Zurück und zur Seite treten

Rezension Armin Nassehi: Gesellschaft verstehen
Text: Dominik Fehrmann

Gesellschaft verstehen. Dazu bedarf es der Einübung eines beobachtenden Blicks. Des Zurück-und-zur-Seite-Tretens. Um an feinen Perspektivenverschiebungen zu demonstrieren, was sich an der Welt ändert, wenn der Blick sich ändert. Der Münchner Soziologieprofessor Armin Nassehi demonstriert’s in seinen brillanten Essays.

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Eigentlich ist ja Skepsis angebracht, wenn jemand scheinbar zu allem etwas zu sagen hat. Die Welt wird immer komplexer, das Wissen immer spezieller, was manche Leute aber eher noch zu ermuntern scheint, zu allem ihren Senf dazuzugeben. Es grassiert eine Neigung, in jeder Angelegenheit in jedes Mikrofon zu sprechen, keine Gelegenheit zu einem spontan getwitterten Statement auszulassen, gerade so, als helfe Nachdenken schon längst nicht mehr weiter. 

Andererseits müssen sich Weitwinkelperspektive und Tiefenschärfe überhaupt nicht ausschließen. Das beweist eindrucksvoll eine Essay-Sammlung des Münchner Soziologieprofessors Armin Nassehi. Der Band versammelt allerlei Aufsätze Nassehis aus den letzten zehn Jahren, die zuvor größtenteils in deutschen Tages- und Wochenzeitungen erschienen sind.  

Nassehi schreibt darin über Gott und die Welt, buchstäblich, es geht um den katholischen Ritus, das Humangenom und Sauerkrautfässer, um Architektur, Nazis, Pokémon und Thilo Sarrazin. Dass jeder einzelne Text erkenntnisreich ist, verdankt sich - neben Nassehis Scharfsinn - der hier zur Anwendung gebrachten Systemtheorie. Deren Vorzug Nassehi selbst wie folgt erläutert: "Die hochgradige Generalisierung von Begriffen erlaubt eine Respezifikation in unterschiedlichsten empirischen Feldern." Mit andern Worten: Mit Luhmann lässt sich quasi über alles reden. Zudem werden Nassehis Texte durch die theoretische Fundierung quasi ultrahocherhitzt, dauerhaft haltbar gemacht, sodass man auch den älteren Exemplaren ihr Alter nicht anmerkt.


Einübung eines beobachtenden Blicks


Nassehis roter Faden ist keine These, kein Programm. Was seine Texte leisten sollen, sei - schreibt er - "die Einübung eines beobachtenden Blicks". Es ist der Schritt zurück und dann zur Seite, den Nassehi empfiehlt und an jedem Gegenstand aufs Neue vorführt, wie eine geistige Turnübung. Er zielt auf "eine Denkästhetik, der es darum geht, an kleinen Perspektivenverschiebungen zu demonstrieren, was sich an der Welt ändert, wenn der Blick sich ändert".  

Diese Perspektivenverschiebungen folgen einem klaren Muster. Am Anfang steht die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion des fraglichen Phänomens, deren systemtheoretische Formulierung lautet: Was ist das Problem, für das dieses Phänomen eine Lösung darstellt? Ist dies geklärt, werden all die heimlichen Bedingungen, Annahmen, Paradoxien der entsprechenden Diskurse und Debatten sichtbar gemacht.  

Auf diese Weise gelangt Nassehi zu durchaus provokanten Ansichten. Etwa wenn er darauf aufmerksam macht, dass eine gewisse Anonymität, ein rechtfertigungsbefreites Für-sich-Bleiben, dem System der Großstadt wesentlich sei. Die Urbanität der Städte, so Nassehi, lebe vom bürgerlichen Privileg, in Ruhe gelassen werden zu können. Insofern sei es der Lackmustest für Urbanität, "wie viel soziale Ungleichheit sie aushält, wie viel Pluralität sie gewährt, ob auch Migranten und sexuelle Minderheiten, Behinderte und Skurrile fremd und unsichtbar bleiben können". Damit ist das verbreitete Lamento über mangelnde Integration in unseren Großstädten zumindest einmal zur Untersuchung auf die intellektuelle Hebebühne gehievt.


Führung als notwendige Illusion


Genauso blickt Nassehi hinter die rhetorischen Kulissen herkömmlicher Debatten über Unternehmensführung. Und entdeckt dort lauter Kaiser ohne Kleider. Denn: "Die Hierarchie von heute rechnet mit Menschen und Kommunikationsformen, die die Logik des Handelns nicht aus der Hand geben, mit Menschen, die wollen, was sie sollen. Zu wollen, was man soll, setzt allerdings Hierarchien voraus, die das Sollen symbolisieren, zumindest inszenieren - auch wenn sie oft genug nicht einmal wissen, was es ist." So entlarvt Nassehi Führung als Illusion. Aber auch als "eine notwendige Illusion".  

Dieser beharrliche Hinweis auf systemimmanente Notwendigkeiten sowie der weitgehende Verzicht auf Bewertungen oder Forderungen könnten zur Annahme verleiten, hier sei ein letztlich systemstabilisierendes Denken am Werk. Doch je mehr man sich auf diese "Denkästhetik" einlässt, umso mehr erscheint sie in ihrer Radikalität als hilfreiche Voraussetzung für wirkliche, grundlegende, nachhaltige Veränderungen. In jedem Fall machen Nassehis auch stilistisch beachtliche Essays nachhaltig nachdenklich.


changeX 16.05.2011. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Zum Buch

: Gesellschaft verstehen. Soziologische Exkursionen. Murmann Verlag, Hamburg 2011, 222 Seiten, 16 EUR, ISBN 978-3-86774-131-6

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Autor

Dominik Fehrmann
Fehrmann

Dominik Fehrmann ist freier Journalist in Berlin. Er schreibt als freier Mitarbeiter für changeX.

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