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Eine Wirtschaft der Vielen

Werkstätten für eine Wirtschaft der Bürger - ein Essay von Peter Plöger
Text: Peter Plöger

Während weltweit die Proteste hochwallen, ist es in Deutschland ruhig geblieben. Doch es gibt auch hier genügend Menschen, die sich machtlos fühlen und dennoch etwas tun. Nur taten sie es bisher unbemerkt. Im Stillen. In lokalen Gemeinschaften und überschaubaren Netzwerken. Und doch bauen sie an einer anderen Wirtschaft. Ein Blick auf eine aufkeimende Wirtschaft der Bürger.

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Überall auf der Welt protestieren sie jetzt: zuerst in Spanien, in Chile, in Israel, sogar auf der Wall Street und in Washington, nun endlich auch in Deutschland. Die Vielen, die auf die Straßen gezogen sind, machen sich aus unterschiedlichen Motiven heraus Sorgen um ihre Zukunft: Sie beklagen ungleiche Bildungschancen, hohe Jugendarbeitslosigkeit, erdrückende Lebenshaltungskosten, eine Wirtschaft, die sie entmündigt. Ein starkes Motiv vereint sie alle: Die, die sich machtlos fühlen, wollen ihren Einfluss zurück. 

Bis vor Kurzem glaubte man noch, dass die Bewegung in Deutschland niemanden hinter dem Ofen hervorlocken könnte: Einige Online-Aktivitäten (www.echte-demokratie-jetzt.de); ein Camp auf dem Berliner Alexanderplatz, man berief sich per Namen, aCAMPada, auf das spanische Vorbild. Das war es so weit? Leben wir also in einem so großartigen Land, dass alle Bedingungen, alle zufrieden zu machen, erfüllt sind? Fühlt sich niemand machtlos in Deutschland?


Volle Tafeln für Dutzende


Nein, das ist nicht alles, was man über die Haltung der Deutschen zu den Lebensbedingungen in der kapitalistischen Gesellschaft sagen kann. Es gibt auch hier seit Langem genügend Menschen, die sich machtlos fühlen und dennoch etwas tun. Nur taten sie es bisher unbemerkt. Eine von ihnen ist Diana Jonas (Name geändert), die es satthat, wie Handel und Großproduzenten mit unseren Lebensmitteln umgehen. "Unanständig" findet sie die Vergeudung, und jeder Blick in einen der hinter den Verbrauchermärkten aufgestellten Müllcontainer bestätigt sie darin. Wann immer sie Gelegenheit hat, geht sie "mülltauchen". Ihr Beruf trägt sie in viele deutsche Städte, doch das Bild ist überall gleich. Ob in Siegburg, Bielefeld oder Greifswald: Die Tonnen sind randvoll mit essbaren Nahrungsmitteln, viel Obst und Gemüse, eingeschweißtes Fleisch, Joghurtbecher, Fertigkuchen. Volle Tafeln für Dutzende.  

Diana nimmt sich eine Tasche voll Gemüse mit. "Bei den älteren Märkten kommt man gut ran. In den neueren Märkten sind die Container abgesperrt, da stehen sie in Käfigen." Sie lächelt verschmitzt. "Früher hat man die Bananen zu den Affen im Käfig geworfen, jetzt hält man die Affen mit Käfigen von den Bananen fern." 

Sie weiß, dass sie an der Herstellungsweise und den Vertriebswegen der Lebensmittel nichts ändert, wenn sie die abgelegte Ware mitnimmt und in ihrer Küche einem "Zweitnutzen" zuführt. Gegen die gigantische Verschwendung könnten sie und die anderen, zahlreicher werdenden "Containerer" gar nicht antauchen, solange Gemüse auf der Halde landet, nur weil es nicht mehr so schön glänzt, wie der Handel (und letztlich der Verbraucher) es gerne hätte. 40 bis 50 Prozent des Obstes und Gemüses - so Schätzungen - werden bereits vom Hersteller aussortiert, weil sie den Anforderungen nicht entsprechen.  

Für Diana ist das alles würdelos und ein nicht hinzunehmender Auswuchs unserer Wirtschaftsweise. Sie findet in den Tonnen keinen billigen Kick, sondern eine Möglichkeit des stillen Protestes. "Für mich ist das nicht sexy oder cool, in Müllcontainer zu steigen, es ist mir sogar unangenehm. Ich fühle mich wohler, wenn die Tonnen nicht einsehbar sind." Dennoch geht sie nachts immer wieder los. Es ist Empörung, die sie umtreibt.


Dinge in eigene Regie nehmen


Andere sind ebenso indigniert wie Diana Jonas, gehen aber andere Wege. Sie legen gleich Hand an die Produktion der Güter, die sie alltäglich brauchen. In den "Häusern der Eigenarbeit" zum Beispiel, etwa dem "HEi" in München oder dem "Kempodium" in Kempten, stellen sie selbst Gebrauchsgegenstände, Möbel oder Schmuck für den Eigenbedarf her. Oft lernen sie erst vor Ort das Tischler-, Schmiede-, Töpfer- oder Buchbinderhandwerk - so weit, wie sie es für den Moment brauchen. Ihr Ziel ist dabei nicht bloß, einen Gegenstand mit den eigenen Händen herzustellen, sondern eine in unserer Arbeitswelt unterbewertete Selbstbestimmung wiederzuerlangen. Sie machen einen Schritt heraus aus dem passiven Konsum und setzen sich damit selbst in den Stand, Dinge in die eigene Regie zu nehmen.  

Sich selbst mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen, statt vorgefertigte Waren zu kaufen, deren Herstellungs- und Vertriebsbedingungen undurchsichtig bleiben oder abgelehnt werden, ist allmählich zu einer Perspektive für immer mehr Menschen geworden. Darunter sind viele junge Leute, sagt Christa Müller von der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis. Aufgabe der Stiftungen ist es, solche Prozesse der Selbstorganisation zu untersuchen und zu fördern. Ein weiteres Beispiel, so Müller, sind die vor allem in Großstädten sich ausbreitenden Nachbarschafts- und Gemeinschaftsgärten, über die sie das Buch Urban Gardening herausgebracht hat. Allein in Berlin ist ihre Zahl so groß, dass sich hier 2005 das Netzwerk "Urbanacker" gegründet hat.  

Dabei wird nicht bloß für den eigenen Bedarf an Gemüse und Obst gegärtnert. Urbane Agrarflächen wie der Prinzessinnengarten in Kreuzberg sind gleichzeitig Raum für gemeinsame Mahlzeiten und Feste, sie sind Tauschmärkte und Bürgerforen. Sie sind ein politischer Raum. Oft genug haben sie ihre Wurzeln im Anwohnerprotest gegen von auswärtigen Investoren geplante Bauvorhaben und gegen das Übergreifen von Markt- und Profitlogiken auf die städtische Raumordnung.  

Gärten, Werkstätten und sogar Müllcontainer sind damit Orte, an denen Menschen ein Bewusstsein ihrer Handlungsfähigkeit entdecken und stärken - ökonomischer, indem sie Selbstversorgung betreiben, sozialer, indem sie Gemeinschaft erleben, und politischer, indem sie als Bürger aktiv werden. Das gilt für Menschen gleich welcher Kompetenz und sozialen Herkunft: "Im Prinzessinnengarten werden auch solche Menschen zu Experten, deren Wissen sonst wenig interessiert", schreibt Müller.


Das lokale Wirtschaften stärken


"Eigenarbeiterinnen", "Selbstversorger" und "Mülltaucherinnen" reagieren auf einen Mangel, den sie an unserer Wirtschaftsweise entdeckt haben. Es ist ein grundsätzlicher Mangel. Wir haben eine sehr eingeschränkte Wohlstandsidee, die sich auf Materielles, Vorgefertigtes, Erwerbbares kapriziert. Was die Idee nicht beinhaltet, ist die Mitbestimmung über die Beschaffenheit der Güter, sind Tätigkeiten mit Sinngehalt, nicht zuletzt auch die Zukunftsfähigkeit der Ressourcen und Lebensräume. Was ihr fehlt, sind Gemeinsinn, Menschlichkeit, Lebensqualität ohne Existenzangst, die Förderung von Grundfähigkeiten. Immer mehr Menschen - das zeigen auch die Proteste in aller Welt - haben den Eindruck, dass der ganze Kapitalismus an ihnen vorbeiarbeitet; dass eine Wirtschaft, die für sie, die Menschen, da sein soll, in erster Linie für sich selbst da ist - personell, indem "die da oben" sich die Taschen vollstopfen, strukturell, indem die ökonomischen Abläufe, die eigentlich für eine optimale Versorgung der Menschen gedacht sein sollten, selbstreferenziell und intransparent geworden sind.  

Dass die kapitalistische Wohlstandsidee zu kurz greift, sehen nicht nur die sogenannten "Verbraucher" allmählich, sondern auch ihre Pendants auf dem Markt, die Einzelhändler. Sie fühlen sich ebenfalls nicht länger wohl in einer Ökonomie, die über Grundbedürfnisse hinwegsieht. Hier und da entwickeln sie bereits Ideen für eine bessere Zusammenarbeit zwischen Handel und Endabnehmern. In Ravensburg am Bodensee etwa gründet sich aktuell eine Initiative unter Federführung einer Buchhandlung, die das lokale Wirtschaften stärken soll. Das Label "Buy Local" versammelt dazu inhabergeführte Geschäfte verschiedener Warengruppen, die bereit sind, nach den selbst formulierten Standards zu arbeiten, beispielsweise im Einkauf regionale Produkte zu bevorzugen, sich der Nachhaltigkeit zu verpflichten, ihre Steuern in der Region zu bezahlen oder faire Arbeitsbedingungen für die Mitarbeiter zu garantieren. Sie wollen auf diese Weise der Anonymität und Intransparenz der großen Filialisten und Online-Händler den engen und kooperativen Kontakt zu ihren Kunden entgegenstellen. Ihre Einsicht ist, dass gegenseitiges Vertrauen allen Beteiligten im Wirtschaftskreislauf nutzt.


Als souveräne Bürger agieren


Diana Jonas wäre sicher angetan von der Idee und würde sich Lebensmittelhändler wünschen, die bei "Buy Local" mitmachen, weil sie weiß, dass solche Händler näher an den vernachlässigten Bedürfnissen ihrer Kunden und an deren ethischen Haltungen bleiben können. "Manchmal", sagt sie, "findet man auf den Tonnen aufgedruckt: Eigentum von Soundso-Müllverwertung. Es will mir nicht in den Kopf - welche Art von Besitzethik das ist, in der Müll, der ganz am Ende der Verwertungskette steht, nur weil er jemandem gehört, als Besitz plötzlich einen höheren Stellenwert hat als das Ernährungsbedürfnis eines Menschen." Das Paradox sei: Ältere Leute, die noch wissen, wie es ist, mit sehr wenig auskommen zu müssen, wüssten es zu schätzen, dass die Mülltaucher Lebensmittel, die noch gut sind, vor der Vergeudung "retten". Nun, da sie gut versorgt sind, müssen sie Zeuge werden, wie die Marktökonomie mehr und mehr von ihrer grundsätzlichen Funktion der Deckung von Versorgungsbedarf abrückt und damit mehr und mehr den Menschen aus dem Blick verliert.  

Das historische Versprechen des Kapitalismus war, dass alle nur möglichst frei agieren können müssten, dann würde jeder Einzelne mit steigendem Wohlstand belohnt werden. Die vielleicht größte Legitimationskrise der Marktwirtschaft muss nun nicht nur Frank Schirrmacher mit Schrecken konstatieren: "Das große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten hat sich in sein Gegenteil verkehrt." 

Die Selbstorganisierer haben sich auf die Situation eingestellt. Sie wissen: Wir werden in Zukunft in jedem Fall verzichten müssen, weil sich der ausschweifende Lebensstil der Industriegesellschaften gar nicht durchhalten lässt. Die Frage ist, worauf wir verzichten werden. Materiellen Wohlstand können wir am ehesten entbehren, wir haben genug davon. Den immateriellen dagegen gilt es, so die Logik der Selbstorganisierer, neu zu entdecken.  

Sie reagieren, indem sie beginnen, ihrerseits an den Funktionssystemen der kapitalistischen Ökonomie vorbei, das heißt als souveräne Bürger, zu agieren. Ihr Blick auf ein gutes Leben ist nicht länger verstellt durch den monumentalen Güterberg des Konsumzeitalters. Selbst organisierte Mikroökonomien antworten auf Bedürfnisse, die lange Zeit nicht artikuliert, sondern der oberflächlichen Zufriedenheit mit dem, was die weltumspannenden Märkte boten, geopfert wurden. Jetzt wird klar, dass der Kapitalismus diese grundlegenden Bedürfnisse ignoriert, die die Konsumenten selbst lange Zeit stiefmütterlich behandelt haben.


Eine Wirtschaft der Bürger schaffen


Die neuen Bürger nehmen die Dinge in die eigene Hand. Sie eignen sich die Produktionsmittel wieder an, ohne dass sie dafür die marxsche Revolution vom Zaun brechen müssten. Da sie der Wirtschaftsordnung des "Reichtums für alle" nicht länger vertrauen, suchen sie woanders nach Verlässlichkeit: in den eigenen Fähigkeiten, in ihren sozialen Beziehungen, im Nahen und Unmittelbaren. Sie verlegen die Fundamente ihrer Versorgung so weit es geht in einen Bereich, den sie überschauen können.  

Dazu gehört auch der öffentliche Raum ihrer Stadtviertel und "Kieze". Wo dieser zunehmend privaten Firmeninteressen übereignet wird, beginnen die Bürger, ihn sich zurückzuholen. Sie bedienen sich künstlerischer Mittel ebenso wie des politischen Protestes. In Hamburg etwa hat sich ein Zusammenschluss von Protestinitiativen den sprechenden Namen "Recht auf Stadt" gegeben. Sie arbeiten mit Erfolg gegen den Ausverkauf der Hamburger Kieze an internationale Investoren, denen der Hamburger Senat mit Gentrifizierungskampagnen kräftig nachgeholfen hat. Das Gängeviertel konnte bereits vor Räumung und Komplettsanierung bewahrt werden, weil seine Einwohner sich im Schulterschluss mit "Recht auf Stadt" für eine selbstbestimmte Nutzung starkgemacht haben. Dieses Beispiel strahlt bereits auf andere Hamburger Stadtviertel aus.  

Recht auf lebenswerte Orte, Recht auf gesunde Nahrungsmittel, Recht auf selbstbestimmte Arbeit, Recht auf nachvollziehbare Produktionsmethoden: Das Recht auf Einfluss wird wieder überall eingefordert. Es war bislang ein stillerer Protest als der in Spanien oder den USA, aber er ist nicht weniger nachdrücklich - selbst organisiert, experimentell, unideologisch, an wirklichen Bedürfnissen orientiert. Eine souverän und selbständig agierende Gesellschaft wächst auch in Deutschland wieder aus dem Unbeachteten hervor. Sie macht sich auf, dem Gefühl der schleichenden Entmündigung zu begegnen und vor Ort eine Wirtschaft der Bürger zu schaffen, die den Menschen endlich ein gutes Leben eröffnen soll. Der nächste Schritt, der auf die Proteste vor den Bankenvierteln folgen muss, ist bereits gemacht. Die Ökonomie der 99 Prozent ist bereits vorgedacht. Die Wirtschaft von morgen wird anders aussehen als die heutige. Und sie wird wieder mehr von uns allen mitgestaltet werden.  


© Foto: iStockphoto Andreas Kehrmann  


Zitate


"Recht auf lebenswerte Orte, Recht auf gesunde Nahrungsmittel, Recht auf selbstbestimmte Arbeit, Recht auf nachvollziehbare Produktionsmethoden: Das Recht auf Einfluss wird wieder überall eingefordert." Peter Plöger: Wirtschaft der Vielen

"Die Wirtschaft von morgen wird anders aussehen als die heutige. Und sie wird wieder mehr von uns allen mitgestaltet werden." Peter Plöger: Eine Wirtschaft der Vielen

 

changeX 19.10.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Einfach ein gutes Leben. Aufbruch in eine neue Gesellschaft. Carl Hanser Verlag, München 2011, 256 Seiten, 17.90 Euro, ISBN 978-3-446-42684-9

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Autor

Peter Plöger
Plöger

Peter Plöger, freiberuflicher Autor, war als Vorstandsmitglied der "Vereinigung für Ökologische Ökonomie" (VÖÖ) mit Wirtschaft auf neuen Wegen beschäftigt und kennt als akademisch ausgebildeter Multijobber die alltägliche Selbstorganisation von Arbeit aus dem Effeff. 2010 erschien im Carl Hanser Verlag sein Buch Arbeitssammler, Jobnomaden und Berufsartisten. Sein neues Buch Einfach ein gutes Leben ist im Herbst 2011 ebenfalls bei Hanser erschienen.

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