Profil individueller Kompetenzen

Ideen für Geflüchtete 5: der Profilpass
Text: Winfried Kretschmer

Die Aufnahme und Integration zahlreicher Geflüchteter verlangt neue Ideen, neue Lösungen und neue Wege. Kurz: soziale Innovationen. changeX hat begonnen, die besten Ideen zusammenzutragen. Folge 5: Der Profilpass bilanziert die Kompetenzen eines Menschen und kann fehlende formelle Qualifikationsnachweise ersetzen.

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Das Problem ist zunächst ein sehr allgemeines: Wissen, das außerhalb des formalen Bildungssystems erworben wurde, ist nicht sichtbar; es wird weder erfasst noch zertifiziert. In Deutschland und in anderen europäischen Staaten wird deshalb darüber diskutiert, wie Erfahrungswissen sichtbar und beruflich verwertbar gemacht werden kann. Denn die Orientierung an formellen Qualifikationen erschwert Menschen mit geringer Qualifikation einen Berufseinstieg und damit eine gesellschaftliche Teilhabe. Dieses allgemeine Problem stellt sich nun in der Flüchtlingsfrage verschärft. Denn häufig haben Geflüchtete keine oder nur lückenhafte Nachweise über erworbene Qualifikationen wie Zeugnisse, Urkunden oder Zertifikate. Dies ist zu einer mächtigen Hürde für ihre Integration geworden. Denn die läuft entscheidend über Arbeit.  


Die Idee, zunächst wieder allgemein umrissen: "Deutschland braucht dringend ein bundesweit verbindliches Anerkennungssystem für Kompetenzen, die non-formal oder informell erworben wurden." Zu diesem Schluss kommt die Bertelsmann Stiftung in einer Studie zum Thema. Ein solches System gibt es bereits: Der Profilpass ermöglicht es, alle Kompetenzen eines Menschen zu ermitteln und zu bilanzieren, egal ob sie auf formalem Wege oder informell erworben wurden.  


Konzept und Umsetzung: Der Profilpass kombiniert dabei eine schriftliche Dokumentation der erworbenen Kompetenzen in einem strukturierten Arbeitsordner mit einer individuellen Begleitung durch einen zertifizierten Berater. "Damit sollen jegliche formal, non-formal und informell erworbenen Kompetenzen des beruflichen und privaten Lebens ermittelt und bilanziert werden", sagt die Potenzialberaterin Christiane Ebrecht aus Taunusstein, die selbst als Beraterin für dieses Instrument zertifiziert ist. Der Prozess gliedert sich in vier Schritte: Im ersten geht es darum, einen Überblick über die bisherigen Lebensstationen festzuhalten, zweitens die damit verknüpften Tätigkeiten zu dokumentieren, drittens die erworbenen Kompetenzen zu bilanzieren und ein individuelles Kompetenzprofil zu erstellen und schließlich viertens, persönliche Ziele zu formulieren. Kompetenzen sind dabei breit definiert. Abgefragt werden Hobbys und Interessen ebenso wie Kompetenzen und Fertigkeiten, die in Haushalt und Familie, Schule, Berufsausbildung, Wehrdienst, Zivildienst, Freiwilligendienst, Praktika und Jobs im Arbeitsleben bis hin zu politischem, sozialem und ehrenamtlichem Engagement und in besonderen Lebenssituationen erworben wurden. Beim Ausfüllen des rund 100-seitigen Dokuments wie bei der Reflexion der eigenen Kompetenzen helfen professionelle zertifizierte Berater, die in Beratungszentren ausgebildet werden und sich alle zwei Jahre neu zertifizieren lassen müssen. Der Profilpass versteht sich dabei als Appell ans Selbstbewusstsein: "Verschaffen Sie sich Klarheit über Ihr Können und planen Sie dann weitere Schritte."  

Für Christiane Ebrecht schließt das Instrument eine Lücke auf dem Weg zu Integration: "Wenn Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt integriert werden sollen, müssen Arbeitgeber die Möglichkeit haben, deren berufliche Stationen und Kompetenzen beurteilen zu können." Verschiedene Firmen haben begonnen, die Kompetenzen mithilfe von strukturierten Kurzpraktika zu testen, so zum Beispiel die Deutsche Bahn, die im ICE-Ausbesserungswerk München einen entsprechenden Praxistest entwickelt hat. Geflüchtete, die im Herkunftsland eine Ausbildung zum Elektriker absolviert haben, erhalten dabei die Möglichkeit, anhand von praktischen Aufgaben ihre Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. Andere deutsche Konzerne gehen einen ähnlichen Weg. Eine standardisierte Kompetenzerfassung wie der Profilpass würde es erleichtern, das Können von Menschen, denen formelle Qualifikationsnachweise fehlen, einzuschätzen - und für sie einen geeigneten Ausbildungsplatz zu finden.  


Potenzial und Perspektiven: Christiane Ebrecht plädiert dann auch dafür, "dieses Instrument flächendeckend für die Flüchtlinge zu nutzen und damit den Arbeitgebern zu signalisieren: ,Diesen Pass könnt ihr anerkennen, wenn keine Zeugnisse oder Bescheinigungen vorliegen.‘" Das setzt allerdings ein entsprechendes politisches Signal voraus. Die Flüchtlingsfrage bietet die Chance, dieses Instrument in einem Feldversuch zu testen und Erfahrungen für die Lösung des grundlegenden Problems zu sammeln.  


changeX 20.11.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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