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N.N.

Die Organisation der Zukunft - eine Annäherung
Essay: Herbert Schober-Ehmer und Uta-Barbara Vogel

Noch hat sie keinen Namen. Die Organisation der Zukunft. Doch wir müssen uns mit ihr beschäftigen. Denn Komplexität und Unüberschaubarkeit werden wir nicht mehr los. Und das bisherige Verständnis von Unternehmen, wie sie funktionieren und wie sie zu sein haben, führt zunehmend in die Irre. Klar ist: Es ist Zeit für einen neuen Typus von Organisation.

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Wenn CEOs, Geschäftsführer, Unternehmer heute über ihre Herausforderungen und die damit verbundenen Anforderungen reden, beschreiben sie das meist so: "Alles ist sprunghafter, unberechenbarer, unklarer, widersprüchlicher geworden. Wir sollen für Kunden und Mitarbeiter berechenbar sein und strategische Gewissheiten vermitteln, zugleich aber flexibel auf jede noch so unterschiedliche Erwartung antworten. Wir sollen rasch entscheiden, aber natürlich alle Aspekte berücksichtigen. Wir sollen die Erfahrung und Loyalität der älteren Mitarbeiter respektieren, aber auch die Ungebundenheit und Neugier der Y-Generation nutzen. Wir sollen Entscheidungen in eigenständige, dezentrale Einheiten verlagern, diese jedoch durch ein zentrales Controlling koordinieren - aber ohne bürokratische Regeln. Wir sollen die unterschiedlichen Logiken von Hierarchie und Matrix, von Teams und Netzwerken unter einen Hut bringen und natürlich als Unternehmen resilient und nachhaltig sein. Und das sind nur einige der typischen Anforderungen, da gäbe es noch weit mehr ..." 

Komplexität und Unüberschaubarkeit werden wir nicht mehr los. Dabei geht es nicht nur um eine "gefühlte", sondern eine tatsächlich erkennbare, dramatische Steigerung der Komplexität: Folgt man dem Kultur- und Organisationssoziologen Dirk Baecker, haben wir es derzeit mit einem so radikalen gesellschaftlichen Wandel zu tun wie seit der Erfindung des Buchdruckes und zuvor der Erfindung der Schrift nicht mehr. Es war die Erfindung eines neuen Verbreitungsmediums, des Computers beziehungsweise des Internets, die eine so unüberschaubare Vielzahl an Möglichkeiten hervorbrachte, die nun die Gesellschaft zwingt, neue Strukturen, Methoden, Rituale, Entscheidungsprämissen, Kulturformen zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen, um mit dieser Herausforderung zurechtzukommen. Die damit initiierten Veränderungen (Paradigmen, Werte, Strukturen, Prozesse, Entscheidungsprämissen) eröffnen weitere Fragen, die nach weiteren Antworten verlangen, die weitere Veränderungen vorantreiben. Wann und wie sich diese Bewegung einpendelt und stabilisiert, wird man erst aus der Rückschau, also historisch interpretieren können. Eines ist aber jetzt schon klar: Es ist Zeit für einen neuen Typus von Organisation. Wir nennen sie die Organisation N.N.© (O.N.N.©).


Die richtige Organisation gibt es nicht


Warum haben wir uns für diesen abstrakten Begriff entschieden? Auf diese Weise möchten wir deutlich machen, dass es nicht mehr möglich ist, anhand eines Merkmals, einer herausragenden Eigenschaft, einer typischen Struktur die Organisationen der nächsten Epochen treffend zu charakterisieren. Mit der Kurzform der lateinischen Bezeichnung "nomen nominandum" - "(noch) zu nennender Name" wird sichtbar, dass jede konkrete Bezeichnung nur einen Aspekt von Organisationsqualität betonen und damit weiterhin die Illusion bedienen würde, es gäbe die eine richtige Antwort. Alle derzeit gedachten Attribute - lernend, flexibel, innovativ, adaptionsfähig, systemisch, fluid, zukunftsfähig, resilient - müssen ohnedies von jeder halbwegs erfolgreichen Organisation angestrebt werden, sonst wäre sie im aktuellen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, turbulenten Umfeld bald Geschichte. N.N. markiert somit eine Leerstelle. Da es die Organisation nicht mehr gibt, ist es auch nur konsequent, mit einer Leerstellenmetapher zu operieren. Der springende Punkt daran ist: Wenn Organisationen idealtypisch und theoretisch nur noch als Leerstellen zu definieren sind, fordert dieses N.N. Manager auf: "Überlege klug und dann entscheide, welche Organisation du - für die nächste Periode - schaffen wirst."  

Diese Leerstelle soll Führungskräfte zu Beobachtungen anregen, was ihre spezifische Organisation so "alles draufhat", was "in ihr steckt" und womit sie sich in ihrem dynamischen Umfeld schwertut. Die Leerstelle konfrontiert Manager mit der Zumutung, nicht mehr nach der richtigen Verfassung zu suchen. Sie soll ihnen stattdessen Mut machen, sich mit ihrer Organisation immer wieder neu zu erfinden. Das wird dann gelingen, wenn sie die Organisation jenseits des Gegenständlichen betrachten. Natürlich geben die Gebäude, das Inventar, die Mitarbeiter, die erzeugten Produkte, die Organigramme und Stellenbeschreibungen, die verschrifteten Strategien eine Auskunft darüber, womit sie es zu tun haben - aber all dies erzählt nicht unmittelbar, was sich da eigentlich abspielt, wenn organisiert und geführt wird. Die folgenden Aspekte helfen Ihnen, Ihr eigenes Bild von Organisation zu hinterfragen, zu verflüssigen und sich in Richtung O.N.N. zu bewegen.


Die eigene Organisation im Fokus - wie tickt sie?


Wollen Sie Organisationen beobachten und verstehen, sollten Sie Ihren Blick auf das tägliche Geschehen richten. Konkret sind das Ereignisse, die auf Ereignisse, Handlungen, die auf Handlungen folgen, Kommunikationen, die zu Kommunikationen, Entscheidungen, die zu weiteren Entscheidungen führen. Produkte, Gebäude, Websites, Bilanzen und Geschäftsberichte sind die Ergebnisse dieser sozialen Prozesse. Zunächst mag es etwas ungewöhnlich wirken, nicht von der Organisation als Ding, als Objekt zu sprechen, sondern vom "Prozess des Organisierens", aber Sie erfassen damit viel rascher und klarer, was eigentlich geschieht: Wie werden hier Erwartungen ausgetauscht, gebündelt, verworfen, welche werden in Rollen oder Strategien festgezurrt? Wie wird im Prozess der Kommunikation für Ereignisse Sinn hergestellt, den man qua Zuschreibungen fassbar zu machen versucht? Zuschreibungen wie sinnvoll, rational, originell, unsinnig, gefährlich, zielorientiert, kostenintensiv, bürokratisch, schlank, human, ausbeuterisch sind keine Eigenschaften, die den Prozessen innewohnen, sondern Etiketten, die - von wem eigentlich?, das ist eine weitere gute Frage - verliehen werden und etwas Feststehendes suggerieren.  

Sie können eine Organisation nicht wirklich gestalten. Das weiß jede Führungskraft aus ihrem täglichen Tun. Sie können sich immer nur in Prozesse, in die Verknüpfungen von Handlungen, in Entscheidungsfolgen und in die Etikettenproduktion einmischen. Sie können intervenieren, versuchen, auf Entscheidungsprämissen Einfluss zu nehmen und Rahmenbedingungen festzulegen. Ob diese Ihre Handlungen dann Wirkung und den gewünschten Erfolg zeigen, stellt sich immer erst im Nachhinein heraus. Was aber der Führung nicht erspart, weitere Rahmenbedingungen zu setzen, mal auf deren Einhaltung zu beharren und sie ein andermal zu erweitern. Und zugleich muss Führung - will sie wirklich wirksam sein - mehr denn je auf das vertrauen, was in der alten Hierarchie nicht vorgesehen war: die Selbstorganisation von verständnisvollen, intelligenten, verantwortungsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.  


Selbstbild und Fremdbild müssen übereinstimmen


Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Respekt und Wertschätzung, Nachvollziehbarkeit, Fairness, Verbundenheit, Selbstverantwortung haben an realer Bedeutung gewonnen. Stimmen die beobachteten Handlungen mit den Beschreibungen im Internetauftritt oder in den Unternehmensbroschüren nicht überein, wird der Unterschied nicht mehr mit resignativem Achselzucken oder mit zynischen Kommentaren zur Kenntnis genommen, sondern die Differenz wird zum Gegenstand ernst zu nehmender Auseinandersetzungen und Störungen, an denen sich die Überlebensfähigkeit der Organisation mitentscheidet. Agilität, Flexibilität, Adaptionsfähigkeit, Innovationsfähigkeit, das Erkennen von Chancen und Risiken und das Ableiten von Entscheidungen sind ohne eine Unternehmenskultur, in der die oben genannten Attribute tatsächlich gelebt werden, nicht möglich. Mit ihnen hingegen kann es gelingen, die zunehmenden Widersprüche, Herausforderungen und Unterschiede mit ihren Konfliktpotenzialen gemeinsam zu bewältigen - denn sie sind für Aufmerksamkeit, Mitdenken, Mitverantwortung unverzichtbar.  

Systemtheorie und Konstruktivismus machen darauf aufmerksam, dass alles, was eine Organisation über ihre Märkte, Kunden, Lieferanten, Mitarbeiter, über die Wirtschaftspolitik, Rahmenbedingungen, Aufsichtsräte sagt, stets eine Beschreibung ist, die sie aus ihrer ganz eigenen Sicht selbst angefertigt hat. Was die Organisation "Außen" nennt, ist eigentlich in ihrem "Innen" skizziert worden, und zwar meist in einer Weise, dass Führung auf dieses Außen eine erfolgswahrscheinliche Antwort finden kann. Wenn dazu nichts Passendes einfällt, wird meist die Umwelt als etwas beschrieben, dem man ausgeliefert zu sein scheint - manchmal ein cleverer Trick, sich als Opfer der Umstände zu inszenieren.  

Stattdessen schlagen wir ein ganz anderes Vorgehen vor: Das Außen ist immer schon ein Innen, darin steckt der Clou. Denn dann ist es auch möglich, das Außen anders zu konstruieren und Beschreibungen und Bewertungen beispielsweise des Marktes, der Banken, der Politik, des Aufsichtsrates, der Mitarbeiter, der Zulieferer so zu variieren, dass neue und besser passende Antworten gefunden werden können. Sie werden mit Erstaunen feststellen, wie leicht das gelingen kann. Aber auch die Gelassenheit aus der Akzeptanz eines "Es ist, wie es ist" eröffnet eine veränderte Perspektive, die nicht zu Fatalismus, sondern zu Kreativität animiert. Der erfolgreiche Mitbewerber unterscheidet sich im Grunde nur deshalb, weil er anderes anders beobachtet und bewertet.


Flexibel und verlässlich - die zwei wesentlichen Attribute


"Flexible Verlässlichkeit" wäre ein mögliches Schlagwort, um die Charakteristik der O.N.N. auf den Punkt zu bringen und dem Management eine paradoxe Orientierung zu geben. Es liegt in der Natur von Paradoxien, dass sie durch keine kausal begründeten Antworten zu bewältigen sind. Zu den beiden Basistechniken in der Bewältigung von Paradoxien - (a) einfach handeln, statt sich in Überlegungen zu verheddern, und (b) sie durch Nichtbeachten unsichtbar machen - muss nun zusätzlich das Spiel damit erlernt werden. Es gilt, Reflexionen als ein kurzes Innehalten zu nutzen, um dann einen nächsten Schritt im Wissen um die Paradoxie leichtfüßig zu setzen.  

Flexible Verlässlichkeit, die eine pragmatische Effektivität und Effizienz ermöglicht, entsteht aus einer Kultur interessierter, aufmerksamer Beobachtung: Selbstverständlich kam eine Organisation auch bisher nicht ohne die Beobachtung durch Management und Mitarbeiter aus. Aber die Kommunikation über das Beobachtete war so organisiert, dass möglichst wenig Irritation entstehen konnte oder gar sollte - sowohl für die Spitze als auch für die Mitarbeiter am Ende der Hierarchie oder an den Rändern der Organisation. Dieses wechselseitige, rücksichtsvolle Sichverschonen mit anderen Perspektiven können sich Organisationen - aus oben genannten Gründen - kaum mehr ungestraft leisten.  

Damit Beobachtung überlebenssichernd wirken soll, darf sie selbst nicht unbeobachtet bleiben. Das ist die Zumutung, die Management und Mitarbeiter erst realisieren und dann organisieren müssen. Damit Beobachtung Eingang in die täglichen Gespräche der Organisation - und zwar in Meetings und nicht nur in Teeküchen - findet, muss Beobachtung als aktive Handlung erkannt und anerkannt werden. Wie redet man miteinander, wenn man die Beobachtung selbst zum Gegenstand der Beobachtung und der Kommunikation machen möchte? In der O.N.N. weiß das Management: Wir sind darauf angewiesen, eine Verknüpfung herzustellen zwischen: WAS beobachtet WER WIE WANN? Es wird zur zentralen Führungsfunktion, zu beobachten, was mit diesen Beobachtungen geschieht, wie die Beobachtungen kommuniziert und gedeutet werden, zu welchen Entscheidungen, Aktionen und Handlungen dies führt und wie darüber wiederum geredet wird. Das klingt komplizierter, als es sich dann in der Praxis erweist. Ohne diesen gestalteten, inszenierten und moderierten Kommunikationsprozess ist eine halbwegs sichere Basis für passende Entscheidungen nicht mehr möglich. Wirksam wird dieser Austausch aber erst dann, wenn diese gemeinsam konstruierten Erkenntnisse mit den Prozessen, Strukturen, Entscheidungsprämissen, Werten, Regeln rückgekoppelt werden. Denn intervenieren und steuern kann man nur auf diesen Ebenen.


Leitlinien für die Praxis


Die Forderungen nach mehr Flexibilität, nach mehr Beweglichkeit der Mitarbeiter, nach anpassungsfähigen Entscheidungsprozessen, nach wandelbaren Strukturen, nach ad hoc einsetzbaren Teams und dergleichen mehr kennt man schon länger. Selbst Kontrollfreaks fordern Selbstverantwortung und Selbststeuerung und hoffen, dass sich dadurch Wendigkeit, Wandelbarkeit und die richtige Flexibilität - was immer das dann im Einzelnen sein mag - wie von selbst einstellen mögen. Der Unterschied ist: Diesen Forderungen müssen nun Konsequenzen folgen.  

Etwa bei folgenden Aspekten von Organisation und Management:  

Erster Aspekt: Change
Der idealtypische Verlauf von Change (Change-Projekt initiieren - organisieren - umsetzen - konsolidieren - Routinen pflegen - infrage stellen und irritieren - nächstes Change-Projekt initiieren) gehört schon lange der Vergangenheit an. In der Praxis überlagern sich diverse Projekte, viele werden gar nicht zu Ende geführt, geschweige denn umgesetzt. In der O.N.N. wird die Balance von Verlässlichkeit, Stabilität und Anpassungs- beziehungsweise Gestaltungsfähigkeit nicht alleine im Vertrauen auf fest gefügte Strukturen, strikte Regeln, fest definierte Kommunikationsverbindungen (die dann wiederum durch Berater und verschiedene Projekte gestört werden müssen) geschaffen, sondern durch einen permanenten Prozess von Beobachten und Adaptieren des Außen mit dem Innen, nochmaligem Beobachten und erneutem Anpassen. Die O.N.N. verzichtet daher auf jene Form von Change-Projekten, die meist mehr der Beruhigung dienen. Also jene Projekte, bei denen sich viele Beteiligte fragen: Ist wirklich Veränderung erwünscht, will man wirklich an Strukturen, Entscheidungsprämissen, Paradigmen rangehen - oder nur so tun, als ob?  


Zweiter Aspekt: Entscheiden und Beobachten
Die Trennung zwischen Informationsebene und Entscheidungsebene suggeriert, dass das Sammeln von Informationen entscheidungsfrei wäre. Es wird so getan, als ob die Experten im Auftrag von Führung nur Fakten zusammentragen würden. Dabei bleibt aber gewollt ungewollt verdeckt, nach welchen Prämissen selektiert wird. In einer O.N.N. hingegen schenken die Beteiligten den zugrunde liegenden Selektionskriterien und Annahmen erhöhte Aufmerksamkeit, um beobachten zu können, was Eingang in Entscheidungsvorlagen und Konzepte findet. In Organisationen sind wir immer mit einer Fülle des Unentscheidbaren - vom Alltäglichen über Prämissen bis hin zu Strategien - konfrontiert. An diesen Prozessen reproduziert sich die Organisation und schafft sich über das Prinzip des temporär Gültigen die Basis, Entscheidungen als das zu definieren, was sie sind: vom Willen gekürte Setzungen, die korrigierbar sind beziehungsweise neu entschieden werden können. Im Umgang mit Entscheidungen kann man zwischen zwei grundlegenden Typen unterscheiden:  

Typ 1: Hierzu zählen all jene Entscheidungen, die im täglichen Arbeitsgeschehen zu treffen sind und die sich aus Erfahrung, Sachkenntnis und der Einschätzung von Dringlichkeiten ableiten lassen.  

Typ 2: Dies sind Entscheidungen über Entscheidungsprämissen. Gemeint ist also das Setzen von Rahmenbedingungen (Werte, Ziele, Grundregeln, Ableitungen, Strategie ...) und Kriterien, nach denen Entscheidungen vom Typ 1 zu treffen sind. Typ-2-Entscheidungen sind stets Managemententscheidungen.  

In der klassischen Hierarchie sind die Typ-2-Entscheidungen aus gutem Grund außer Frage gestellt. Sie dürfen dort nicht weiter hinterfragt werden - befolgen heißt die Devise. In der O.N.N. gilt ein anderes Spiel: Auch Entscheidungen über Entscheidungen sollen bewusst und ganz offiziell an beobachtete Beobachtungen rückgebunden werden können. Das hat weitreichende Folgen, die einzig richtige Entscheidung wird dann kaum mehr zur Verfügung stehen. Das bedeutet nichts anderes, als die Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Lösungen und Strukturen zu schaffen und über abgegrenzte Experimente und Fehler lernen zu können. In der O.N.N. kommt das Management nicht auf die Idee, aufgrund der Empfehlung von Beratern das gesamte Unternehmen auf eine Matrixstruktur mit allen IT- und Trainingsmaßnahmen umzustellen. Es wird vielmehr im einen Geschäftsbereich anregen, unterschiedliche Strukturlogiken neu zu verknüpfen und in einem anderen verstärkt projektorientiert zu arbeiten und im dritten die gut eingeführte Linienlogik ein wenig zu optimieren.  


Dritter Aspekt: Struktur
Die O.N.N. verlässt sich nicht mehr alleine auf Struktur und klare funktionale Zuordnungen, sie nutzt vermehrt die Intelligenz, Aufmerksamkeit und Schnelligkeit der einzelnen Menschen und deren wechselnde interdisziplinäre Zusammenarbeit - eine Zusammenarbeit, die durch Führung gefördert, in die aber nicht unmittelbar eingegriffen wird. Gehören Sinn, Verbundenheit und Entwicklung zum Alltag von Führungskommunikation, dann wissen Mitarbeiter, worauf es ankommt, wenn man sie nur lässt.  

Hierarchie und Heterarchie sind in der O.N.N. ideologisch entstaubt. Jeweilige Funktionalitäten werden erkannt, bewusster genutzt und als Entlastung interpretiert. Zum Beispiel ermöglicht die Hierarchie nach wie vor die Zuschreibung von Verantwortung und Schuld, zugleich kann man sich darauf einrichten, dass es nur definierte Punkte (Sachverhalte, Stellen, Zeiten) des Eingreifens und gezielter Irritationen durch die Vorgesetzten gibt. Außerhalb dieser Ereignisse kann man sich als Mitarbeiter darauf verlassen, ungestört arbeiten zu können.  

In einer heterarchischen Struktur (zum Beispiel in jeder Teamkonstellation) muss man sich auf die Zumutung überraschender Interventionen von Gleich- und wechselnd Höhergestellten einstellen und ist zur Entscheidung genötigt, ob und wie man deren Überlegungen und Erwartungen berücksichtigt oder nicht. Die erfolgreiche Koordination von autonom agierenden Einheiten auf gleicher Ebene ist abhängig von höchster Aufmerksamkeit aller aufeinander, von der Bereitschaft, sich jederzeit überraschen zu lassen, unmittelbar zu entscheiden und zu handeln und bei diesen Handlungen auch die Möglichkeiten der anderen zumindest im Fokus zu haben. Mit einem Wort, es geht um Selbstorganisationsfähigkeit, und die ist von der Bereitschaft der Einzelnen abhängig, ihre Intelligenz der Organisation zur Verfügung zu stellen.  


Vierter Aspekt: Zukunft
Würde Planung nicht eine so entlastende Funktion für das Gehen im unbekannten Morgen darstellen, müsste man sie als das entlarven, was sie ist oder zumindest geworden ist: ein Ratespiel, eine wunderschöne Illusion, an die man so gerne glauben möchte, auch wenn die Realität uns mit anderen Erfahrungen konfrontiert. Muss sich das Unternehmen oder selbst nur ein Projekt in einer höchst dynamischen Umwelt bewähren - in einer Welt mit vielen Mitspielern, die nach kaum berechenbaren Strategien agieren und in der kaum eindeutige Muster erkennbar sind, wo jede Option mit einer anderen relativiert werden kann -, dann braucht das Unternehmen vor allem eines: eine spezifische Kompetenz von Beweglichkeit und Umsichtigkeit.  

Mitarbeiter einer O.N.N. handeln, weil es von ihnen erwartet und ihnen auch zugestanden wird, autonom und achtsam. Das Umfeld im Blick habend, das übergeordnete Ziel nicht aus dem Blick verlierend, erkennen sie Chancen, entscheiden im nicht zu engen Rahmen spontan, korrigieren Fehler - wer auch immer sie verursacht hat - rasch, warten nicht ab, ob sie Anweisungen für einen anderen Weg erhalten, sondern handeln eigenständig, klug und intuitiv. Es gibt einen einfachen Begriff dafür, der recht leicht über die Lippen geht, aber weitreichende Auswirkungen in der Steuerung von Unternehmen haben wird: Sie erkennen und nutzen die Situationspotenziale. Statt Ereignisse vorherzusehen, genügt es, deren potenzielle Auswirkungen einschätzen zu können. Es genügt, abschätzen zu können, was geschehen würde, wenn ein erfolgskritischer Prozessschritt durch irgendein Ereignis ausfällt. Wenn der kritische Geschäftsprozess die Luftfracht von A nach B ist, dann ist es unerheblich, ob der Luftraum wegen eines Vulkanausbruchs oder eines Lotsenstreiks lahmgelegt wird: Hat der Logistiker den potenziellen Stillstand eines seiner Kernprozesse frühzeitig antizipiert, kann er auf Alternativen zurückgreifen, die unabhängig sind vom Grund des Ausfalls.  


Fünfter Aspekt: Kultur
In der O.N.N. wird die Paradoxie von Vertrauen und Kontrolle bewusst genutzt und belebt, aber anders als bisher betrachtet und gewertet. Kontrolle wird nicht als Gegenpol verstanden, sondern als Qualität der aufmerksamen Beobachtung, als ergänzender Blick und Support. Das löst aber nur in einem Klima von Vertrauen keine Frustrationen aus. Dissonanzen und Erwartungsenttäuschungen sind erwünschte Indikatoren, denn sie machen deutlich, dass die Organisation ihre Überlebenschancen im Fokus hat. Daher sind die daraus entstehenden Konflikte nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Eine konstruktive Streitkultur steht nicht im Gegensatz zu Verbundenheit. Verbundenheit schafft einen Rahmen des Vertrauens, der es ermöglicht, Unterschiede erst in Beziehung aufeinander deutlich herauszuarbeiten und aus dem Spannungsfeld neue Erkenntnisse zu generieren. Unsicherheit wird zur Überlebensqualität und Quelle der Kreativität. Unsicherheit, nennen Sie es gerne Ungewissheit, öffnet den Vorhang zum "Es könnte auch anders richtig sein" und zum "Wir könnten Wichtiges nicht gesehen haben".  


Sechster Aspekt: Führung
Das Management in der O.N.N. hat nicht nur die Struktur, die Mitarbeiter, den Markt, die Kosten, den Profit, die Kundenreaktionen, sondern immer auch sich selbst im Blick. "Immer" meint tatsächlich, dass die Selbstbeobachtung stets mitläuft und nicht nur bei Klausuren, Mitarbeitergesprächen und Führungsaudits reflektiert wird, sondern ganz normal, nahezu ritualisiert zum Beispiel Teil der Agenda von Meetings ist. Nennen wir es das Kaizen oder den Kontinuierlichen Verbesserungsprozess der Führung. Das Management in einer Organisation N.N. entwickelt auch einen intelligenten Umgang mit der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen. Das heißt, es täuscht weder sich noch andere mit Gewissheiten, wo es keine hat, sondern setzt an dessen Stelle weiterführende Fragen und versorgt in periodischen Abständen die Organisation und sich selbst mit Außenperspektiven von Kunden, Beratern oder Querdenkern, um sehen und erkennen zu können, was bisher nicht gesehen und erkannt wurde. Das erleichtert eine dynamische Balance zwischen "Nutzen erfolgreicher Routinen und Erfahrungen" und dem "Suchen nach Neuem" und öffnet den Blick, welche Routinen bloß bremsende Wirkungen haben und wo diese Bremsen zu lockern sind oder welche neuen installiert werden müssen, wenn das Tempo zu risikoreich wird.


Vielfaches statt Einfaches


Bleibt abschließend die Frage: Kann man das alles auf einen Punkt bringen? Wir wären gerne der Verführung nachgekommen, diese komplexe Thematik, um sie einfacher jonglieren zu können, auf drei Aspekte zu reduzieren. Nichts gegen sinnvolle Vereinfachungen - nichts gegen die Kunst der Karikatur -, wir sagen nur, dass hinter dem Einfachen das Vielfache nicht verschwinden sollte, wenn Sie den ernsthaften Versuch unternehmen wollen, Ihre O.N.N. zu kreieren, denn genau dafür sollen die beschriebenen Aspekte ja Ihre Fantasie anregen.  



Zitate


"Es ist Zeit für einen neuen Typus von Organisation. Wir nennen sie die Organisation N.N." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Es ist nicht mehr möglich, anhand eines Merkmals, einer herausragenden Eigenschaft, einer typischen Struktur die Organisationen der nächsten Epochen treffend zu charakterisieren." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Sie können eine Organisation nicht wirklich gestalten. Sie können sich immer nur in Prozesse, in die Verknüpfungen von Handlungen, in Entscheidungsfolgen und in die Etikettenproduktion einmischen. Sie können intervenieren, versuchen, auf Entscheidungsprämissen Einfluss zu nehmen und Rahmenbedingungen festzulegen. Ob diese Ihre Handlungen dann Wirkung und den gewünschten Erfolg zeigen, stellt sich immer erst im Nachhinein heraus." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Führung - will sie wirklich wirksam sein - muss mehr denn je auf das vertrauen, was in der alten Hierarchie nicht vorgesehen war: die Selbstorganisation von verständnisvollen, intelligenten, verantwortungsbereiten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Damit Beobachtung Eingang in die täglichen Gespräche der Organisation - und zwar in Meetings und nicht nur in Teeküchen - findet, muss Beobachtung als aktive Handlung erkannt und anerkannt werden." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"WAS beobachtet WER WIE WANN? Es wird zur zentralen Führungsfunktion, zu beobachten, was mit diesen Beobachtungen geschieht, wie die Beobachtungen kommuniziert und gedeutet werden, zu welchen Entscheidungen, Aktionen und Handlungen dies führt und wie darüber wiederum geredet wird." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Selbst Kontrollfreaks fordern Selbstverantwortung und Selbststeuerung und hoffen, dass sich dadurch Wendigkeit, Wandelbarkeit und die richtige Flexibilität - was immer das dann im Einzelnen sein mag - wie von selbst einstellen mögen. Diesen Forderungen müssen nun Konsequenzen folgen." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Die O.N.N. verlässt sich nicht mehr alleine auf Struktur und klare funktionale Zuordnungen, sie nutzt vermehrt die Intelligenz, Aufmerksamkeit und Schnelligkeit der einzelnen Menschen und deren wechselnde interdisziplinäre Zusammenarbeit - eine Zusammenarbeit, die durch Führung gefördert, in die aber nicht unmittelbar eingegriffen wird. Gehören Sinn, Verbundenheit und Entwicklung zum Alltag von Führungskommunikation, dann wissen Mitarbeiter, worauf es ankommt, wenn man sie nur lässt." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

"Es geht um Selbstorganisationsfähigkeit, und die ist von der Bereitschaft der Einzelnen abhängig, ihre Intelligenz der Organisation zur Verfügung zu stellen." Herbert Schober-Ehmer, Uta-Barbara Vogel: N.N. Die Organisation der Zukunft

 

changeX 28.03.2013. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Herbert Schober-Ehmer
Schober-Ehmer

Herbert Schober-Ehmer ist Partner im Redmont Consulting Cluster und seit 40 Jahren als systemischer Organisationsberater und Coach von Topführungsteams und Topmanagern tätig (sowohl in Großorganisationen als auch in KMU und in Familienunternehmen). Schwerpunkte: Change-Prozesse, Entscheidungsprozesse, Kooperation und Konfliktmanagement.

Autorin

Uta-Barbara Vogel
Vogel

Uta-Barbara Vogel ist Diplom-Psychologin und Master Supervision, tätig in Coaching und Organisationsberatung, seit 1990 freiberuflich als Trainerin und Beraterin (sowohl in Non-Profit-Organisationen als auch in Großkonzernen und KMU). Schwerpunkte: Supervision und Reflexion beruflichen Handelns, Teamentwicklung, Konfliktberatung und Work-Life-Balance.

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