Total vernetzt
Eine 40-teilige Reportage über die Wirtschaftskanzlei Osborne Clarke. | Folge 36 |
Osborne Clarke ist total vernetzt. Von jedem Rechner, auch unterwegs vom Notebook aus, können die Anwälte ihre E-Mails und Voice-Mails abrufen und auf die kompletten Daten zugreifen. Die heutige Folge führt in das Reich der Datennetze und elektronischen Speicher.
Software ist oft unscheinbar. Die Bedienoberflächen ähneln sich und offenbaren ihr Potential erst dann, wenn man hinter die Menüs blickt. Genauso ist es bei "iManage". iManage ist das integrierte Dokumentenmanagementsystem von Osborne Clarke und sieht ein wenig so aus wie der Windows-Explorer von Microsoft: im Fenster links die Verzeichnisstruktur, im Fenster rechts die Dateien, darüber die Standard-Menüleiste. Nur steht statt "Desktop" dort "iManage-Databases" und statt der Laufwerke A, C, E finden sich die Begriffe "Bristol", "Germany", "Know-how", "London". In Bristol und London befinden sich die Zentralen der international aufgestellten Kanzlei. Und das Datenspeicher-Icon neben dem Ortsnamen besagt, dass man auf den dortigen Datenserver zugreifen kann wie auf eine Festplatte im lokalen Rechner oder im lokalen Netzwerk. Die Kanzlei ist total vernetzt.
Eine Kombination aus Dokumentenmanagementsystem, Kommunikationszentrale und Wissensmanagement-Tool.
"Alle Dokumente, egal in welcher
Applikation sie erstellt wurden, sind zentral gespeichert",
erläutert Marion Willems, die für die informationstechnische
Schulung im Kölner Büro zuständig ist, "und die Datenspeicher
sind kanzleiweit miteinander vernetzt." Kanzleiweit, das heißt,
dass man aus dem Kölner oder Frankfurter Büro auf Dokumente in
Bristol oder London zugreifen kann, und umgekehrt. Ebenso kann
sich jeder Anwalt mit seinem Notebook von unterwegs oder von
Zuhause aus in das Netzwerk einloggen und auf gespeicherte
Dokumente zugreifen.
Doch iManage ist mehr als ein simples
Dateiverwaltungsprogramm. Hinter der unscheinbaren Oberfläche
verbirgt sich ein Multitalent, das keineswegs nur
Verzeichnisbäume darstellt, sondern auch darauf achtet, welcher
Anwender sich eine Datei zur Bearbeitung auf das Notebook zieht,
die Daten nach inhaltlichen Kriterien erschließt und zudem noch
den kompletten E-Mail-Verkehr abwickelt. Auch die Voice-Mail ist
in das System integriert. iManage ist eine Kombination aus
Dokumentenmanagementsystem, Kommunikationszentrale und
Wissensmanagement-Tool.
Ein sehr dominantes Programm.
Der Vorteil: die kompletten Datenbestände inklusive E- und Voice-Mails sind von jedem Rechner aus zugänglich. Der Nachteil: Mal schnell eine Datei unter einem x-beliebigen Namen abspeichern, das war einmal. Damit gibt sich iManage nicht zufrieden. Es verlangt mehr und genauere Informationen über die Datei - vor allem die Zuordnung zu einem Mandanten und einem Fall. Insgesamt eine Maske mit einer stattlichen Anzahl von Feldern. Umgehen lässt sich das System nicht. "iManage ist ein sehr dominantes Programm", sagt Michaela Fischer, die rechte Hand von Kanzleimanager Stefan Rizor. Einzige Hintertür: Man kann eine Datei als privat abspeichern. Exzessiv genutzt wird die Hintertür jedoch zur Falltür, denn private Daten fallen förmlich aus dem System heraus, weil sie anderen nicht zugänglich sind. "Das Prinzip ist es, Wissen zu teilen", betont Marion Willems. Jenseits der faszinierenden technischen Möglichkeiten liegt hierin das eigentliche Potential des Systems.
Wissen teilen.
Und hier wird es
komplex. iManage ist nicht mehr als eine Benutzeroberfläche, die
einen strukturierten Zugriff auf die Datenspeicher, Verzeichnisse
und Dateien erlaubt. Daneben gibt es weitere Möglichkeiten, die
Informationen zu erschließen: das Intranet OZONE (mit eigenen
deutschen Seiten) und das OLIB-System. Letzteres erschließt den
gesamten Bibliotheksbestand der Kanzlei und enthält eine Vielzahl
anderer wichtiger Dokumente - darunter auch "Seminarunterlagen,
Publikationen anderer Sozietäten oder andere Dokumente, die als
Muster für eigene Schriftsätze benutzt werden können", wie
Christiane Köhler erläutert. Christiane Köhler ist
Rechtsanwältin. Eine Anwaltsrobe besitzt sie indes nicht, sie
bearbeitet auch kein einziges Mandat. Diktate, Schriftsätze,
Gerichtstermine, all das kennt sie nur aus ihrer Ausbildung. Bei
Osborne Clarke, wo sie als Halbzeitkraft arbeitet, hat sie andere
Aufgaben.
Christiane Köhler ist TKL. Die Abkürzung steht für
"Training and Know-how Lawyer". Eine passende deutsche
Bezeichnung dafür gibt es nicht; genau genommen gibt es überhaupt
keine einheitliche Bezeichnung dieses - ziemlich neuen -
Aufgabenfeldes. In anderen Kanzleien haben sich andere
Bezeichnungen eingebürgert: "Professional Support Lawyer" etwa.
Es sind vor allem die international tätigen Großkanzleien, die
solche juristischen Know-how-Spezialisten einsetzen. Denn um
solche handelt es sich: Anwälte, die nicht selbst Mandate
bearbeiten, sondern nichts anderes tun, als ihren Kollegen das
dafür notwendige Know-how bereitzustellen. Christiane Köhler ist
darauf spezialisiert, juristische Informationen aufzubereiten und
in die Know-how-Datenbank einzuspeisen.
Dokumentvorlagen für alle juristischen Lebenssituationen.
Bei Osborne Clarke in Deutschland
gibt es bislang nur zwei TKLs, Christiane Köhler und ihre
Kollegin Audra Eyre, die beide im Frankfurter Büro arbeiten. In
England, wo 361 Anwälte in 8 Departments werkeln, sind es
hingegen 8 TKLs, für jedes Department eine/r. Sie haben zum einen
die Aufgabe, in ihren Rechtsbereichen den Bedarf an Training für
die dort arbeitenden Anwälte zu identifizieren und die
entsprechenden Fortbildungen selbst abzuhalten oder extern zu
organisieren. Das kann Training in allgemeinen Fähigkeiten sein,
etwa Präsentations- oder Vortragstechniken, aber auch die
fachliche Weiterbildung in den jeweiligen Rechtsgebieten. In
Deutschland ist das anders. Hier ist die Zahl der Anwälte derzeit
noch nicht so groß, dass ein TKL je Fachbereich ausgelastet wäre.
Deshalb organisieren die einzelnen Departments die Weiterbildung
selbst - und Christiane Köhler und Audra Eyre konzentrieren sich
auf die Bereitstellung von Know-how.
Der Grundgedanke: "Wir wollen das Potential an Know-how,
das zunächst nur bei den einzelnen Anwälten vorhanden ist, für
alle zugänglich und nutzbar machen", erläutert Christiane Köhler.
Köhler und Eyre speisen unterschiedliche Informationen in die
Datenspeicher ein: Bibliothekarische Informationen, beispielhafte
Schriftsätze, Dokumentvorlagen und die so genannten "Precedents".
Das sind beispielhafte Muster-Schriftsätze, eine Art
"inhaltlicher Dokumentvorlagen für alle juristischen
Lebenssituationen", so Köhler. Zum Thema Aktienrecht zum Beispiel
finden sich unter dem Stichwort Gründung unter anderem eine
Checkliste, ein Gründungsbericht, ein Gründungsprüfbericht sowie
eine Vorlage für die konstituierende Sitzung des Aufsichtsrates
bei Gründung der AG - Standardformulare, die nur noch dem
jeweiligen konkreten Fall angepasst werden müssen. "Damit spart
man für sich und für den Mandanten sehr, sehr viel Zeit", sagt
Christiane Köhler. 300 bis 500 Dokumente umfasst der
Know-how-Schatz in Deutschland, 4.500 sind es in England.
Natürlich müssen diese Vorlagen ständig auf dem Laufenden
gehalten, überarbeitet und ergänzt werden. Aber dafür gibt es
eine Erinnerungsfunktion in iManage.
Totale Transparenz - totale Kontrolle?
iManage entgeht nichts. Jeder kann sehen, was der andere gerade tut, welche Dokumente er ausgeliehen und welche er bearbeitet hat. iManage schafft eine totale Transparenz - und eröffnet (zumindest potentiell) eine höchst effektive Möglichkeit der Kontrolle. "Natürlich könnte ich schauen, was der Kollege XY denn letzte Woche so produziert hat", gesteht Peter Bert zu, "das ist aber nicht der Sinn und Zweck." Ihm schwebt eine andere Nutzungsmöglichkeit vor: "Wenn ich an etwas arbeite und sehe, dass XY schon etwas zu diesem Thema gemacht hat, dann kann ich ihn anrufen und fragen: Kannst du mir da mal helfen." Nicht der Kontrolle, sondern der Kooperation soll das System dienen. Letztlich ist es eine Frage der Unternehmenskultur, wie technische Möglichkeiten genutzt werden. Das ist auch der Grund, weswegen Christiane Köhler und Audra Eyre in ihrer PowerPoint-Präsentation zum Knowledge-Management bei Osborne Clarke als eigenen Punkt die "Sozietätskultur" auflisten. Denn nicht nur der Verzicht auf Kontrolle will gelernt sein. Gleiches gilt für die Praxis, Wissen nicht zu horten, sondern zu teilen.
Bild oben: iManage.
Bild unten: Die beiden "Training and Know-how Lawyer"
bei Osborne Clarke in Deutschland: Christiane Köhler und Audra
Eyre.
Winfried Kretschmer, Journalist und Autor, arbeitet als freier Mitarbeiter für changeX.
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Autor
Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.