Logik der experimentellen Annäherung

"Wir müssen mit der Überforderung tanzen lernen" - ein Gespräch mit Hans A. Wüthrich
Interview: Winfried Kretschmer

Das Dilemma der Führung ist, dass die Referenzen verloren gegangen sind, die Bezugspunkte sicheren Handelns. Alles im Griff haben zu wollen führt in die Überforderung, und die tradierte Managementlehre mit erprobten Lösungsroutinen und Best Practices greift nicht mehr, wo Ungewissheit herrscht. In dieser Lage neue Souveränität zu gewinnen heißt, mit den alten Mustern zu brechen. Und neue Wege zu gehen: experimentieren, ausprobieren, in kurzen Zyklen lernen, viable Lösungen suchen - passende, brauchbare statt der vermeintlich perfekten. Kurz: Der Logik der experimentellen Annäherung folgen.

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"Unsere Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster sind so stabil, dass sie uns nicht mehr erlauben, radikal andere Lösungen zu sehen." Sagt Hans A. Wüthrich. Solche Muster zu durchbrechen, hat er zu seiner Lebensaufgabe gemacht. 

Als Professor forscht und lehrt Hans A. Wüthrich an der Universität der Bundeswehr in München. Er coacht und berät Führungskräfte und Führungsgremien und gilt als profiliertester Querdenker und Musterbrecher. Zusammen mit Stefan Kaduk und Dirk Osmetz hat Wüthrich den Musterbrecher-Ansatz entwickelt, um den notwendigen Wandel im Managementdenken auf den Begriff zu bringen. Das gleichnamige Buch ist 2006 und in einer aktualisierten Ausgabe 2013 auf den Markt gekommen. Auch Wüthrichs Buch (als Co-Autor) Die Rückkehr des Hofnarren erlebte eine Neuausgabe. Sein neues Buch Capriccio ist Anfang 2020 bei Versus und Vahlen erschienen.
 

Herr Wüthrich, wenn wir einen Schritt zurücktreten hinter die Musterbrecher und auch hinter den Hofnarren, was ist das am tiefsten liegende Anliegen oder der Beweggrund Ihrer Arbeit? 

Wahrscheinlich das Bestreben, den vordergründigen Antworten nicht einfach zu vertrauen. Ich habe mich immer wieder gestört an dogmatischen Aussagen und Feststellungen, vor allem in meiner Disziplin, der Managementlehre. Solche nicht reflektierten Dogmen haben mich stets herausgefordert, die Frage zu stellen: Muss das so sein? Wissen wir es wirklich?
 

"Muss das so sein?", das ist die Frage nach der Alternative Weiter-so respektive Musterbruch? 

Es ist der Versuch, die Prämissen zu verstehen, die den klassischen Führungsmustern zugrunde liegen. Die Intention war, das Naive, das Fragende wieder in Organisationen einzuführen, um eine Reflexionsfläche zu bieten, die es ermöglicht, kritisch auf Selbstverständlichkeiten zu blicken. Die Frage "Muss das so sein?" ist für mich das verbindende Element, das mich über 30 Jahre begleitet hat.
 

Und wie gehen Führungskräfte damit um? Wie ist Ihre Erfahrung? 

Viele Führungskräfte erkennen intellektuell-kognitiv, dass es keinen Sinn ergibt, so weiterzumachen wie bisher. Sie haben ungute Gefühle mit der eigenen Führungstätigkeit und ihrem Führungsrollenverständnis. Wir haben also kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem.
 

Aber woran liegt es dann, dass wir (ganz allgemein) aus Erkenntnissen nicht Schlussfolgerungen ziehen und ins Handeln gehen? 

Für mich hat dies zwei Gründe. Der eine ist, dass wir immer wieder den Lösungsraum selbst begrenzen. Es fehlen uns die alternativen Referenzen. Unsere Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster sind so stabil, dass sie uns nicht mehr erlauben, radikal andere Lösungen zu sehen. Der andere ist das Thema Vertrauen in das Unvertraute. Um sich auf Musterbrüche einzulassen, muss man sich exponieren, und diese Bereitschaft ist wenig ausgeprägt. Die Frage lautet also: Wie gewinnt man Vertrauen in das Unvertraute? Ich glaube, es geht nur, indem man sein eigenes Führungsumfeld als Labor sieht und aktionsforschungsmäßig versucht, kleine Dinge zu verändern, und beobachtet, was passiert. Über diese neuen Erfahrungen kann es gelingen, den Mehrwert des Unvertrauten zu erleben.
 

Das setzt voraus, die eigene Situation zu reflektieren. Die Reaktion von Führungskräften auf die Antwort, die Sie eben gegeben haben, ist vorhersehbar: Um Himmels willen, ich habe eh schon so viel am Hut! Ich habe Termine, Telefonate, Meetings am Stück und Hunderte von E-Mails. Das Thema Überforderung. Sie schreiben: Überforderung ist ein paradoxes Selbstkonstrukt. Was heißt paradoxes Selbstkonstrukt? 

Auf der einen Seite ist Überforderung eine reale Lebenswirklichkeit. Auf der anderen Seite überfordern wir uns permanent selbst, weil wir uns an der Referenz orientieren, die Dinge im Griff haben zu müssen. Paradox, widersprüchlich ist diese Situation deshalb, weil dieses Überfordertsein zwar eine Realität ist, aber wir diese auch selbst konstruieren, indem wir nicht erfüllbare Eigen- und Fremderwartungen zugrunde legen. Diese Konstellation (a) der Tatsache der Überforderung und (b) des Selbstkonstruierens dieser Überforderung, finde ich spannend. Meine These: Wir müssen mit der Überforderung tanzen lernen, müssen spielerisch damit umgehen, um trotz Fremdbestimmtheit selbstbestimmt handeln zu können. Der Rückgriff auf die alten Bewältigungsstrategien, also in der begrenzten Zeit noch mehr zu tun oder an sich selber höhere Anforderungen zu stellen, führt nur noch tiefer in das Paradox hinein.
 

Was setzt das voraus, mit der Überforderung tanzen lernen? Man muss zurücktreten und die eigene Situation aus der Distanz betrachten? 

Unbedingt. Nur die Reflexion ermöglicht es, solche im Hintergrund wirkende Mechanismen, das heißt, die Logik hinter dem, was ich beobachte, und meinem eigenen Beitrag zu erkennen. Also die überhöhten Eigen- und Fremdanforderungen erkennen, die man unterstellt: die Vorstellung, die Dinge im Griff zu haben und alles verantworten zu müssen. Diese stark sozialisierten Wertprämissen, die für uns leitend sind, erweisen sich in der heutigen Welt als immer weniger erfüllbar.
 

Und wie gehen Führungskräfte damit um? Wie ist Ihre Erfahrung, etwa in Coachings? 

Viele Führungskräfte nehmen diese Überforderung, dieses Überfordertsein wahr und leiden darunter. Andere sind gut darin, dieses Überfordertsein gar nicht zuzugeben beziehungsweise es zu verdrängen - weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Nur wer die Überforderung grundsätzlich erkennt, wird damit intelligent umgehen können. Intelligent umgehen heißt für mich, einen Schritt zurückzugehen und wahrzunehmen, welchen Beitrag man selbst leistet, wo man selbst Teil des Überfordertseins und der Überforderung ist. Erst wenn ich erkenne, wie ich durch überhöhte Eigen- und Fremderwartungen in die Fallen der Überforderung tappe, kann ich souveräner damit umgehen.
 

Was neben der Fähigkeit zur Reflexion hilft noch, um herauszukommen aus dem Paradox? 

Unterstützend und hilfreich sind zudem Kontakte mit Peers, mit Coaches sowie mit Personen des Vertrauens. Also in den Dialog gehen, seine Empfindungswelt versprachlichen und dadurch dem Befinden eine Bühne geben. Ich erlebe viele reflektierte Führungskräfte, die bereit sind, an sich zu arbeiten und in den Austausch mit Sparringspartnern zu gehen. Aber auch hier spielen die Rahmenbedingungen mit hinein: Zeitdruck, volle Agenden, das Phänomen der fehlenden Denkzeit. Aus meiner Sicht gilt: Je höher jemand in einer Hierarchie steht, desto weniger Denkzeit steht zur Verfügung. Genau das Gegenteil wäre angezeigt: Mehr Zeit zum Denken, Reflektieren, Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen!
 

Das ist eine interessante Beobachtung. Führt man Interviews mit Mitarbeitern über die Hierarchieebenen hinweg, lässt sich eine ähnliche Relation beobachten: Mit der Position in der Hierarchie steigt die Fähigkeit, über die eigene Situation zu reflektieren, und die Komplexität von Bezügen, in denen eine Person drinsteckt, wächst. Das schlägt sich schon in der Länge der Interviews nieder: Die werden umso länger, je weiter man nach oben in der Hierarchie kommt. Zugespitzt: Offensichtlich haben wir es nicht mit dummen Leuten zu tun, wie oft suggeriert wird? 

Überhaupt nicht. Mit dem Finger auf andere zeigen, führt zu nichts, ebenso wenig das verbreitete Manager-Bashing. Je mehr ich mich damit beschäftige, desto größer mein Verständnis dafür. Wichtig ist, dass Verantwortungsträger die Möglichkeit erhalten, über ihre Rolle in der Organisation nachzudenken, andere Zugänge zu finden, andere Lösungsansätze auszuprobieren. Das ist auch die Grundidee des Musterbrecher-Ansatzes: Nicht Best Practices nach Copy-and-Paste-Prinzip anzubieten - davon halte ich gar nichts -, sondern eine Denkraumerweiterung zu offerieren: Inspirationen, Denkangebote. Wäre es nicht spannend, statt der etablierten, erfahrungsgeleiteten Lösungsroutine bewusst einen kontraintuitiven, dem antrainierten Menschenverstand widersprechenden Weg zu gehen? Sich überraschen zu lassen? Dieses Finden von Dingen, nach denen man nicht gesucht hat, ist wichtig. Und es gilt, in Organisationen bewusst Settings zu kreieren, die dies ermöglichen. Dabei spielt der Zufall eine entscheidende Rolle.
 

Best Practice setzt im Grunde voraus, dass die Umweltbedingungen stabil sind? 

Genau. Nur bei Stabilität gibt es verlässliche Referenzen, an denen wir uns orientieren können. Dieser Wunsch nach Stabilität ist verständlich, wir leben ja in einer risikovermeidenden Gesellschaft. Je größer die Ungewissheit, desto weniger aber finden wir diese fixen Orientierungen, und eine Führung ohne Drehbuch wird zur Realität. Im Kontext der Unvorhersehbarkeit besteht der einzige Standard darin, dass es keinen Standard, sprich keine Referenz gibt.
 

Die Stabilität, die Best Practice voraussetzt, ist nicht mehr gegeben? 

Dennoch wird weiter danach gesucht. Symptomatisch sind die aktuellen Entwicklungen im Feld neuer Organisationsmodelle, Holakratie, Soziokratie, Unbossed Firm und so weiter - hier zeigt sich für mich die Suche nach einer neuen Dogmatik. Der Glaube, dass es das richtige Führungs- und Organisationsmodell gibt, hält sich hartnäckig. Doch wir sollten den Mut finden, zu akzeptieren, dass es diese Referenz nicht geben kann. Die universell perfekte Lösung ist eine gefährliche Illusion. 

Das Streben nach Perfektion hat uns unheimlich weit gebracht, aber es hat auch dysfunktionale Effekte, es verhindert das Experimentelle, das Zufällige. Was wir benötigen, sind nicht perfekte, sondern viable Lösungen. Also Lösungen, die für eine bestimmte Situation passend sind und in einem spezifischen Kontext funktionieren. Wichtig ist das Bewusstsein, dass es nicht eine wahre, sondern eben nur passende Lösungen gibt. Die Bereitschaft, immer wieder viable Zugänge zu finden, verlangt das Eingeständnis, dass wir nie das Ideale erreichen. Wir sind auf einer Reise und können uns der Exzellenz nur experimentell annähern. Also nicht, weil es gerade Mode ist, Holakratie einführen, sondern experimentell den eigenen zum Kontext passenden Weg finden. Das erfordert Mut.
 

Und experimentell heißt auch iterativ, schrittweise? 

In relativ kurzen Zyklen lernen, genau.
 

Das Finden viabler Lösungen in dem eben beschriebenen Sinne ist die erste Metakompetenz, die Sie beschreiben. Bezieht sich der Begriff der Metakompetenzen in erster Linie auf Organisationen oder sind damit auch persönliche Kompetenzen gemeint? 

Die drei Metakompetenzen, die ich in meinem neuen Buch beschreibe, sind Fähigkeitsbündel im institutionellen Sinn. Von diesen Kompetenzen hängt die Vitalität einer Organisation ab - und die interessante Frage lautet: Welchen Beitrag kann ich als Führungskraft zur Ausbildung dieser Metakompetenzen leisten?
 

Die zweite Metakompetenz, die Mobilisierung dezentraler Intelligenz, ist - so würde ich es interpretieren - eine Konsequenz aus Peter Druckers Wissensarbeiter. Wenn definitionsgemäß der Wissensarbeiter derjenige ist, der über seine Arbeit mehr weiß als jeder andere in der Organisation, dann bedeutet das ja, dass das Wissen in der Organisation verteilt ist - dass also der umfassende Überblick, den die klassische Kapitänsrolle voraussetzt, nicht mehr gegeben ist. Das heißt, man muss dezentral agieren. Richtig interpretiert? 

Ja. Wir müssen die kollektive Intelligenz nutzen, sonst haben wir gar keine Chance, mit der Komplexität intelligent umzugehen. Denn jede Einzelperson ist damit hoffnungslos überfordert. Die grundlegende Voraussetzung aber ist, dass Menschen in Organisationen überhaupt ein Umfeld vorfinden, in dem sie ihre Potenziale erkennen und ausbilden können. Davon, denke ich, sind wir noch weit entfernt. So behindern zum Beispiel die eng definierten Stellenbeschreibungen die Potenzialentfaltung. Denn sie schubladisieren faktisch, welche Person welches Aufgabenspektrum erfüllen kann, und determinieren damit den Entwicklungspfad dieser Person. Stattdessen wären Rahmenbedingungen erforderlich, die diese Kanalisierung verhindern, die intrinsische Anreize schaffen, dass Menschen sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln können und sich Karrierepfade spontan ausbilden.
 

Die dritte Metakompetenz betrifft die Resilienz einer Organisation. Was bedeutet Erhöhung organisationaler Resilienz als Metakompetenz? 

Der Begriff der Resilienz kommt ursprünglich aus der Systemtheorie und ist in der Technik stark verwurzelt. Die Resilienz ist die Zeit, die ein System benötigt, um nach einer Störung wieder in den Gleichgewichtszustand zu kommen. In Organisationen versteht man unter Resilienz die Fähigkeit, mit Störungen intelligent, das heißt selbstorganisiert, umgehen zu können. Sie stellt eine Metakompetenz dar, weil wir immer weniger in der Lage sind, vorausblickend alle Gefahrenpotenziale zu kanalisieren. Organisationen verfügen heutzutage über ausgeklügelte Risikomanagementsysteme, aber diese bilden die wirklichen Risiken nicht ab. Die bedrohlichen Elemente liegen außerhalb unseres Vorstellungsvermögens. Wenn wir also diese Gefahrenwelt nicht erfassen können, ist es angezeigt, Organisationen zu befähigen, mit diesen nicht antizipierbaren, völlig spontan und unerwartet entstehenden Schocks umzugehen. Ein wichtiger Treiber der Resilienz ist die Varietät. William Ross Ashby hat schon vor 64 Jahren das Gesetz der erforderlichen Varietät formuliert. Wenn im Umfeld einer Organisation die Komplexität zunimmt, dann benötigt die Organisation eine äquivalente Binnenvarietät. Weil nur Varietät mit Varietät umgehen kann. Heute beobachten wir das Gegenteil: Wir erleben im Umfeld eine Zunahme von Varietät und Komplexität, aber wir reduzieren, vom Primat der Effizienz getrieben, stetig die Varietät der Organisation. Damit wird die Kluft zur Außenwelt immer größer. Wir benötigen eine äquivalente Binnenvarietät! Und dies erfordert den Mut, bewusst auf Effizienz zu verzichten. 

Alle drei Metakompetenzen verlangen von der Führung, ein Gegengewicht zu bilden. Im Fall der Resilienz das Gegengewicht zum Primat der Effizienz. Also bewusst vordergründige Ineffizienzen in Kauf nehmen. Andersartigkeit, Vielfalt und Redundanz zulassen. Dieses Gegengewicht zu bilden, ist wiederum anspruchsvoll, denn es exponiert eine Führungskraft. Es verlangt ein Handeln, das im Gegensatz zu dem steht, was von einem professionellen Management erwartet wird.
 

Das bedeutet zusammengefasst, die Komplexität in der Organisation zu erhöhen oder zumindest Komplexitätswachstum zuzulassen? 

Zuzulassen, genau …
 

… und vielleicht sogar zu fördern? 

… sogar zu fördern. Bei vielen Begrifflichkeiten gibt es belegte Assoziationen. So wird Komplexität häufig negativ gesehen, und der Fokus liegt auf ihrer Reduktion. Wir müssen aber genau das Gegenteil tun, nämlich Komplexität, im Sinne der Varietät, wieder in Organisationen einführen. Nur so gelingt es, die Störungsabsorptionsfähigkeit zu verbessern.
 

Wie könnte eine solche Komplexitätserhöhungslogik aussehen? 

Selbstorganisationsprozesse sind ein mächtiges Mittel, um die Binnenvarietät zu erhöhen. Der Abbau von Übereffizienz und das bewusste Zulassen von Redundanzen tragen ebenfalls zur besseren Störungsabsorptionsfähigkeit bei.
 

Wenn Wissen in der Organisation verteilt ist, dann heißt Selbstorganisation, die Entscheidungen dort zu treffen oder treffen zu lassen, wo das Wissen ist? 

Genau deshalb ist Selbstorganisation ein Mittel, um mehr Varietät zu erzielen. Nämlich indem wir die Intelligenz im Kollektiv nutzen und dem Selbstorganisierten Raum geben, statt statische Entscheidungsprozesse zu definieren. Zudem gibt es eine Beziehung zwischen der Qualität von Entscheidungen und der Realitätsnähe, unter der sie getroffen werden. Das heißt, je größer die Realitätsnähe, desto tendenziell besser die Entscheidung. Nicht zuletzt hat Selbstorganisation auch Motivationseffekte, weil die intrinsische Motivation höher ist, wenn Menschen sich einbringen, wenn sie Selbstwirksamkeit erleben und mitentscheiden können. Daraus resultieren ein größeres Involvement und eine höhere Identifikation der Mitarbeitenden mit dem eigenen Tun.
 

Der Gedanke, sich experimentell anzunähern und die Organisation entscheiden zu lassen - ist das der Kern einer neuen Führungslogik, die auf Selbstorganisation setzt? 

Im Kontext der Unsicherheit gilt es, die auf Analytik, Systematik, auf prospektivem Denken basierende Planungslogik mehr und mehr durch eine Logik der experimentellen Annäherung zu ersetzen. Also im Sinne eines ergebnisoffenen, kurzfristigen Lernens zu versuchen, viable Lösungen zu finden. Und dabei spielt Selbstorganisation eine wichtige Rolle. Selbstorganisierende Prozesse sind in sich experimentell, weil sie eben nicht einer definierten, schon fast algorithmischen Logik entsprechen, sondern sich spontan, eher wie eine Heuristik ausbilden.
 

Wie kann das konkret umgesetzt werden? Entsteht das in einem Wechselspiel von Führung und Selbstorganisation? Diese experimentelle Annäherung einzuleiten, auf den Weg zu bringen und die Entscheidung der Organisation zu überantworten, ist wohl zunächst mal Aufgabe der Führung? 

Führung kann die Gelingensvoraussetzungen schaffen, dass solche Prozesse überhaupt entstehen können. Ein Beispiel: In einer Behörde in der Schweiz war in mehreren Abteilungen die Personalfluktuation sehr hoch. Man hat nach den Ursachen geforscht und eine hohe Unzufriedenheit festgestellt: Demotivation, negativer Leistungsdruck und so weiter. Experimentell annähern bedeutete, dass das Managementteam bereit war, ein ergebnisoffenes, experimentelles Setting zu kreieren. Dafür wurden auf freiwilliger Basis Mitarbeitende gesucht und zwei Gruppen gebildet, die ihre Arbeitsweise so definieren konnten, wie es für sie Sinn ergab. Es gab ein paar harte Vorgaben - Zeitdauer, Qualitätsstandards zum Beispiel -, aber innerhalb dieses Rahmens herrschte vollständige Freiheit. Die Teams entwickelten und testeten experimentelle Ideen und kamen dabei zu unterschiedlichen Lösungen. Bisher wurden etwa die zu bearbeitenden Dossiers den Mitarbeitenden zugeteilt; ein Team hat dann eine Lösung entwickelt, nach der die Dossiers neigungsorientiert von den Mitarbeitern selbst verteilt werden. Die Teams haben auch die Qualitätssicherung und organisatorisch-administrative Dinge wie Arbeitszeitfestlegung, Ferienregelung und so weiter übernommen. Der Effekt war: Zu Beginn ging die Produktivität zurück, denn das Kollektiv musste sich finden. Es musste neue Ideen testen und diese wieder ändern und anpassen. Nach gut einem Jahr liegt die Produktivität deutlich über den Erwartungen, die intrinsische Motivation hat sich erhöht, und es gibt Ausstrahlungseffekte, indem auch andere Abteilungen Interesse zeigen, am Experiment mitzuwirken. Im Sinne eines Faktenchecks hat die Organisation stets die Antworten auf die anstehenden Fragen geliefert, indem erkennbar wurde, was funktioniert und was nicht. Dieses Experiment hat zudem gezeigt: Wenn Mitarbeitende erleben, dass sie ausprobieren und auch scheitern dürfen, kann viel produktive Energie entstehen.
 

Sie haben den Gegensatz zwischen Effizienz und Redundanz angesprochen. In Ihrem Buch beschreiben Sie einen weiteren Gegensatz, nämlich zwischen Effizienz und Resonanz. Organisationen wurden bislang im Wesentlichen auf Effizienz getrimmt. Was bringt der Resonanzbegriff für das Verständnis von Organisationen? 

Ich lehne mich an den Soziologen Hartmut Rosa an, der das Konstrukt der Resonanz popularisiert hat. Resonanz heißt für mich in Beziehung sein. Aber in einer speziellen Qualität von Beziehung - einer Beziehung, in der Schwingung entsteht. Schwingung heißt, im Dialog miteinander zu sein. Dialog ist nicht nur ein Austausch, sondern ein zirkuläres System. Mit Ihren Fragen lösen Sie bei mir Denkprozesse aus und mit meinen Antworten tue ich dasselbe bei Ihnen. Wenn solche Schwingungen entstehen, dann liegt darin ein unheimliches Potenzial. Heute sind Organisationen Effizienz-, nicht aber Resonanzräume. Paradebeispiel: Wir definieren Pausenregelungen, in denen festgelegt ist, wie lange eine Pause gehen darf. Dabei sind Pausen wertvolle Dialogflächen. Sie erzeugen Resonanz. 

Schwingung respektive Resonanz im Bilateralen oder Multilateralen entsteht immer dann, wenn wir in einen Dialog kommen. Leider haben wir in Organisationen verlernt, echte Dialoge zu führen. Wir sind konditioniert im Führen von Monologen. Jeder erklärt dem anderen, wie die Welt funktioniert. Darüber differenzieren wir uns. Darüber bauen wir Macht auf, erzeugen einen Wissensvorsprung. In Organisationen dominiert oft die Differenz-Logik, die nicht integrative Logik. Im Gegensatz zum Monolog kann ein Dialog nur dann entstehen, wenn Wertschätzung vorhanden ist, wenn wir zuhören können, wenn wir verstehen, worin die Unterschiedlichkeit liegt, und wenn wir diese Unterschiedlichkeit als Chance und nicht als Bedrohung begreifen. Das heißt, wir müssen in der Lage sein, etwas Neues entstehen zu lassen. Oder wie es Jesper Juul treffend formuliert hat: Wir müssen bereit sein, gemeinsam klüger zu werden. 

Wenn solche dialogischen Prozesse gelingen, nimmt auch die Qualität von Lösungen zu. Dieser Hebel ist wirkmächtiger als jedes Effizienzsteigerungsprogramm! Doch das Dialogische, Resonanzhafte benötigt Zeit und Raum. Es muss sich ausbilden, muss entstehen können. Hinzu kommt: Die gelebte dialogische Gesprächskultur erweist sich als geeignetes Substitut für den zunehmend erodierenden hierarchischen Orientierungsrahmen.
 

Die Vorstellung von Resonanz erlaubt in der Umkehr, den Verlust oder die Abwesenheit von Resonanz zu beschreiben. Zum Beispiel: Die Mitarbeiter arbeiten engagiert an einem Projekt, das dann urplötzlich per Weisung von oben gestoppt wird. Ein Abreißen von Resonanz? 

Absolut. Mit massiven dysfunktionalen Effekten. Es geht intrinsische Motivation, aber auch die Glaubwürdigkeit des Managements verloren.
 

Lassen Sie uns einen Schritt in Richtung Praxis gehen. Wie lässt sich dieses Konzept der experimentellen Führung umsetzen? 

Ich sehe drei Ebenen. Erstens braucht es eine andere Haltung: nämlich die Fähigkeit, den Mehrwert im Zufälligen zu sehen und die Rationalität des Irrationalen zu erkennen, verbunden mit der Bereitschaft, Nichtwissen zu akzeptieren. Denn wenn ich alles schon weiß, dann steht schon alles fest, und ich werde nicht experimentieren. Ohne diese andere Haltung wird es schwierig, den Mehrwert einer experimentellen Annäherung zu sehen. 

Zweitens sind methodische Fähigkeiten erforderlich. Wie kann ich als Führungskraft intelligente experimentelle Settings kreieren? Unter welchen Voraussetzungen können Experimente gelingen? 

Drittens ist ein anderes Rollenverständnis der Führung notwendig: nämlich das Rollenverständnis der Führungskraft als Aktionsforscher oder Aktionsforscherin, die das eigene Umfeld als Labor versteht. Die Faszination der Führungstätigkeit entsteht daraus, ergebnisoffen und im Sinne einer nie endenden Reise immer wieder neue Dinge auszuprobieren und sich vom Ergebnis überraschen zu lassen. 

Unter diesen Voraussetzungen wird es möglich sein, Vertrauen in das Unvertraute zu gewinnen und den Mehrwert des Experimentellen auch emotional zu erleben.
 

Also beginnt experimentelle Führung eigentlich mit einem Satz - "Ich weiß es nicht"? 

Ja, mit diesem Satz beziehungsweise der tiefen inneren Akzeptanz des Nichtwissens. Bringe ich diese Haltung nicht auf, fällt es schwer, zu experimentieren. Experimentieren ist risikobehaftet. Wir experimentieren, wenn wir nicht mehr weiterwissen. Wenn jemand experimentiert, hat er noch keine Lösung. In der Corona-Krise erleben wir dies augenfällig. Fast alles, was wir tun, ist experimentell.
 

Eine Vermutung vielleicht noch: Ist die Rede von der komplexer werdenden Welt, von VUCA und so weiter, vielleicht auch ein Narrativ, das es möglich macht, Nichtwissen zuzugeben? Diesen Satz zu sagen: "Ich weiß es nicht"? 

Ich bin unsicher, ob die Beobachtung "immer komplexer" wirklich stimmt. Die Zunahme der Vernetzungsdichte und die wachsende Beschleunigung sind überzeugende Hinweise auf eine steigende Komplexität. Aber in Relation zum Wissen und zu den technischen Möglichkeiten war wahrscheinlich die Welt vor hundert Jahren ebenso komplex wie heute. Aktuell ist diese Komplexität vielleicht stärker sichtbar und sie rückt vermehrt ins Bewusstsein. Auch dies sollte uns ermutigen, zukünftig die Planung vermehrt durch die experimentelle Annäherung zu ergänzen.
 

Das Interview haben wir in einem persönlichen Gespräch an der Universität der Bundeswehr in München geführt (vor Corona).
 


Zitate


"Wir überfordern uns permanent selbst, weil wir uns an der Referenz orientieren, die Dinge im Griff haben zu müssen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Das Finden von Dingen, nach denen man nicht gesucht hat, ist wichtig. Und es gilt, in Organisationen bewusst Settings zu kreieren, die dies ermöglichen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir haben kein Erkenntnisproblem, wir haben ein Umsetzungsproblem." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Es fehlen die alternativen Referenzen. Erfahrungen und Wahrnehmungsmuster sind so stabil, dass sie uns nicht mehr erlauben, radikal andere Lösungen zu sehen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir müssen mit der Überforderung tanzen lernen, müssen spielerisch damit umgehen, um trotz Fremdbestimmtheit selbstbestimmt handeln zu können." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Erst wenn ich erkenne, wie ich durch überhöhte Eigen- und Fremderwartungen in die Fallen der Überforderung tappe, kann ich souveräner damit umgehen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Je höher jemand in einer Hierarchie steht, desto weniger Denkzeit steht zur Verfügung. Genau das Gegenteil wäre angezeigt: Mehr Zeit zum Denken, Reflektieren, Erkennen und Verstehen von Zusammenhängen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Nur bei Stabilität gibt es verlässliche Referenzen, an denen wir uns orientieren können." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Im Kontext der Unvorhersehbarkeit besteht der einzige Standard darin, dass es keinen Standard, sprich keine Referenz gibt." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Der Glaube, dass es das richtige Führungs- und Organisationsmodell gibt, hält sich hartnäckig. Doch wir sollten akzeptieren, dass es diese Referenz nicht geben kann. Die universell perfekte Lösung ist eine gefährliche Illusion." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir benötigen nicht perfekte, sondern viable Lösungen. Also Lösungen, die für eine bestimmte Situation passend sind und in einem spezifischen Kontext funktionieren." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Die Bereitschaft, immer wieder viable Zugänge zu finden, verlangt das Eingeständnis, dass wir nie das Ideale erreichen. Wir sind auf einer Reise und können uns der Exzellenz nur experimentell annähern." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir müssen die kollektive Intelligenz nutzen, sonst haben wir gar keine Chance, mit der Komplexität intelligent umzugehen. Denn jede Einzelperson ist damit hoffnungslos überfordert." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Organisationen verfügen heutzutage über ausgeklügelte Risikomanagementsysteme, aber diese bilden die wirklichen Risiken nicht ab. Die bedrohlichen Elemente liegen außerhalb unseres Vorstellungsvermögens." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir erleben im Umfeld eine Zunahme von Varietät und Komplexität, aber wir reduzieren, vom Primat der Effizienz getrieben, stetig die Varietät der Organisation." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Wir benötigen eine äquivalente Binnenvarietät. Und dies erfordert den Mut, bewusst auf Effizienz zu verzichten." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Komplexität wird häufig negativ gesehen, und der Fokus liegt auf ihrer Reduktion. Wir müssen aber genau das Gegenteil tun, nämlich Komplexität, im Sinne der Varietät, wieder in Organisationen einführen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Selbstorganisationsprozesse sind ein mächtiges Mittel, um die Binnenvarietät zu erhöhen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Im Kontext der Unsicherheit gilt es, die auf Analytik, Systematik, auf prospektivem Denken basierende Planungslogik mehr und mehr durch eine Logik der experimentellen Annäherung zu ersetzen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Heute sind Organisationen Effizienz-, nicht aber Resonanzräume." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Leider haben wir in Organisationen verlernt, echte Dialoge zu führen. Wir sind konditioniert im Führen von Monologen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

"Die gelebte dialogische Gesprächskultur erweist sich als geeignetes Substitut für den zunehmend erodierenden hierarchischen Orientierungsrahmen." Interview Hans A. Wüthrich: Logik der experimentellen Annäherung

 

changeX 01.05.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Capriccio. Ein Plädoyer für die ver-rückte und experimentelle Führung. Verlage Vahlen und Versus, München und Zürich 2020, 157 Seiten, 22.90 Euro (D), ISBN 978-3-8006-6253-1

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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