemand fragt, woher die kommen sollen. Offensichtlich denken wir Innovation zu sehr als Ergebnis - schöne, tolle, neue Produkte und effiziente Verfahren -, aber zu wenig als Prozess. Wie wir zu mehr Innovationen kommen, wie wir Wissensarbeit besser und - wahrscheinlich - anders organisieren müssen, fragt kaum jemand. Der Output ist es, der zählt. Zweites Missverständnis: Schaut man sich die Wortwurzel von Ingenieur an, dann sind es individuelle Eigenschaften, die das lateinische Wort ingenium bezeichnet: natürliche Begabung, Scharfsinn, Erfindungsgeist. Offensichtlich denken wir zu sehr auf das Individuum bezogen, warten auf die ingeniöse Idee Einzelner, statt in der Zusammenarbeit möglichst heterogener Teams die "Weisheit der Vielen" systematisch nutzbar zu machen. Drittes Missverständnis: Man will mehr Innovation, mehr vom schönen Neuen, aber sonst soll bitte schön möglichst alles beim Alten bleiben - keine Veränderung von Strukturen, Prozessen, Hierarchien, kein Abdanken des Alten. Die Einsicht, dass Innovation immer Zerstörung des Alten bedeutet, ist längst noch nicht ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Innovationen sind Akte "schöpferischer Zerstörung", wie Joseph A. Schumpeter, der Erfinder des Innovationsbegriffs, definiert. Sie ist ihr Wesensmerkmal. Innovation definiert das Bestehende neu, schafft neue Verhältnisse und lässt manch Bewährtes ganz schön alt aussehen. Dabei ist es keineswegs so, dass Neues einfach nur Altes ersetzt. Innovation schafft ein Mehr an Möglichkeiten. Vorne wächst die Vielfalt, während hinten Altes abstirbt. Innovation gibt es also nicht umsonst. Sie verlangt eine Haltung, die das Neue begrüßt und es akzeptiert, wenn Altes vergeht.
Das wohl tiefste Missverständnis aber betrifft das Feld, auf dem sich Innovation abspielt. Wer zum Beispiel die Broschüre Deutsche Stars. 50 Innovationen, die man kennen sollte zu Hand nimmt, findet darin eine peppig aufbereitete Zusammenfassung von Schlüsselinnovationen, die von Deutschland ihren Ausgang nahmen - von Airbag und Aspirin über Pille und Plattenspieler bis hin zu Zündkerze und Zahnpasta. Man muss schon genauer hinschauen, um zwischen den aufgelisteten wissenschaftlich-technischen Errungenschaften die Begriffe "Reformation" und "Soziale Gesetzgebung" nicht zu überlesen, wobei Letzteres die bismarcksche Sozialgesetzgebung meint, die die Grundlage für den Sozialstaat bildete. Was da unter der Übermacht an Erfindungen und Produktinnovationen beinahe der Aufmerksamkeit entgeht, ist gleichwohl eine wichtige Dimension von Innovation: Offensichtlich gibt es Schlüsselinnovationen auch im gesellschaftlichen Bereich, nicht nur auf dem Feld wissenschaftlich-technischen Fortschritts. Solche sozialen Innovationen aber kommen kaum vor, wenn es um Innovation geht. Dort stehen meist Erfindungen und Produktinnovationen im Vordergrund. An ihnen handelt die öffentliche Meinung das Thema Fortschritt ab. Soziale Innovationen - so sie überhaupt in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken - bleiben dagegen seltsam diffus, irgendwie kaum greifbar. Das bekannte Missverhältnis in der Wertung "harter" und "weicher" Faktoren spiegelt sich auch in der - insgesamt recht jungen - Geschichte der Innovation.

Neue Wege.


Innovationsforschung ist ein sehr junges Feld. Sie begann erst vor etwa 100 Jahren - als Erforschung von "Inventions", Erfindungen. Der Nationalökonom Joseph A. Schumpeter führte dann den Begriff der Innovation in die Wirtschaftswissenschaft ein - die Techniklastigkeit aber blieb bestehen. "Seither konzentrierte sich das wirtschaftliche und politische Interesse recht einseitig auf technische Innovationen", schreibt die Sozialwissenschaftlerin Katrin Gillwald in ihrer Studie Konzepte sozialer Innovation. Diese, am Wissenschaftszentrum Berlin entstandene Arbeit, ist eine der wenigen Publikationen zum Thema. "Soziale Innovationen aber sind ein bislang unterbelichtetes Thema", schrieb die Wissenschaftlerin in ihrer Abhandlung aus dem Jahr 2000, und daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Zwar gab es eine längere Serie in brand eins, die reichlich unsystematisch einzelne innovative gesellschaftliche Ansätze - vom Grundeinkommen bis zu Tauschgeschäften - vorstellte, sich aber nicht weiter darum kümmerte, was unter sozialer Innovation zu verstehen sei.
Das indes hatte der Sozialwissenschaftler Wolfgang Zapf in einem Aufsatz aus dem Jahr 1989 zu definieren versucht - nur blieb sein Ansatz folgenlos, als die sozialwissenschaftliche Modernisierungstheorie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und in den Stürmen der Globalisierung an Einfluss verlor. Soziale Innovationen, so Zapf, "sind neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden". Er zählt dazu: betriebliche Maßnahmen, mit denen die Arbeitsbeziehungen verändert werden, neue Dienstleistungen, staatliche Reformen oder internationale Verträge, nicht zuletzt auch Änderungen von Lebensstilen und Formen der Bedürfnisbefriedigung sowie Änderungen der sozialen und politischen Verhältnisse. Dem amerikanischen Soziologen William F. Ogburn zufolge sind soziale Innovationen "die wichtigste allgemeine Ursache" sozialen Wandels. Man muss es wohl an Beispielen konkret machen: Kinder- und Schrebergärten, die Fließbandarbeit, Fast-Food-Restaurants, nicht eheliche Lebensgemeinschaften, die Sozialversicherung, Bürgerinitiativen wie die Umweltbewegung allgemein, Wohngemeinschaften und Genossenschaften, Jugendzentren und Altenheime sind Beispiele für soziale Innovationen. Sie geben dem sozialen Wandel ein Gesicht und sie treiben ihn voran. Soziale Innovationen verändern die Art und Weise des Zusammenlebens von Menschen nicht minder stark wie die Glühbirne und der Kühlschrank zusammen mit der Einführung einer flächendeckenden Stromversorgung. Letztlich gehen soziale und technische Innovationen Hand in Hand, beeinflussen sich gegenseitig und bestimmen in ihrem Zusammenspiel die Entwicklungsrichtung gesellschaftlichen Fortschritts - mit offenem Ausgang: So hat der Bau von Atomkraftwerken die Geschichte der Bundesrepublik wahrscheinlich weniger stark geprägt wie die Bewegung, die sich dagegen formierte.
Ähnlich unklar wie das Verhältnis von technischen und sozialen Innovationen bleibt jenes zwischen sozialen, gewissermaßen aus der Mitte der Gesellschaft entstehenden Veränderungen und jenen auf politisch-institutioneller Ebene, auch Reformen genannt. "Reformen sind eine Teilmenge von sozialen Innovationen", erklärt Katrin Gillwald, "und diese wiederum eine Teilmenge von Prozessen sozialen Wandels beziehungsweise gesellschaftlicher Modernisierung." Ebenso wie meist nicht eindeutig gesagt werden kann, ob gesellschaftliche Veränderungen mehr durch soziale oder politische Innovationen angeschoben wurden, lässt sich häufig auch nicht klar bestimmen, was (konkrete) soziale Innovation und was (allgemeiner) sozialer Wandel ist. Beschreibt man die Gleichberechtigung der Frau eher als Abfolge gesetzlicher Gleichstellungsakte oder als durchgängige Emanzipationsbewegung?
Was für Reformen gilt, gilt aber gleichermaßen für soziale Innovationen im gesellschaftlichen Bereich: Beides sind bewusste Akte der Veränderung. Hinter sozialen Innovationen stehen Menschen, die etwas verändern wollen. Soziale Innovationen sind die Hebel, die Einzelne an der - abstrakten - Gesellschaft ansetzen können. Was sie reichlich getan haben. Eine Vielzahl von Veränderungen in der Geschichte der Bundesrepublik ist Ergebnis von Veränderungen in der Mitte der Gesellschaft. Gleichberechtigung hat viele Gesichter, und dass heute Kinder nicht mehr geschlagen werden, kann man wahrscheinlich als einen bedeutenden Schritt hin zu einer gewalt- und repressionsfreien Gesellschaft werten. Eine bedeutende soziale Innovation eben. Vielleicht kann man die Tatsache, dass wir heute so viel über Innovationen reden, selbst als eine soziale Innovation begreifen: Es ist die Entdeckung des Neuen und seines Werts für die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.

60 Jahre Wandel.


Klar wird: 60 Jahre Bundesrepublik sind 60 Jahre Wandel. Die Einführung von Demokratie und Menschenrechten durch die Alliierten und ihre Niederlegung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland schufen den Rahmen für eine offene, freie und demokratische Gesellschaft. Alles andere aber musste diese Gesellschaft mit sich selbst ausmachen. Was sie auch tat. Mit Schwierigkeiten, mit Defiziten, mit Unterlassungen ebenso wie mit überschießenden Reaktionen, aber insgesamt in einer souveränen Gelassenheit. Aus dem verkniffenen Nachkriegsdeutschland ist eine weltoffene, demokratische, vielfältige, ja bunte Gesellschaft geworden. Wir fragen: Welche sozialen Innovationen haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen?

Uns interessiert Ihre Meinung.
Nennen Sie uns Ihre Favoriten, beantworten Sie uns per E-Mail folgende beiden Fragen:

  1. Welches war Ihrer Meinung nach die wichtigste soziale Innovation in 60 Jahren Bundesrepublik?
  2. Welches ist die wichtigste soziale Innovation, die wir heute brauchen, um das Land zukunftsfähig zu halten?

Schreiben Sie uns, was Sie denken, kurz und knapp oder lang und ausführlich, ganz wie Sie mögen. Die Ergebnisse werden wir in den folgenden Wochen auf changeX vorstellen.
Ihre Antworten schicken Sie bitte an soziale.innovation@changex.de

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer bei changeX.

Mit einer Illustration von Limo Lechner.

Katrin Gillwald:
Konzepte sozialer Innovation,
papers der Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie
am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung,
http://bibliothek.wzb.eu/pdf/2000/p00-519.pdf

© changeX [27.05.2009] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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