Kompetenzen für morgen

Tomorrowmind - das neue Buch von Gabriella Rosen Kellerman und Martin Seligman
Rezension: Winfried Kretschmer

Das wesentliche Merkmal unserer Spezies ist die Fähigkeit, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu planen: Prospektion. Mehr noch, sie ist die zentrale, die entscheidende Zukunftskompetenz in einer Zeit, die von stetem und tiefgreifendem Wandel geprägt ist. Das sind die Kernaussagen des neuen Buchs von zwei führenden Vertretern der Positiven Verhaltenswissenschaft, der Wissenschaft vom Gedeihen. Ihre Botschaft: Prospektion lässt sich lehren - und lernen.

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In ihrem Buch Homo Prospectus haben die Psychologen Martin Seligman und Roy Baumeister, der Philosoph Peter Railton und der Neurowissenschafter Chandra Sripada die These vertreten, "dass das wesentliche Merkmal unserer Spezies die Fähigkeit ist, sich die Zukunft vorzustellen und sie zu planen". Einen deutschen Verlag hat das 2016 bei Oxford University Press erschienene Buch leider nicht gefunden. 

In dem neuen Buch von Martin Seligman, das der Begründer der Positiven Psychologie zusammen mit der Mental-Health-Expertin Gabriella Rosen Kellerman geschrieben hat, wird diese These nun aufgegriffen - und die Fähigkeit zur Prospektion erhält eine Schlüsselrolle als zentrale Zukunftskompetenz. 

Das Argument kurz zusammengefasst: Als Jäger und Sammler mussten die frühzeitlichen Menschen bereits Tage bis Wochen vorausblicken. Die landwirtschaftliche Revolution erweiterte den Planungshorizont dann auf längere Zeiträume; Aussaat, Ernte, Saatgutgewinnung, Vorratshaltung waren vorauszusehen und zu planen. Mit der industriellen Revolution rückte dann aber die gleichmäßige Ausführung klar definierter, unmittelbar zu erledigender Einzelaufgaben in den Fokus der arbeitenden Menschen; Prospektion verlor an Bedeutung.


Die Metakompetenz unserer Zeit


"Jetzt hat sich das Blatt wieder gewendet", schreiben Kellerman und Seligman. "Die heutigen Veränderungen in der Arbeitswelt haben die Prospektion wieder ganz oben auf die Liste der wesentlichen Fähigkeiten von Arbeitskräften katapultiert." Mit dem ständigen, schnellen und unvorhersehbaren Wandel Schritt zu halten, ihm vielleicht zuvorzukommen, verlange prospektive Fähigkeiten. "Prospektion ist die Metakompetenz unserer Zeit", so das Autorenduo. Sie "ist eine Fähigkeit, die wir als Spezies erst noch in vollem Umfang entwickeln müssen". 

Vier weitere Kompetenzen kommen hinzu: Resilienz und geistige Beweglichkeit, Sinn und Wichtigkeit, Kreativität und Innovation sowie Schneller Rapport, also das Gefühl des Einklangs mit anderen, als Grundlage der Fähigkeit, enge und vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Zusammen mit der Prospektion bilden sie den titelgebenden Tomorrowmind, "eine Denkweise, die uns ermöglicht, Veränderungen vorwegzunehmen, angemessen zu planen, mit Rückschlägen umzugehen und unser volles Potenzial auszuschöpfen". 

Das Buch schildert diese Kompetenzen in einer breiten, umfassenden Perspektive und bezieht dabei Querverbindungen und Hintergründe mit ein. Eingebettet ist die Darstellung in einen kurzen Abriss der Begründung der Positiven Psychologie durch Martin Seligmann und Mihaly Csikszentmihaly als radikale Abkehr von dem lange dominierenden pathologiezentrierten Zugang der Psychologie, dessen Fortschritte jedoch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Erliegen gekommen waren, wie die Autoren schreiben. Sie entstand also als Umkehrung der klinischen Psychologie und Psychiatrie, verbunden mit einem Perspektivenwechsel von der Erkrankung hin zu den Entwicklungsmöglichkeiten. Heute werden diese Ansätze unter der Bezeichnung "Positive Verhaltenswissenschaft" zusammengefasst, oder griffiger als "Wissenschaft vom Gedeihen". 

Dieser Ansatz der Konzentration darauf, wie Menschen ein höheres Maß an Wohlbefinden erreichen können, wie sie Herausforderungen meistern und Schäden für ihre Psyche vermeiden, prägt auch die Beschreibung der zentralen Zukunftskompetenzen. Die wichtigsten Argumente in Kürze.


Fähigkeiten für die Zukunft


Resilienz und Beweglichkeit: Der Begriff der Resilienz, wie ihn die Autoren konzipieren, meint mehr, als sich von schwierigen Ereignissen nicht unterkriegen zu lassen, mehr als Widerstandsfähigkeit oder Robustheit. Es geht nicht nur darum, zu bestehen, sondern an Herausforderungen zu wachsen. Nassim Nicolas Taleb hat dies als "Antifragilität" beschrieben, ein Begriff, auf den sich die Autoren ausdrücklich beziehen. Antifragilität ist für Taleb "mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser". Taleb grenzt seinen Begriff der Antifragilität noch vom Begriff der Resilienz ab, im erweiterten Konzept von Resilienz, wie es Kellerman und Seligman beschreiben, gehen beide Begriffe auf. 

Resilienz ist keine Eigenschaft, nichts was man ist, sondern etwas, das sich entwickeln und stärken lässt. Ausgehend von den Studien zur erlernten Hilflosigkeit hat Martin Seligman mit seinem Team 150 Faktoren herausgearbeitet, die diese Fähigkeit stärken. Darauf basieren die fünf Bausteine, die Kellerman und Seligman als Grundbausteine psychischer Resilienz beschreiben: Selbstwirksamkeit, Selbstmitgefühl, geistige Beweglichkeit, Optimismus und Emotionsregulation, verstanden als "unsere Fähigkeit im Moment des Auftretens flexibel und produktiv mit unseren Emotionen umzugehen". Die Botschaft lautet: Die Fähigkeit der Resilienz lässt sich stärken. 


Sinn und Wichtigkeit: Sinn ist ein weitgefasster Begriff, der unterschiedliche Konzepte wie Verstehen, Zweck und Bedeutsamkeit umfasst. Hinzu kommt: "Nicht alle Jobs sind gleichermaßen sinnvoll und nicht alle Menschen suchen im gleichen Maße Sinn in ihrer Arbeit." Die Autoren präsentieren daher Wichtigkeit als konkretere und besser umsetzbare Alternative zum Sinn. Diese erfasse das Wesen dessen, worauf es Arbeitenden ankommt und was Unternehmen beeinflussen können. Sie definieren Wichtigkeit "als das Bewusstsein, etwas bewirken zu können". Sie sagen: "Die Wichtigkeit fördert unser Glück, unsere Produktivität, unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten zu begegnen." 


Schneller Rapport: "Wohlbefinden setzt soziale Kontakte voraus." Der Fachbegriff Rapport beschreibt die enge und vertrauensvolle Beziehung zwischen zwei Menschen. Sie "entsteht mit der Zeit, als Ergebnis einer beständig gelebten Praxis von Empathie und Mitgefühl". Es geht um Verbundenheit, Zugehörigkeit, Positivitätsresonanz als die Erfahrung geteilter positiver Gefühle, gegenseitiger Fürsorge und biologischer Synchronizität. Wenn Kellerman und Seligman nun von "schnellem Rapport" sprechen, meinen sie natürlich nicht, Beziehungsaufbau dem hektischen Zeitdiktat unserer Tage unterzuordnen. Vielmehr geht es darum, Beziehungsaufbau zu erleichtern, schnell oder leicht Zugang zu anderen zu finden. Die Autoren beschreiben Ermächtigung und Perspektivenübernahme als zentrale Mechanismen, die Beziehungen stärken. Paradoxerweise erfordert schneller Rapport, unsere auf Zeitknappheit geeichte Grundeinstellung zu ändern. Achtsam zuhören, ein präsentes, großzügiges Zuhören ohne Zeitdruck, ist der entscheidende Punkt dabei. 


Prospektion: die Metakompetenz. Während Resilienz und Beweglichkeit es ermöglichen, im Wildwasser des Wandels den Kopf über Wasser zu halten, erlaubt Prospektion, die größten Brecher auszumachen, bevor sie heranrollen. Die Frage ist daher, wie wir unsere Fähigkeit zur Prospektion verbessern können. Entscheidend dabei ist, wie diese im Gehirn funktioniert. Hier gibt es zwei grundlegende Forschungserkenntnisse. Erstens die Entdeckung des Ruhezustandsnetzwerks Default Mode Network (DMN), eine der wichtigsten neurowissenschaftlichen Entdeckungen unserer Zeit, so die Autoren. Demnach ist unser Gehirn im Ruhezustand keineswegs inaktiv. "Hat das Gehirn sonst nichts zu tun, fährt es nicht einfach herunter, sondern geht in einen neuen Denkmodus, der so vital ist, dass er unseren Standardmodus bildet - die Aktivität, auf die das Gehirn in jedem freien Moment umschaltet." Es ist ein mäandernder Gedankenstrom, der ständig zwischen Nutzung und Erkundung wechselt. Kurz gesagt, "ist das Schweifen des Geistes eine seiner Grundeigenschaften und keine Störung". 

Die zweite Erkenntnis besagt, dass Prospektion in zwei Phasen abläuft: Phase eins verläuft schnell, ist geprägt von Optimismus und fokussiert auf eine wünschenswerte Zukunft. Phase zwei verläuft sehr viel langsamer und beinhaltet eine genauere, überlegtere und realistischere - vielleicht sogar pessimistischere - Bewertung der Bilder, die Phase eins erzeugt hat. Dies beinhaltet die Gefahr kognitiver Verzerrungen, weil ein düstereres Bild der Zukunft entsteht und im Gedächtnis bleibt. Der Vielzahl der im Anschluss an Daniel Kahneman und Amos Tversky gesammelten kognitiven Verzerrungen wäre damit eine weitere hinzuzufügen: eine Verzerrung der Zukunft ins Negative, Bedrohliche. Gezielte Interventionen, die in Phase eins eine breitere Spanne von Zukunftsperspektiven aufzeigen und in Phase zwei deren Bewertung systematisieren, sollen dem entgegenwirken. Entscheidend für die Autoren ist, dass sich Prospektion lehren lässt - und lernen. Es "ist eine Fähigkeit, die wir als Spezies erst noch in vollem Umfang entwickeln müssen". 


Kreativität und Innovation: Und schließlich geht es um Kreativität, "unsere einzigartige menschliche Gabe". In einer Zeit von Umbrüchen und schnellem, stetigem Wandel rückt diese Kernkompetenz wieder in den Vordergrund. "Die Zeit, in der Kreativität als spezielle Fertigkeit galt, ist so gut wie vorüber", schreiben Kellerman und Seligman, die sich vor allem den kreativen Prozessen im Gehirn widmen. Kreativität ist "das konzertierte Produkt vieler unterschiedlicher kognitiver Fähigkeiten, orchestriert von drei verschiedenen groß angelegten Netzwerken im Gehirn". Initial wirkt hier das bereits erwähnte Ruhezustandsnetzwerk DMN, das mit dem "spontanen, selbst erzeugten Denken" beschäftigt ist. Es ist die Quelle innovativer Ideen, die freilich erst die Schwelle zur bewussten Aufmerksamkeit überwinden müssen. Kreative Ideen entstehen im Zusammenspiel, "im Tanz zwischen intuitivem, spontanem Denken und hochgradig kontrollierter Anstrengung". Die zentrale Erkenntnis ist, dass es eine grundlegende Beziehung zwischen der Kreativität und den anderen im Buch behandelten Fähigkeiten gibt. Im Schnittpunkt dabei: Resilienz. Die Antriebskräfte für Resilienz, also geistige Beweglichkeit, Selbstwirksamkeit, Optimismus und Emotionsregulation, sind ebenso Antriebskräfte für die Kreativität, schreiben die beiden.


Eine neue Entwicklungsperspektive für die Menschheit


Trotz manchem dick aufgetragenen Superlativ - Prospektion als "Superkraft" zum Beispiel - ist Gabriella Rosen Kellerman und Martin Seligman eine dichte, fundierte Darstellung gelungen, die sich vor allem durch vernetztes Denken auszeichnet. Die Grundhaltung ihres Buchs ist positiv-optimistisch: Prospektion lässt sich lehren und lernen. Hinzu kommt ein starkes und selbstbewusstes Argument: Auch wenn das Gehirn des Menschen sich durch die lange Entwicklungsgeschichte hindurch auf andere Fähigkeiten eingestellt hat, versetzt uns das gesammelte Wissen der Verhaltenswissenschaften in die Lage, mit dem neuartigen Wandel unserer Zeit umzugehen. Die Verhaltenswissenschaften als Rettungsanker in einer Zeit schnellen und unübersichtlichen Wandels. Dahinter steht die Hoffnung, dass das gesammelte Wissen über den Menschen der Menschheit eine neue Entwicklungsperspektive eröffnet. 


Zitate


"Die heutigen Veränderungen in der Arbeitswelt haben die Prospektion wieder ganz oben auf die Liste der wesentlichen Fähigkeiten von Arbeitskräften katapultiert." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Nicht alle Jobs sind gleichermaßen sinnvoll und nicht alle Menschen suchen im gleichen Maße Sinn in ihrer Arbeit." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Antifragilität ist mehr als Resilienz oder Robustheit. Das Resiliente, das Widerstandsfähige widersteht Schocks und bleibt sich gleich; das Antifragile wird besser." Nassim Nicolas Taleb: Antifragilität, München 2012

"Die Wichtigkeit fördert unser Glück, unsere Produktivität, unsere Fähigkeit, Schwierigkeiten zu begegnen." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Hat das Gehirn sonst nichts zu tun, fährt es nicht einfach herunter, sondern geht in einen neuen Denkmodus, der so vital ist, dass er unseren Standardmodus bildet - die Aktivität, auf die das Gehirn in jedem freien Moment umschaltet." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Das Schweifen des Geistes ist eine seiner Grundeigenschaften und keine Störung." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Die Zeit, in der Kreativität als spezielle Fertigkeit galt, ist so gut wie vorüber." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

"Prospektion ist die Metakompetenz unserer Zeit." Gabriella Rosen Kellerman, Martin Seligman: Tomorrowmind

 

changeX 08.10.2023. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Quellenangaben

Zum Buch

: Tomorrowmind. Das Toolkit für mentale Stärke, Gesundheit und mehr Freude an der Arbeit, übersetzt von Judith Elze & Katrin Harlaß. Ariston Verlag, München 2023, 336 Seiten, 24 Euro (D), ISBN 978-3424202649

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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