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Wohnen als Lebenskonzept

Ein Gespräch mit Detlef Gürtler über Wohnen in der Zukunft
Interview: Winfried Kretschmer

Wie werden wir in Zukunft wohnen? Klar ist: So wie heute nicht. Wohnen heute ist nicht zukunftsfähig. Es fehlt an Wohnraum, weltweit mehr noch als hierzulande. Wohnen ist zu teuer. Und unsere Form des Wohnens taugt nicht für alle Menschen auf dem Planeten: zu groß, zu hoher Ressourcenverbrauch und in der Energiebilanz katastrophal. Nicht zuletzt macht der Wandel der Lebensverhältnisse die alte universale Familienwohnung zum Modell von gestern. Wohnen wird sich in Zukunft unterschiedlichen Lebenskonzepten öffnen. Es wird dekonstruiert und zu flexiblen, anpassungsfähigen Modellen neu zusammengesetzt: Microliving.

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Mikroappartements haben sich zu einem Trend auf dem Immobiliensektor entwickelt: eine kleinteilige Wohnform meist in urbaner Lage, die aus ein bis zwei Räumen besteht und sich durch eine funktionelle Raumnutzung auszeichnet. Unsere Recherche zu Mikroappartements hat uns zu der GDI-Studie Microliving geführt. "Microliving" ist der Wohntrend hinter Mikroappartements: Wohnen auf kleinem Raum. Das Gottlieb Duttweiler Institute in Rüschlikon/Zürich hat sich in einer Studie mit diesem neuen Wohntrend beschäftigt. Detlef Gürtler, Mitautor der Studie, im Interview über Wohnen in der Zukunft. 

Detlef Gürtler, Journalist, Redakteur und Buchautor, ist Senior Researcher am GDI. Bis 2016 war er Chefredakteur des vom GDI herausgegebenen Magazins GDI Impuls.
 

Detlef, ich komme über das Thema Mikroappartements und würde gerne darüber einsteigen. Was versteht man unter Mikroappartements? 

Bei Mikroappartements ist das Wohnen auf ein Mindestmaß an Funktionen und Größe reduziert. In der Regel gibt es staatliche Vorgaben. So müssen in der Schweiz Mikroappartements beispielsweise 30 Quadratmeter groß sein. An der Ostküste der USA sind es 40, an der Westküste weniger als 30 Quadratmeter. In unseren Breiten gehört eine Heizung dazu, in Brasilien kann man hingegen keine Wohnung ohne Aircondition verkaufen oder vermieten. Die Frage, was man unter Mikro versteht, ist also kultur- und kontextspezifisch.
 

Was ist mit den Hauptfunktionen des Wohnens - Essen, Schlafen, Hygiene: Sind die bei einem Mikroappartement inkludiert? 

Das würde ich sagen, sonst ist man im Elendsquartier. Ein Mikroappartement braucht ein Bad oder eine Dusche, ein Klo, irgendeine Form von Küche, ein Bett, und es braucht eine Art Abgeschlossenheit. Man muss die Tür nach draußen zumachen können. Das steckt im Wort Appartement drin - apart, einzeln, gesondert. Alle weiteren Funktionen - Arbeiten, Lernen, Freunde treffen - sind möglich, aber nicht notwendig.
 

Wofür könnten Mikroappartements eine Lösung sein und für wen? 

Anbieter von Mikroappartements gehen davon aus, dass niemand freiwillig sein Leben lang in so einer kleinen Wohnung wohnt. Das Angebot konzentriert sich vor allem auf Studenten, die neu in der Stadt sind und nicht so viel Hausstand besitzen, und auf die mobilen Arbeitskräfte der digitalen Ära. Oder auch auf frisch Getrennte: Wenn deine Frau dich rauswirft und du noch hoffst, dass sie dich wieder zurücknimmt, kann ein Mikroappartement eine gute Lösung sein. Doch wenn du nach einem Jahr feststellst, oh nein, sie hat die Scheidung eingereicht, das wird nichts mehr, dann wirst du dir vermutlich eine andere Wohnform suchen.
 

Und was ist der Trend dahinter? Individualisierung? Singularisierung? 

Ich glaube, der wichtigste Trend dabei ist Mobilität. Menschen sind mobil, sie gehen für bestimmte Abschnitte ihres Lebens in andere Städte - zum Lernen, zum Arbeiten. Ich kenne niemanden, der in seiner Geburtsstadt in ein Mikroappartement ziehen würde, in der Fremde aber sehr wohl. Hinzu kommen Individualisierung - alles wird auf einen zugeschnitten - und Sozialisierung: Man bewegt sich in Netzwerken. Mikroappartements können beides ermöglichen. Sie bieten relativ kostengünstig einen individuellen Lebensraum. Und weil man dort nur kochen, schlafen, duschen kann, geht man für alles andere vor die Tür. Trifft seine Freunde im Café, wäscht seine Wäsche im Waschsalon. Das wird auch nicht als Zeichen der Armut gesehen, sondern eher als Zeichen von Reichtum. 

Für meine Mutter war der Tag, an dem sie ihre eigene Waschmaschine bekommen hat, immens wichtig. Ihre Mutter hatte keine, sie war die Erste in der langen Generationenfolge, die eine eigene besaß. Ihre Enkelin, also meine Tochter, hat sich einmal eine Waschmaschine angeschafft und wird es vermutlich nie wieder tun. Zu teuer, zu kompliziert, vor allem aber unnötig. Die Akzeptanz hat sich verändert. Dinge, die man früher gerne in der eigenen Wohnung gemacht hat, werden heute ins Außen verlagert.
 

Wo liegt der Unterschied zu Tiny Houses - ebenfalls ein Mikrowohntrend? 

Mikroappartements sind zum Wohnen da. Tiny Houses zum Träumen. Es geht um Zurückgezogenheit, Rückbesinnung auf den Ursprung, sich Beschränken auf das Wesentliche, also eine Kombination aus Rückzug und Downsizing. Beides ist etwas, was die wenigsten Leute wirklich können und was die wenigsten Leute wirklich wollen, aber wovon sehr viele träumen. Deswegen ist das für mich eine Art Eskapismus. Zum Glück. Denn eine Weltbevölkerung, die komplett in Tiny Houses wohnen würde, wäre aufgrund des Flächenverbrauchs eine Katastrophe. Mikroappartements sind deutlich ökologischer und verträglicher.
 

Der große Begriff, der im Raum steht: Microliving. Der Titel eurer GDI-Studie. Was versteht ihr darunter? 

Wir haben uns die Frage gestellt, ob sich der Grundansatz von Digitalisierung auf das Wohnen übertragen lässt: Alles lässt sich auseinandernehmen und wieder neu zusammensetzen. Von der Philosophie her ist man da bei den digitalen Nomaden. Sie bewegen sich von urbaner Metropole zu urbaner Metropole: eine Woche arbeiten in Zürich, eine Woche arbeiten in München, dazwischen zwei Tage bei der Familie in Leipzig. Ist es möglich, dass sie sich überall zu Hause zu fühlen? Lässt sich das Gefühl von Zuhausesein, von Vertrautheit, von Sicherheit loslösen von einer Immobilie, laut Duden einem unbeweglichen Besitz? 

Co-Working verfolgt diesen Ansatz bereits. Nehmen wir als Beispiel den weltweiten Anbieter WeWork. Als Mitglied kannst du dich genauso in Hamburg einmieten wie in Tokio oder New York - und du wirst dich überall wie zu Hause fühlen. Es ist die Atmosphäre, die einem dieses Gefühl gibt. Möbel, Teppiche, Licht, Musik, Duft. Im Bereich Branded Living, wie wir es nennen, oder Co-Living könnten auch digitale Assistenten eine wichtige Rolle spielen. Mit ihrer immer gleichen Stimme sorgen sie für ein vertrautes Gefühl, ganz gleich, wo man ist. Und wir fangen gerade erst an, Wohnen getrennt von der reinen Immobilie zu betrachten, quasi als Lebenskonzept.
 

Sehr spannend, Wohnen wird stückweise dekonstruiert, in seine Funktionsteile zerlegt? Kannst du darüber mehr erzählen? 

Wir gewöhnen uns allmählich daran, dass grundlegende Funktionen einer Wohnung ausgegliedert werden können. Nehmen wir zum Beispiel die Schlafkapseln an Flughäfen. Oder Wohnungen ohne Küche in Asien. Man muss Wasser kochen können und vielleicht Reis - alles andere holt man sich oder lässt sich liefern. Am spannendsten ist aber tatsächlich das Thema "Privatsphäre". Schon vor ein paar Jahren wollten wir für eine GDI-Studie wissen: Was macht eine Wohnung zum Privaten, zum Vertrauten?
 

Die Antwort 

In vielen Fällen sind es kleine Dinge: ein Kuscheltier, das auf dem Bett sitzt, ein Bilderrahmen mit einem Foto von den Eltern. Manche verbinden bestimmte Speisen mit Zuhause, wie zum Beispiel einen frisch gebackenen Apfelstrudel vom Bäcker um die Ecke. Auch das lässt sich fernab der Heimat realisieren - sei es durch tatsächlich analog produzierten Apfelstrudel oder als Projektion oder als Geruch. Ich weiß nicht, wie weit diese Entwicklung gehen wird, inwieweit man seine Heimat überallhin mitnehmen kann in seiner Filterblase - vermutlich stößt man da auch an physische Grenzen. Obgleich wir ja inzwischen gelernt haben: Physische Grenzen können leicht überwunden werden, wenn die Technologie so weit ist. Und wenn es dann auch noch bequem ist, seine Privatsphäre mitzunehmen, jeden Raum innerhalb von Sekunden als seinen privaten Raum sehen zu können, dann werden Menschen diese Technologie auch nutzen.
 

Zumal sich heute ja schon viele Dinge über die Cloud mitnehmen lassen, Beleuchtungsszenen zum Beispiel, Bilder, Musik oder die Heizungssteuerung. Der Schritt dahin, das Gefühl von Privatheit ebenfalls mitzunehmen beziehungsweise vor Ort über digitale Kanäle herzustellen, erscheint da gar nicht so riesig. 

Für Intellektuelle gab es eine Sache, die sie mit Zuhause verbunden haben: ihre Bücherwand. Ein großes Regal, auf dem nicht nur ein paar Reiseführer standen, sondern gefühlt das gesammelte Wissen unserer Welt. Inzwischen brauchen wir diese Bücherwand nicht mehr, Smartphone und WLAN-Anschluss haben sie abgelöst. Dennoch wird noch etwas Zeit vergehen, bis wir von "Das brauchen wir nicht mehr" zu "Das ist für mich kein Zeichen mehr von Zuhause" kommen werden. Es ist auch eine Frage der Generation. Meinen Kindern, die niemals eine Bücherwand hatten, wird es leichter fallen als mir.
 

Lass uns die Bücherwand durch die Schallplattensammlung ersetzen, und schon wird deutlich, wie schnell so was gehen kann. Früher gehörte die Schallplattensammlung beinahe zu jeder Wohnungseinrichtung dazu, heute ist sie eher etwas für Musikfreaks. 

Mein 17-jähriger Sohn kann dem schon etwas abgewinnen. Er hat vor vier Jahren seine erste Schallplatte gekauft, und inzwischen haben wir auch wieder einen Plattenspieler im Haus - in den 90er-Jahren ist er rausgeflogen, nun ist er zurück. So etwas kann immer passieren: Zu jedem Trend gibt es einen Gegentrend. Wenn Technologie etwas ersetzt, wird irgendwann jemand kommen, der genau das, was ersetzt wurde, wieder hochreißt als neues Statussymbol oder als neuen Kick. Deswegen kann man für unsere Generation noch sagen: Wir haben auf Besitz gesetzt als Statussymbol. Die nächste Generation wird auf Zugang setzen als Statussymbol. Ob dann die übernächste Generation wieder auf Besitz setzen wird oder auf etwas ganz anderes, weiß ich nicht. Einige der kollektiven Wohnformen, die wir heute als Trend sehen, entsprechen mehr oder weniger den Arbeiter-Mietskasernen im 19. Jahrhundert. Nur war es damals gezwungenermaßen, heute ist es schick. Manchmal wiederholt sich die Geschichte in einer ganz anderen Form.
 

Können wir dennoch die Bücherwand und die Schallplattensammlung als Beispiele sehen für digitale Dekonstruktion? 

Wir können das Wohnen einfacher machen, kleiner. Logischerweise nicht so klein wie Speicherchips, da spricht die menschliche Größe dagegen. Aber an diese physischen Grenzen kommen wir ran. Wenn Menschen die Wahl haben, entweder an einem Ort eine Wohnung mit 120 Quadratmetern zu haben oder an vier Orten der Welt je eine Wohnung mit 30 Quadratmetern - dann gibt es vermutlich einige, die sagen, das mit den vier Wohnungen überall in der Welt ist doch schick. Vorausgesetzt, ich fühle mich dort nicht wie in einem Hotel. Wie sich Heimat herstellen lässt im digitalen Zeitalter - da sind wir noch ganz am Anfang. Mein Spotify-Abo gibt mir nicht das gleiche Gefühl wie eine Schallplattensammlung. Das Heimatgefühl wird sich also an etwas Neuem aufhängen müssen. Mein best guess derzeit ist Alexa: eine digitale Assistentin, die überall schon auf mich wartet und überall die vertraute Umgebung herstellt. Es gibt Menschen, denen das bereits reicht.
 

Wie weit kann das gehen? Wie weit lässt sich diese Entwicklung treiben - zumindest gedanklich? 

Ich denke an einen Raum, und da ist nichts drin, nur nackte Betonwände. Von außen betrachtet sieht es aus, als legst du dich dort auf einen kalten Betonboden, aber für dich kann es sich warm und kuschlig anfühlen wie in deinem Bett. Sogar wenn es keine Heizung gibt, ist das technisch möglich - wenn deine Funktionskleidung oder ein Aura-Projektor oder was auch immer diese Wärme direkt am Körper produziert. Diese Vorstellung von einem Betonskelett, das wie Heimat rüberkommt - da bist du ein bisschen bei den furchtbaren Dystopien, bei Matrix oder beim futurologischen Kongress von Stanisław Lem, wo aller Luxus, den wir haben, nur imaginiert ist. Ganz so extrem glaube ich nicht, dass es wird. Aber in einigen Punkten wird es möglich sein, in einem Raum für ganz unterschiedliche Menschen Vertrautheit herzustellen.
 

Dahinter steht die Differenzierung zwischen Hardware und Software? 

Ja. Wohnen ohne Hardware geht nicht. Irgendeine Betonstruktur, einen Raum, eine Immobilie wird es geben. Die Funktion einer Toilette lässt sich schlicht nicht digitalisieren. Aber ein Großteil der übrigen Funktionen, die für uns mit Wohnen verbunden sind, ist theoretisch digitalisierbar. Keiner wird dauerhaft in solchen Betonskeletten mit imaginierten Wohnfunktionen wohnen wollen, also Wohnfunktionen, die analog gar nicht mehr da sind. Wobei sich die Frage, was wirklich da ist, ohnehin nur noch alte Menschen stellen werden, die an das Leben in einer einzigen, für alle gleichen Wirklichkeit gewöhnt sind. Der Pokémon-Go-Sommer von 2016 hat erstmals angedeutet, dass Augmented und Virtual Reality zu einer Individualisierung von Realität führen - und zur Auflösung des Konzepts einer "wirklichen" Wirklichkeit.
 

Noch ein Begriff aus der Studie: Platform Living - was versteht ihr unter Platform Living? 

Darunter verstehen wir den Versuch, Wohnfunktionen auf eine ähnliche Art und Weise anbieten zu können wie Uber Mobilität. Der gebräuchliche englische Begriff dafür ist "living as a service". Ich wohne irgendwo - und alles, was ich brauche, bekomme ich. Wenn ich meine Wäsche selber waschen will, bekomme ich eine Waschmaschine. Wenn ich meine Wäsche waschen lassen will, holt sie jemand ab und bringt sie mir gewaschen und gebügelt wieder. Wenn ich ein Rezept nachkochen möchte, werden mir alle Zutaten dafür geliefert. Wenn ich nicht kochen will, bekomme ich mein Wunschgericht ins Haus. Wenn ein Immobilienbesitzer all diese Services für seine Mieter organisiert, ist er auf dem Weg zum Plattformanbieter. Dann ist er derjenige, der die gesammelten Bestellungen verwaltet. Der mit Lieferanten zusammenarbeitet und die Aufträge verteilt. Und der am Ende den Profit einfährt. Das kann ein attraktives Geschäftsmodell sein. Richtig attraktiv wird es vermutlich erst, wenn man das Geschäft global aufzieht, wenn man quasi den WeWork-Ansatz auf Wohnimmobilien überträgt - WeWork ist so eine Art Plattform für Bürodienstleistung. 

Ein bisschen schaudert mich bei der Vorstellung. Wohnen ist doch etwas sehr Privates. Lässt sich das wirklich standardisieren? Aber ich vermute, dass es in diese Richtung gehen wird. Schon bald. Für mich liegt es in der Luft.
 

Wir haben jetzt sehr viel über Wohnen in der Zukunft gesprochen. Was ist das Alte? Haben wir überhaupt einen Begriff für Wohnungen, die alle Funktionen in sich vereinen? Sind das Komplettwohnungen, Universalwohnungen? 

Universal trifft es, glaube ich, am besten. In der analogen Welt ist es so, dass häufig alle Funktionen auf einmal erfüllt werden sollen. Das ist mit dem Begriff Familienwohnung gut abgedeckt: eine Wohnung für die ganze Familie. Die Universalwohnung für den Single sieht aber nicht wesentlich anders aus als die Mikrowohnung heute. Singles haben einfach viel weniger Bedürfnisse. In der Familie kommt alles zusammen. Mit dem Begriff der Familienwohnung kommt man dem Universalismus ziemlich nahe.
 

Was ist mit dem Reihenhaus, der Doppelhaushälfte, dem Einfamilienhaus am Stadtrand? Werden diese Häuser zur Durchgangswohnform für bestimmte Lebensphasen, mit Kindern beispielsweise? 

Das ist eine der Varianten, die möglich sind: das Reihenhaus mit Garten als Lebensabschnittswohnung. Ich habe das oft bei Bekannten erlebt. Spätestens wenn das zweite Kind da war, sind sie rausgezogen aufs Land. Weil sie mehr Platz zum Spielen wollten oder andere Kinder in der unmittelbaren Umgebung. Als die Kinder dann aus dem Haus waren, ging es zurück in die Stadt. Diese Familienphase dauert 20 Jahre - und dafür ist es eine plausible Variante, zumindest eine, die als Wohnkonzept vermarktbar wäre. Die Apokalyptiker sagen zwar, man müsste diese ganzen Reihenhaussiedlungen einebnen, da wolle keiner mehr hin. Aber ich denke, dass sich das Lebensabschnittseinfamilienhaus auch weiterhin vermarkten lässt. Auch als Gegenmodell zu den Innenstädten mit ihrer ungebremst hohen Anziehungskraft. Das Reihenhaus für Aussteiger. 

Die andere Variante stelle ich mir so vor wie eine Szene in einem Film der Beatles, in dem die Musiker vier nebeneinanderliegende Arbeiterhäuschen in eine Villa verwandelt haben. Die haben das Ding komplett entkernt und daraus eine riesige Spielwiese gemacht. Das kann ich mir für solche Vorortsiedlungen auch vorstellen, dein eigenes Imperium hinter der Fassade dieser alten 70er-Jahre-Reihenhäuser.
 

Haben wir in Bezug auf Wohnen und Microliving irgendetwas Wichtiges vergessen? 

Ja, die Ökologie. Den Trend zur Begrenzung: der Erde weniger zur Last fallen zu wollen. Fakt ist: Mikroappartements sind die ökologischste Form des Wohnens, weil viele Menschen auf relativ kompaktem Raum zusammen leben. Ein Mikroappartement braucht weniger Heizung pro Person, weniger Wasser, weniger Baumaterial, weniger Fläche. Außer natürlich, wir haben gleich vier oder fünf von diesen Mikroappartements in unterschiedlichen Kontinenten und jetten von München nach New York nach Moskau nach Addis Abeba nach Dubai. Dann ist es wieder schwierig. Sonst gilt aber: Wer der Umwelt etwas Gutes tun will, beschränkt sich auf das Mikroappartement, es ist deutlich ressourcenschonender als jedes Einfamilienhaus oder Tiny House.
 

Einfamilienhäuser gewinnen derzeit eine neue Funktion dazu, die des Kleinkraftwerks und des dezentralen Speichers für elektrische Energie. Ist das ein Zukunftstrend? 

Die Fotovoltaikanlage auf dem Dach des Einfamilienhauses ist mehr ökologische Fassade. Wenn wir 300 Appartements auf einem Raum haben und diese mit einem Blockheizkraftwerk, mit Solarpanels oder einer Solarfassade versorgen, dann ist das eine ökologische Nutzung, die sich rechnet. So lässt sich viel besser der Bedarf bündeln. Zugleich ist es berechenbarer und insbesondere ressourcenschonender. Eine dezentrale oder auf die jeweilige Wohneinheit heruntergebrochene Energieerzeugung wird vermutlich in verstärktem Maße kommen. Wie auch immer die ökologische Gesamtrechnung aussieht, ich glaube, ein Wohnblock ist ökologischer zu betreiben als jedes Einfamilienhaus, ganz gleich, ob groß, mittel oder tiny.
 

Zum Abschluss die Frage: Ist mikro der Trend beim Wohnen? 

Es ist in vielen Fällen der Notwendigkeit geschuldet, in Richtung mikro zu gehen. Die Mieten steigen in der Stadt und im Umland. Wir wollen Klimaziele erreichen. Insofern müssen wir Menschen auf weniger Platz unterbringen, Wohnen erschwinglich machen und den Ressourcenverbrauch herunterfahren. Aber Menschen lassen sich ungern zwingen. Deswegen wäre es eine Lösung, das, was notwendig ist, cool zu machen. Wir hatten das nach der Finanzkrise in den USA, als sich viele Leute ihre Herrenhäuser in den Vororten nicht mehr leisten konnten. Damals hieß der Trend: Zurück in die Stadt! Entdecke das kreative Miteinander! Seattle war dabei Vorbild, und Richard Florida schrieb mit The Rise of the Creative Class das Leitbuch dazu. Je besser es klappt, das Notwendige als cool zu verkaufen, desto besser für uns, für die Umwelt. Nur: Was ist cool? Das lässt sich nicht so leicht festmachen.
 

Das Interview haben wir telefonisch geführt. Transkription: Ute Wielandt, redaktionelle Bearbeitung: Heike Littger 


Zitate


"Mikroappartements sind zum Wohnen da. Tiny Houses zum Träumen." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Eine Weltbevölkerung, die komplett in Tiny Houses wohnen würde, wäre aufgrund des Flächenverbrauchs eine Katastrophe. Mikroappartements sind deutlich ökologischer und verträglicher." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Lässt sich das Gefühl von Zuhausesein, von Vertrautheit, von Sicherheit loslösen von einer Immobilie, laut Duden einem unbeweglichen Besitz?" Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Wir fangen gerade erst an, Wohnen getrennt von der reinen Immobilie zu betrachten, quasi als Lebenskonzept." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Was macht eine Wohnung zum Privaten, zum Vertrauten?" Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Wir haben auf Besitz gesetzt als Statussymbol. Die nächste Generation wird auf Zugang setzen als Statussymbol." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"In der analogen Welt ist es so, dass häufig alle Funktionen auf einmal erfüllt werden sollen." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Mikroappartements sind die ökologischste Form des Wohnens, weil viele Menschen auf relativ kompaktem Raum zusammenleben." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Ein Mikroappartement braucht weniger Heizung pro Person, weniger Wasser, weniger Baumaterial, weniger Fläche. Mikroappartements sind damit deutlich ressourcenschonender als jedes Einfamilienhaus oder Tiny House." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Ein Wohnblock ist ökologischer zu betreiben als jedes Einfamilienhaus, ganz gleich, ob groß, mittel oder tiny." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Mikroappartements bieten relativ kostengünstig einen individuellen Lebensraum." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

"Das Mikroappartement ist deutlich ressourcenschonender als jedes Einfamilienhaus oder Tiny House." Detlef Gürtler: Wohnen als Lebenskonzept

 

changeX 07.05.2019. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Microliving. Urbanes Wohnen im 21. Jahrhundert. Studie des GDI Gottlieb Duttweiler Institute, Rüschlikon/Zürich 2018, 50 Seiten

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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