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Raus aus dem Tief

Ein Paradigmenwechsel in der Führungskultur bahnt sich an - ein Gespräch mit Peter Kruse
Interview: Winfried Kretschmer

Wie wir im Moment arbeiten, so geht es nicht weiter. Die Linienhierarchie und das klassische kennzahlengesteuerte Management sind nicht mehr zeitgemäß. Ja, das derzeitige Führungsmodell gefährdet den Standort Deutschland. Das sagen nicht irgendwelche Business-Radikale. So denkt die überwiegende Mehrheit der Führungskräfte in Deutschland. Besagt eine Studie. Sie zeigt: Die Führungskultur in Deutschland befindet sich im Umbruch.

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"Die Chancen für grundlegendes Umdenken sind gut." Sagt Peter Kruse. Und umreißt in unserem Interview einen grundlegenden Wandel im Führungsverständnis in Deutschland. 

Prof. Dr. Peter Kruse ist Gründer und Ideengeber des Beratungsunternehmens nextpractice in Bremen. Er widmet sich vor allem der Analyse von Veränderungen in Markt und Gesellschaft sowie deren Umsetzung in nachhaltig erfolgreiches unternehmerisches Handeln.
 

Herr Kruse, Sie haben sich in mehreren Studien mit Führung beschäftigt, sowohl mit der Sicht der Mitarbeiter als auch mit der der Führungskräfte. Legt man die Ergebnisse übereinander, scheint sich ein einheitliches Muster zu zeigen: ein Hinweis auf einen Paradigmenwechsel. Ist das richtig interpretiert? 

Ja, das ist richtig: Nicht nur die überwältigende Mehrheit der Führungskräfte, sondern auch 85 Prozent der Mitarbeiter halten einen Paradigmenwechsel der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, für absolut erforderlich. Auf Mitarbeiterseite gibt es massive Kritik an der Arbeitssituation. Die Verdichtung von Arbeit, die in den letzten zwei Jahrzehnten unter der Maxime von Shareholder-Value, Effizienzoptimierung und dem Streben, mit minimalen Kosten höchstmöglichen Profit zu erzeugen, erreicht worden ist, hat eine sehr herausfordernde, druckvolle Situation erzeugt. Burnout ist nicht per Zufall zum Modewort geworden. Ein großer Teil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sagt heute: So geht es nicht weiter, wir müssen grundlegend etwas ändern. Da steht besonders die soziale Frage im Raum. Neudefinition gesellschaftlicher Solidarität wird angemahnt. Die Beschäftigten üben deutliche Systemkritik.  

Auch von den befragten 400 Führungskräften sagen 77 Prozent intuitiv: So, wie wir im Moment arbeiten, geht es nicht weiter; die Linienhierarchie und das klassische kennzahlengesteuerte Management sind nicht mehr zeitgemäß; ja sogar, das aktuelle Führungsmodell gefährdet den Standort Deutschland. Dass auch die Führungskräfte in der überwiegenden Mehrheit einen Paradigmenwechsel fordern, hat mich schon verblüfft. Auf Mitarbeiterseite steht das Spannungsverhältnis von Forderung versus Überforderung im Vordergrund. Auf Führungsseite geht es dagegen mehr um das Thema der eigenen Identität als Führungskraft.
 

Die Irritation ist auf Mitarbeiterseite also noch höher. Offenbar gibt es eine klare Spaltung in Optimisten und Pessimisten?  

Ja, bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es subjektiv eine Trennung in Gewinner und Verlierer. Inzwischen zeigen 54 Prozent deutliche Anzeichen von Resignation. Aber genau besehen, und das ist das Interessante, sind diese Resignierten gar nicht - wie schnell zu erwarten - kritisch gegenüber ihren Führungskräften, sondern sie sagen, dass die Führung einfach genau das macht, was das System verlangt. Die Kritik der Mitarbeiter richtet sich also eigentlich gegen das wirtschaftliche System, die ausufernde Renditeorientierung und die daraus resultierende Fokussierung auf Effizienz.
 

Und die Führungskräfte? 

Sie sagen zwar auch, dass etwas am System nicht stimmt, zeigen aber gleichzeitig eine starke Tendenz zum Heroismus. Ihre Schlussfolgerung ist: Ich muss mich als Führungskraft noch mehr perfektionieren. In der schwierigen Sandwichposition, in der Führungskräfte sind - auf der einen Seite fordern die Shareholder gute Rendite und auf der anderen die Menschen gute Arbeitsbedingungen -, fühlen sie sich unter einem kaum zu bewältigenden Druck. Sie sagen, wir müssen uns ändern, aber die Notwendigkeit, Kapitalrendite zu erzeugen, behindert die eigentlich notwendige Neuorientierung im Verständnis von "guter Führung". Deshalb springen sie als Person in die Bresche und wollen eine Art multiple Superpersönlichkeit werden, die es schafft, doch noch allen Anforderungen gerecht zu werden.
 

Im Grunde sind die Mitarbeiter realistischer, wenn sie die Führung als abhängig von den Systembedingungen sehen und nicht die Dynamik von Organisationen als System ausblenden. 

Ja. Wir stehen vor einer gesamtgesellschaftlichen Frage und nicht vor einem individuell zu klärenden Problem. Wir haben eine Situation erzeugt, in der man nur mit einer weiteren Steigerung der Leistungsbereitschaft des Einzelnen nicht mehr weiterkommt. Die Idee der Vermeidung von Burnout über Sinnstiftung greift zu kurz. Inzwischen ist den meisten Leuten in unseren Interviews bewusst, dass auch die Zündung einer nächsten Motivationsstufe keine dauerhafte Entlastung bringen wird.  

Wir haben das Leistungsprinzip in den vergangenen Jahren überreizt und viel zu kurzfristige Lösungen angestrebt. Eigentlich haben wir so weitergemacht wie vorher: mehr desselben! Aber das bestehende System einfach weiter unter Dampf zu setzen, ist kein angemessener Umgang mit den Grundproblemen einer alternden Gesellschaft. Wir brauchen nachhaltigere Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit: Wie erhalten wir unsere Innovationskraft, um im internationalen Wettbewerb weiter bestehen zu können? Wo wandert das Kapital hin? Wie gehen wir mit der Ungleichverteilung gesellschaftlichen Reichtums um? Wie halten wir es mit der sozialen Verantwortung? In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
 

Wie sind diese Ergebnisse zustande gekommen? 

Seit 2009 haben wir in mehreren Studien insgesamt circa 1.400 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und als Teilgruppe davon circa 400 Führungskräfte durch ein aufwendiges qualitativ-quantitatives Interviewverfahren geschleust. Diese Tiefeninterviews sind darauf angelegt, unbewusste Bewertungen sichtbar zu machen. Man antwortet nicht rational wie bei einem standardisierten Fragebogen, sondern die Interviewpartner erzeugen ohne die Möglichkeit einer bewussten Beeinflussung komplexe Bedeutungsräume auf der Basis ihrer eigenen Sprache. In diesen Bedeutungsräumen werden vorgegebene Vergleichselemente so verortet, dass sie ein mathematisches Beziehungsmuster zueinander bilden. Durch Aggregation der Muster entsteht ein quantitativ auswertbares Gesamtbild der qualitativ erhobenen Teilperspektiven. Es geht dabei nicht um statistische Repräsentativität, sondern um das Verstehen kultureller Zusammenhänge.
 

Wie stark gibt das, was Sie hier erzählen, die tatsächliche Wahrnehmung der Führungskräfte wieder? Oder wie hoch ist der interpretierende Anteil? 

Die Grundlage bildet eine sehr große Menge an ungestützt erhobenen Einzelaussagen. Bei den 1.400 Tiefeninterviews waren es über 17.000 frei formulierte Beschreibungen. Diese Einzelaussagen werden zu Themenschwerpunkten verdichtet. Wenn also beispielsweise in dem Bedeutungsraum der 400 Führungskräfte, die wir im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales befragt haben, oben der Begriff "Vernetzung" steht, dann nicht, weil wir das gerne dort sehen würden, sondern weil die Interviewten viele Anmerkungen gemacht haben, die sich mit dem Thema "Vernetzung" beschäftigen. Insofern ist die zusammenfassende Bezeichnung, unter der die Einzelaussagen verdichtet werden, zwar immer das Ergebnis eines Deutungsprozesses, aber begründet durch eine Menge von kontextgebundenen Originalzitaten. So verdichtet der Titel "Intelligenz eigendynamischer Netzwerke moderieren" elf Prozent der von den 400 Führungskräften gemachten 4.636 freien Nennungen und beinhaltet Aussagen wie "Anerkennung der Potenziale kreativer Vernetzungen", "jeder kann sich mit jedem austauschen", "Führung nutzt kollektive Intelligenz", "dynamische Steuerung", "Führungskraft steuert Rahmenbedingungen" oder Stichworte wie "Vernetzung", "Partizipation", "Diskurs".
 

Und je größer ein Begriff in der Darstellung ausfällt, umso öfter wurde etwas in diese Richtung assoziiert? 

Ja, es ergibt sich eine Art "semantische Tag-Cloud".
 

Wenn man sich diese Tag-Cloud anschaut, zeigt sich eine sehr klare Struktur. Man hat quasi das Bild einer "kulturellen Großwetterlage", wie Sie das nennen: unten ein "Tiefdruckgebiet" mit negativ bewerteten Themen - Mikromanagement, Vorgaben, Planbarkeit, Normierung - und darüber ein "Hochdruckgebiet" positiv bewerteter Begriffe - Ergebnisoffenheit, Transparenz, Kooperation. Diese klare Zweiteilung kann man auch wieder als Hinweis auf einen Paradigmenwechsel werten.  

Ich finde es faszinierend, dass Sie eine Wetterkartenmetapher heranziehen, denn das ist tatsächlich ganz nahe dran an dem, wie die Analyse funktioniert. Um die Wetterdynamik von Deutschland abzubilden, reichen 200 Messstationen, die die Verteilung der Feldkräfte von Hoch- und Tiefdruckgebieten erfassen. Genauso ist es hier: Eine Stichprobe von 400 Führungskräften ist zwar nicht repräsentativ im Hinblick auf die individuelle Präferenzverteilung, aber sie erlaubt eine Analyse der kulturellen Gesamtdynamik, die die Menschen im sozialen System miteinander erzeugen. Die Führungskräfte beschreiben intuitiv ein Ordnungsmuster, und zwar als Gruppe, nicht als Einzelperson. Manche sind noch im alten Modell, andere sind schon ganz woanders. Als Kraftfeld bildet das Ordnungsmuster tatsächlich die "kulturelle Großwetterlage" ab. Es ist das von der Gruppe unbewusst erzeugte Bild der Gesamtdynamik der aktuell wirksamen Führungskultur in Deutschland.
 

Momentan haben wir meteorologisch eine Wetterlage mit extrem hohen Turbulenzen, 15 Grad an einem Tag, Schnee am anderen. Kann man diese Unkalkulierbarkeit, diese Wetterwendigkeit, auch als Metapher für die Großwetterlage beim Führungsthema verwenden? 

Kann man. Im grünen Feld der angestrebten Themen finden sich im zentralen Wertekorridor die Aspekte "Ergebnisoffenheit" und "iterativ testende Agilität". Das ist eine unmittelbare Konsequenz der Tatsache, dass wir uns heute in einer global hoch vernetzten Marktsituation befinden: volatile (V), uncertain (U), complex (C) und ambiguous (A). Diese VUCA-Welt ist eine Beschreibung der Ist-Situation. Nichtlinearitäten sind zur absoluten Selbstverständlichkeit geworden. Geschäftsmodelle werden durcheinandergewirbelt und über den Haufen geworfen; auf einmal sind sie weg, und etwas ganz anderes ist da. Das gilt generell. Wir leben in disruptiven Zeiten, wo ganz plötzlich und unvorhersehbar neue Dinge entstehen können. Alle stabilisierenden, konzeptgebundenen Planungsprozesse erweisen sich als zu langsam, um angemessen reagieren zu können. Wir gehen ja immer gerne deduktiv vor, versuchen alles aus einem gesicherten theoretischen Hintergrund abzuleiten - und müssen uns nun plötzlich darauf einlassen, dass die Erfolgsstrategien von morgen eher induktiv sein müssen. Die Herausforderung liegt darin, in der eigenen Handlungsorganisation mit der Veränderungsdynamik der Welt Schritt zu halten.
 

Was heißt das konkret? 

Das heißt, dass ein Begriff wie Achtsamkeit auf eine völlig neue Art an Bedeutung gewinnt und Einfühlungsvermögen unglaublich wichtig wird, um den Kontakt zur Wirklichkeit nicht zu verlieren. Ohne Empathie haben wir keine Chance, die Zusammenhänge zu erkennen. Und wenn wir die Zusammenhänge nicht erkennen, sind wir nicht in der Lage, Komplexität zu reduzieren. An die Stelle gesicherter Theoriebildung tritt ein radikal induktiv heuristisches Vorgehen. Wir haben eine unbedingte Notwendigkeit, uns offen, wahrnehmend, lernbereit, achtsam und empathisch auf ergebnisoffene Prozesse einzulassen. Nur so können wir rechtzeitig die sich bildenden Zusammenhänge erfassen und für das eigene Handeln nutzbar machen. Nur mit einer maximalen Agilität bei der Einsicht in die Dynamik der Welt kann Nutzen und Risiko noch einigermaßen balanciert werden. Wir segeln auf Sicht und sollten jeden Rückenwind nutzen, der sich bietet. Reduktion von Komplexität wird zur zentralen Aufgabe von Führung, und ohne Einsicht in Zusammenhänge geht es nicht. Deshalb sage ich: Leute, hört auf, zu steuern und zu regeln, sondern macht euch zum relevanten Wahrnehmungsorgan für die Veränderungen in eurer eigenen Kultur und für die Dynamik in den Märkten! Wir brauchen keine fertigen Konzepte und keine klugen Pläne, sondern maximale Fähigkeit im Umgang mit dem nicht Vorhersagbaren.
 

Und dieser Wandel zeichnet sich ab? 

Ja, der zeichnet sich in den Köpfen ab.
 

Aber weil er sich noch nicht ganz klar herauskristallisiert hat, führt er zu Unsicherheit, zu Unklarheit? 

Gegenwärtig arbeiten verschiedene Kräfte gegeneinander. Das Kapital hat natürlich immer noch das Bedürfnis, seine Rendite zu sichern. Renditeerwartungen bewegen sich ja manchmal im zweistelligen Bereich. Und man wird positiv bewertet, wenn man etwas planvoll mit Vorhersage ins Ziel bringt. Das heißt, die Bewertungskriterien für Führung haben nichts mehr mit der von den Führungskräften intuitiv wahrgenommenen Realität zu tun.
 

Nach Thomas S. Kuhn ist es ein Zeichen für einen Paradigmenwechsel, wenn das alte Paradigma immer weniger in der Lage ist, die Probleme, die auftretenden Anomalien zu lösen. Das äußert sich in dem Gefühl, dass "irgendetwas nicht in Ordnung ist". Diesem Gefühl begegnet man heute allerorten. 

Symptomatisch ist, dass das alte Paradigma versucht, Anomalien durch eine Erweiterung der Komplexität in der Theoriebildung einzufangen. Das ist immer ein Signal für einen kommenden Paradigmenwechsel. Als Beispiel kann hier dienen, dass gegenwärtig bei den Milieu-Ansätzen in der Marktforschung Milieus eingeführt werden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht mehr den bislang stabilen Wertemustern folgen. So wird die Anomalie im Modell eingefangen, um das alte Modell aufrechtzuerhalten. Der Preis, der dafür bezahlt wird, ist eine weiter steigende Komplexität und eine Abnahme der Prognosekraft. Irgendwann muss dann unvermeidlich Ockhams Rasiermesser zum Zug kommen: Von mehreren möglichen Erklärungen desselben Sachverhalts, ist die Einfachste allen anderen vorzuziehen. Paradigmenwechsel lassen sich verzögern, aber auf Dauer nicht aufhalten, wenn sich die Rahmenbedingungen bereits grundlegend geändert haben.
 

Diese Beobachtung, dass irgendetwas nicht stimmt, begegnet einem mittlerweile in fast jedem Buch über Managementthemen. 

Ja. Mich überrascht die Irritation immer, weil wir schon seit 15 Jahren den Leuten klarzumachen versuchen, dass die Explosion der Vernetzungsdichte in der Welt mit zunehmenden Nichtlinearitäten einhergeht. Ich habe mir den Mund fransig geredet und habe doch oft auf Granit gebissen. Die Reaktion war: Nun ja, es funktioniert doch noch, also machen wir weiter so. Das ist wirklich witzig: Man fährt jahrelang in eine Richtung, von der man erahnen kann, dass sie nicht dauerhaft beizubehalten ist. Aber die eigene Massenträgheit ist so groß, dass selbst eine Mauer, auf die man zurast, anscheinend nicht davon abhält, einfach weiterzufahren.
 

Und wie stellt sich die Entwicklung von Management den Führungskräften rückblickend dar? 

Hochinteressant ist, wie klar die Führungskräfte den Entwicklungsweg sehen: In den 50er-Jahren galt das Modell der starken Persönlichkeit, einer mehr oder weniger väterlichen Figur, die für Mitarbeiter mit maximaler Verantwortungsübernahme gute Rahmenbedingungen erzeugt und dafür Loyalität eingefordert hat. Man hat Sicherheit gegeben und zuverlässige Pflichterfüllung bekommen. Das war das Modell in den 50ern, 60ern, 70ern und sogar bis in die 80er-Jahre.  

Dann gab es einen großen Sprung in Richtung effiziente Zielerreichung, ein neues Modell: kennzahlengesteuert, die klassische Form von Management by Objectives, alles sehr professionell. Doch dann hat auch dieses Modell seinen Grenznutzen erreicht. So stellt sich das zumindest in der Roadmap, die intuitiv von den Führungskräften entfaltet wird, dar. Ausgehend davon entwickelt sich das Modell ab den 90ern bis heute in Richtung auf kooperative Teamarbeit: Führung gibt Rahmenbedingungen für zahlenmäßig überschaubare Teamkonstellationen vor und lässt den Teams viel Freiheit beim Arbeiten.  

Auf die kooperative Teamarbeit folgt ein interessanter Wendepunkt, der in der Wahrnehmung der Führungskräfte fast ohne Kritik ist: Es entsteht ein Konzept von iterativ testender Agilität. Da sind wir bei einer Art Segeln auf Sicht, wobei Verfahren wie Scrum oder Design Thinking eine Rolle spielen. Man sagt: Wir müssen situativ arbeiten, dieses Steuern und Regeln, das wir jahrelang praktiziert haben, funktioniert nicht mehr, denn die Rahmenbedingungen ändern sich zu schnell. Meine planenden Anpassungsprozesse sind langsamer als die Veränderungsdynamik der Wirklichkeit. Um darauf zu antworten, muss ich meine Vorhersagen aufgeben und mich mit Achtsamkeit, Aufmerksamkeit und wacher Lernbereitschaft schrittweise in Situationen vorwärtstasten.  

Und dann geht es von der Teamarbeit und iterativ testender Agilität in die offensive Bildung selbstorganisierender Netzwerke: Vom Team mit einer klaren Identität führt die Entwicklung in die eigendynamische und nicht mehr kontrollierbare Vernetzung. Dies birgt immer die Gefahr, Selbstorganisation im Sinne eines relativ diffusen "Wir" misszuverstehen, wo sich alles von alleine löst. Gemeint ist nicht eine solche diffuse Heilserwartung an die Wirkung kollektiver Intelligenz, sondern eine intelligente Form, Vernetzung zu nutzen: leistungsorientiert, professionell, mit iterativen Vorgehensweisen.  

Interessanterweise folgt in der Vorstellungswelt der Führungskräfte auf die dynamische Vernetzung im nächsten Schritt die solidarische Integration. Das Modell wechselt von Shareholder zu Stakeholder. Man sagt: Wenn wir in diese dynamische Vernetzung gehen, dann bekommen wir das gesellschaftliche Problem der solidarischen Gegenbalance. Denn Netzwerke sind nicht sehr fürsorglich, sondern sie erhöhen noch mal die Dynamik. Also müssen wir uns mit dem Gesellschaftlichen auseinandersetzen, sonst gleitet das ab in eine noch kältere Wettbewerbsorientierung. Und weil die Mitarbeiter dies spüren, entsteht dieses Gewinner-Verlierer-Syndrom. Ungefähr die Hälfte sagt: In dieser Welt der dynamischen Vernetzung fühle ich mich wohl, dafür fühle ich mich gerüstet, das kann ich. Die andere Hälfte sagt: Weder mein Einkommen noch meine Ausbildung machen mich wirklich stark für eine solche dauernde Wettbewerbssituation, wie sie in Netzen stattfindet.
 

Sie haben vorhin deutlich gemacht, dass es nicht nur um einen kleinen Shift im Führungsmodell geht, sondern um einen Paradigmenwechsel von gesamtgesellschaftlicher Dimension. Wie kann es weitergehen? 

Es geht darum, das Neue diskursiv zu erfinden: What’s next? Welche Werte wollen wir realisieren? Was wollen wir als Lebensqualität definieren? Welche Form von Führung macht heute noch Sinn? Natürlich gibt es Ansätze, auf die man zurückgreifen kann, etwa Design Thinking mit seinem iterativen Vorgehen als professionelle Alternative zur planvollen Steuerung. Es geht um eine neue Form der gemeinschaftlichen Professionalisierung. Wir haben jahrelang Management perfektioniert, wir haben gute Systeme erzeugt, um mit maximaler Sicherheit vom Ist zum Soll zu kommen, immer mit der Unterstellung der Stabilität und der Planbarkeit. Jetzt geht es nicht mehr um die Professionalisierung von Management, sondern um die Professionalisierung von Unternehmertum. Unternehmertum hatte schon immer diese instabile Komponente. Ein Unternehmer ist jemand, der mit Achtsamkeit und Intuition Marktdynamik aufgreift, seine Wette setzt und sich einlässt auf nicht planbare Prozesse. Die gemeinschaftliche Suche nach dem Neuen sollten wir sehr ernst nehmen und uns wirklich intensiv austauschen. Wir kommen um diesen Diskurs in der Gesellschaft nicht herum.
 

Und in gesellschaftlicher Dimension? 

Und wir brauchen tragfähige Antworten auf die Frage, wie wir mit der Ungleichverteilung von Kapital umgehen wollen. Wenn man sich die Lorenz-Kurve anschaut, sind wir mittlerweile wieder bei einer Vermögensverteilung wie vor dem Ersten Weltkrieg. Ein unglaublich reiches Land hat die Verteilung seines Reichtums schlecht im Griff. Das wird uns auf die Füße fallen, weil die Mitte inzwischen massiv angegriffen ist und die stabilisierenden Bereiche der Gesellschaft wegschmelzen. Daran gilt es zu arbeiten. Die Haltung der Politik, die Situation möglichst diffus zu halten, um mit der Instabilität noch klarzukommen, kann nicht mehr lange gut gehen. Politik muss sich dem Diskurs öffnen. Den anstehenden Paradigmenwechsel kriegt man nicht mehr top-down geregelt. Oder um es mit Einstein zu sagen: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
 

Wie optimistisch sind Sie, dass sich tatsächlich ein Paradigmenwechsel in der Führung vollzieht? 

Sehr optimistisch. Laut unseren Interviews - wie gesagt ist das keine statistisch repräsentative Stichprobe, aber bezogen auf das kulturelle Kraftfeld durchaus aussagekräftig - liegt bei den Führungskräften die Präferenz für das klassische effizienzgetriebene Modell, das Steuern nach Zahlen, nur noch bei rund 29 Prozent. Die Präferenz für die Stimulation von Netzwerkdynamik liegt bei 24 Prozent - aber auf den Topetagen wird die Netzwerkorganisation bereits favorisiert. Die Führungskräfte gehen immer mehr in kooperative Modelle. Sie merken, dass sie Lösungen nicht mehr in rein wettbewerblichen Strategien finden können. Adäquate Lösungen sind immer nur kooperativ zu haben - "Ich gegen die Welt", das funktioniert nicht mehr. So gibt es viele Hinweise darauf, dass sich hier tatsächlich ein "Mindset" ändert. Das heißt: Die Chancen für grundlegendes Umdenken sind gut. Das lässt mich für die Zukunft hoffen.
 

Und wo stehen wir? 

Das Gesamtsystem ist noch im Übergang. Es ist unklar, wohin die Reise letztendlich gehen wird. Das Einzige, was man sicher sagen kann, ist: Ein Zurück in alte Modelle kann vielleicht bei dem einen oder anderen noch für einige Zeit als Wunschvorstellung überleben, aber die Wirklichkeit in den Unternehmen und in der Gesellschaft wird sich auf Dauer nicht gegen die neuen Herausforderungen verschließen können: Und bist du nicht willig, so brauch ich Geduld.
 


Zitate


"Nicht nur die überwältigende Mehrheit der Führungskräfte, sondern auch 85 Prozent der Mitarbeiter halten einen Paradigmenwechsel der Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten, für absolut erforderlich." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Ohne Empathie haben wir keine Chance, die Zusammenhänge zu erkennen." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Wir haben eine unbedingte Notwendigkeit, uns offen, wahrnehmend, lernbereit, achtsam und empathisch auf ergebnisoffene Prozesse einzulassen." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Leute, hört auf, zu steuern und zu regeln, sondern macht euch zum relevanten Wahrnehmungsorgan für die Veränderungen in eurer eigenen Kultur und für die Dynamik in den Märkten! Wir brauchen keine fertigen Konzepte und keine klugen Pläne, sondern maximale Fähigkeit im Umgang mit dem nicht Vorhersagbaren." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Die Bewertungskriterien für Führung haben nichts mehr mit der von den Führungskräften intuitiv wahrgenommenen Realität zu tun." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Ein Unternehmer ist jemand, der mit Achtsamkeit und Intuition Marktdynamik aufgreift, seine Wette setzt und sich einlässt auf nicht planbare Prozesse." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

"Adäquate Lösungen sind immer nur kooperativ zu haben - ,Ich gegen die Welt‘, das funktioniert nicht mehr." Peter Kruse: Raus aus dem Tief

 

changeX 21.01.2015. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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