Wo es euch gefällt
Arbeit ist überall - eine Reportage von Winfried Kretschmer.
Folge 9 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
Von Winfried Kretschmer
Arbeiten kann man überall. Und immer mehr Menschen tun das auch. Für sie hat sich Arbeit von festen Arbeitsorten gelöst, weil sie an jedem Ort getan werden kann. Für die flexiblen Arbeiter von heute gilt: Arbeit ist, wo mein Notebook ist. Arbeit ist, wo es WLAN gibt. Arbeit ist, wo ich bin. Man arbeitet an Orten, an denen sich arbeiten lässt. Und die erst dadurch, dass man dort arbeitet, zu Arbeitsorten werden: der Esszimmertisch, ein Café, ein Business Center, eine Wiese im Park oder der Strand von Ko Samui. / 16.04.08
Dorin Popa
100 Tage Buchhändler: Dorin Popa vor dem Café Barer 80. Gegenüber sein früherer Buchladen.
Es ist voll und laut. Ein Stimmengewirr aus zahlreichen Unterhaltungen. Musik dringt aus den Lautsprechern, zuweilen übertönt vom Fauchen der Espressomaschine. Das Barer 80 ist voll an diesem Freitagnachmittag. Vor allem junge Leute drängen sich an den eng gestellten Tischen, angezogen von Latte macchiato, Gesprächen und kostenlosem WLAN. Oder einem Arbeitsort abseits des Gewohnten. Ein Mann im legeren grauen Anzug korrigiert in einem Manuskript, ein Glas Wein neben sich. Draußen rattert eine Straßenbahn vorbei. An einem Platz am Fenster sitzt Dorin Popa, das PowerBook vor sich auf dem Tisch, daneben eine leere Cappuccinotasse. Er schaut auf, klappt den Bildschirm zu. Schmales Gesicht, randlose Brille, T-Shirt, Dreitagebart. Um den Hals geknotet trägt er ein verwaschenes Halstuch. Typ ewiger Student, hatte eine Münchner Lokalzeitung geschrieben, und irgendwie ist das richtig beobachtet, vordergründig zumindest. Genau besehen ist das ein Klischee aus wohlgeordneten Zeiten, als die Festanstellung das Normalmaß einer jeden Erwerbsbiografie war. Heute indes ist es mit dem Ewigen eher schwierig, und eben dafür ist Dorin Popa, der 100-Tage-Buchhändler, ein Beispiel.

100 Tage Buchhändler.


"Da drüben ist der Laden", sagt Popa und weist hinüber auf die andere Straßenseite, wo ein Ladeneingang und zwei leere Schaufenster zu sehen sind. Genauso wie im letzten September, als Popa den leer stehenden Laden sah und ihm die Idee durch den Kopf schoss, dort drüben etwas ganz anderes zu machen. "Etwas mit Kundenkontakt, um wieder mehr mit Menschen zu tun zu haben." Fünf Jahre hatte Popa als freier Redakteur bei einer Frauenzeitschrift gearbeitet. Bis dann plötzlich Schluss war, im April letzten Jahres war das, und Popa das Zentrum seiner Freiberuflerexistenz in seine Wohnung in der Barer Straße verlagerte. Als dann das Café eröffnete, war das für ihn eine willkommene Gelegenheit, aus seinem "Elfenbeinturm auszubrechen", das Homeoffice hinter sich zu lassen und für ein, zwei Stunden unter Menschen zu arbeiten, so wie damals in der Redaktion. Und als er dann den leeren Laden sah, passte auf einmal alles zusammen: Er in seiner ungeliebten Elfenbein-Existenz, die eher schemenhafte Idee im Kopf, vielleicht einmal so etwas wie "einen Guerilla- oder Pop-up-Store" zu eröffnen, sein Bruder, der Buchhändler in Frankfurt, der auf 110 Paletten antiquarischer Bücher saß, und nun der leere Laden gegenüber - das war das Sprungbrett in eine neue Erwerbsexistenz auf Zeit. Als dann die Besitzer ihr Okay gaben, ging es ganz schnell. An einem Freitag Ende September unterzeichnete Popa den Vertrag, am Samstag war der Bruder mit der ersten Lkw-Ladung Bücher unterwegs, und am Montag eröffnete der Buchladen mit einer Menge unausgepackter Bücherkisten und einer allenfalls provisorischen Ausstattung. "100 Tage Bücher" stand in großen Lettern im Schaufenster, zusammengesetzt aus Einzelblättern, die Popa am Computer ausgedruckt hatte - Beginn eines Countdowns, der mit der Ziffer 1 enden sollte. Als Beleuchtung diente eine Lichterkette mit hellen Glühbirnen, Internet kam via WLAN vom Café gegenüber, und die Bücher wurden zu einem guten Teil aus den Transportkisten heraus verkauft. Und Dorin Popas Erwerbsleben vollzog bereits die zweite Kehrtwendung in ein paar Monaten - von heute auf morgen shiftete es von Freiberufler auf Kaufmann. Und Popa wurde über Nacht zu einer kleinen Berühmtheit in seinem Viertel: Aus dem unbekannten Nachbarn, von dem man nicht so recht wusste, was er eigentlich machte, wurde Dorin Popa, der Buchhändler.

Zu jedem freundlich sein.


Buchhändler sein, für Popa bedeutete das einen festen Arbeitsort, den man allenfalls für ein paar Minuten verlassen konnte. Das bedeutete, an sechs Tagen die Woche jeweils für elf Stunden im Laden zu stehen. Und nicht zuletzt bedeutete es, freundlich zu sein, ganz unabhängig davon, ob einem der Kunde sympathisch und wie man selbst drauf war. Ob das keine große Umstellung für ihn war? Nein, sagt Dorin Popa, und schaut über seine randlosen Brillengläser ins Nirgendwo. Er habe immer schon projektbezogen gearbeitet und sei es gewöhnt, ein paar Monate lang etwas Neues aufzubauen, um sich dann wieder etwas anderem zuzuwenden. Und während er spricht, formen seine schmalen Hände vor seiner Brust fließende Gesten, ganz so, als wollte er seinen Worten noch Form und Richtung geben. Er wirkt dann ein wenig wie ein Sozialwissenschaftler, der die neue Arbeitswelt zu erklären sucht, eine Arbeitswelt, in der alles Projekt, aber nichts gewiss ist. Sein Job bei der Frauenzeitschrift, das eigene Redaktionsbüro im Homeoffice, seine diversen Blogs und Internet-Projekte, der Buchladen und die vage Idee einer Neuauflage sind die Bausteine einer Erwerbsbiografie, die ständig neu erfunden werden will. In der nichts mehr fest, sondern alles fluide und veränderbar ist. Und in der das Internet, die permanente Vernetzung zu einer neuen Determinante geworden ist - auch für scheinbar rein materielle Projekte wie Popas Buchladen. Schon die Kommunikation mit seinem Bruder lief über das Web: Popa in München filmte die Räume und stellte das Video auf YouTube, der Bruder in Frankfurt schaute es an und tüftelte an Einrichtungsideen. Auch die Bestellung lieferbarer Bücher lief über Internet. Und nicht zuletzt schrieb der Inhaber einen Blog über seinen Laden. Geklaute Bücher, Fundsachen, prominente Besucher, kleine Geschichten aus dem Buchhändleralltag - Popa stellte es online. "Der Laden bekam einen Charakter über meinen Blog", sagt Popa, "er wurde greifbarer."
Nun ist er Vergangenheit. Zwar war der Gewinn geringer als erwartet ausgefallen, doch die beiden Brüder sind zufrieden. Und Dorin Popa hat seiner Biografie eine weitere Episode hinzugefügt, die prägt. Im Kopf ist er Buchhändler geblieben. Und hängt schon neuen Ideen nach. Ein Laden, der nur ein einziges Buch führt vielleicht. Oder ein 100-Tage-Shop mit erotischer Literatur. Auf jeden Fall aber mit Blog-Begleitung. Vielleicht das Überraschendste an Popas 100-tägiger Kaufmannsgeschichte ist sein Fazit: "Ohne das Internet wäre der Laden so nicht möglich gewesen."

"Hey, da gibt es was Neues."


Tom Eicher
"Manche meiner Kunden sehe ich nie." Der Softwareentwickler Tom Eicher kennt das Internet von Anfang an.
Längst haben Computer und Internet unseren Alltag durchdrungen, sind allgegenwärtig, selbstverständlich und unverzichtbar geworden. Und haben die Arbeitswelt wahrscheinlich radikaler, durchdringender und vor allem schneller verändert als jede andere Technologie zuvor. Sie sind zugleich Ausdruck wie Ermöglicher und Treiber einer grundlegenderen Veränderung der Industriegesellschaft: der Verschiebung vom Materiellen zum Immateriellen, von der Produktion zur Dienstleistung, von der industriellen zur Wissensarbeit. Es steigt nicht nur der Anteil an Dienstleistungstätigkeiten und Wissensarbeit in der industriellen Produktion, sondern viele Tätigkeiten verlieren - gänzlich oder zumindest auf Zeit - ihren materiellen Bezug. Sie lösen sich von einem festen Arbeitsort, an den ihre Ausführung bislang gebunden war, ebenso wie von festen Organisationseinheiten. Projektarbeit ist das zeitliche Pendant einer zunehmend ortsungebundenen Arbeit. Einer Arbeit, die prinzipiell überall getan werden kann: im Zug, zu Hause, beim Kunden, im Hotel.
Um wirklich zu begreifen, welche Veränderungen sich da in welch kurzer Zeitspanne vollzogen haben, muss man sich vergegenwärtigen, wie kurze Zeit es das Web eigentlich erst gibt. Oder mit jemandem sprechen, der seine Entwicklung von Anfang an miterlebt hat. Zum Beispiel Tom Eicher, 34, Softwareentwickler. Seit 1995 ist er freiberuflich tätig, hat zwischenzeitlich bei einer Softwarefirma gearbeitet, wo er vor allem bei externen Kunden eingesetzt wurde. "Body Leasing" nennt man das in der Branche. Seit vier Jahren arbeitet er ausschließlich auf eigene Rechnung, denn "als Freelancer verdient man mehr", sagt er. Einen Großteil seiner Arbeitszeit ist er für ein großes Unternehmen tätig, für das er Software für Workflow und Logistik entwickelt, daneben arbeitet er für verschiedene Kunden, von der einfachen Website-Betreuung bis hin zu komplexen Content-Management-Systemen für Web-Portale. Im Internet war er von Anfang an dabei. Er und seine Freunde waren bereits "in Mailboxen unterwegs", als sich Anfang der 90er-Jahre die Kunde verbreitete: "Hey, da gibt es was Neues: Internet." Tom Eicher engagierte sich in der Bürgernetz-Bewegung, verdiente mit dem neuen Medium sein erstes freiberuflich erarbeitetes Geld, programmierte für eine Volkshochschule die erste Online-Kursbuchung in Bayern. Von Anfang an war das Internet für ihn nicht nur Medium und Arbeitsgegenstand, sondern auch Arbeitsmittel. Wenn er extern bei Kunden arbeitete, war es für ihn selbstverständlich, Sicherung und Abgleich der Daten über das Netz abzuwickeln: Schnell den aktuellen Stand der Programmierung komprimieren und die Dateien elektronisch auf den eigenen Server laden oder sich an die eigene Mail-Adresse mailen - so war immer der aktuelle Stand der Entwicklungsarbeit zentral abgelegt. Und überall verfügbar.

Monaden im Netz.


Heute, da Speicherplatz im Netz quasi unbeschränkt zur Verfügung steht und es massenhaft Tools für die Speicherung und Übermittlung von Daten gibt, mutet das selbstverständlich an. Doch das ist es erst geworden - durch Lead-User wie Tom Eicher und ihre selbstverständliche Nutzung der neuen Technologie. Weil sich die neuen Technologien so rasend schnell verbreiten, geraten die fundamentalen Veränderungen, die sie provozieren, nur allzu leicht aus dem Blick: Das digitale Netz als Speichermedium macht die Ergebnisse von (Wissens-)Arbeit nicht nur unabhängig von einer materiellen Zwischenspeicherung, sondern hält sie überall verfügbar. Damit wird geistige Arbeit potenziell unabhängig von einem festen Arbeitsort. Sie kann überall getan werden. Ortsunabhängig arbeiten, in diese Richtung drängt auch die Entwicklung bei der Hardware - auch das eine Veränderung, die sich mehr im Horizont von Jahren als von Jahrzehnten vollzieht, gleichwohl aber unmittelbar alltäglich wird.
Kein Wunder, dass mobiles Arbeiten schnell zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Man ist permanent erreichbar, loggt sich von egal wo in sein Firmennetzwerk ein, hat alle wichtigen Daten auf seinem Notebook dabei, ist per Handy oder digitalem Assistenten immer und überall erreichbar, kann von jedem Ort aus arbeiten. Wie ein Geschäftspartner von Tom Eicher, ein Dienstleister für Netzwerkmanagement und Internet-Dienste, der das (deutsche) Winterhalbjahr über im thailändischen Ko Samui arbeitet. Für seine Kunden ist es egal, wo er sich gerade befindet - weil eben alles über das Netz läuft. So kam auch der Geschäftskontakt mit Tom Eicher über die Online-Community Xing zustande. Bei dem läuft es nicht anders. Tom Eicher sagt: "Manche meiner Kunden sehe ich nie."
Das ist die eine Seite ortsunabhängigen Arbeitens: Kunden, die man nie zu Gesicht bekommt, Geschäftskontakte, die über Online-Netzwerke zustande kommen, Arbeit, die man überall tun kann. Geschäfte zwischen Monaden im Netz, zwischen nomadisierenden digitalen Wissensarbeitern, die mal hier, mal dort arbeiten, aber überall erreichbar sind. Die andere Seite, das ist Arbeit mit Menschen. Intensive, persönliche, vertrauensvolle Arbeit, die ohne das Sichgegenübertreten von Angesicht zu Angesicht, ohne die Begegnung von Mensch zu Mensch nicht möglich ist. Und die zuweilen eine zwischenmenschliche Intensität erreicht, die früher dem privaten Kontakt zwischen Menschen vorbehalten war: Beratung, Training, Coaching. Doch auch hier, wo Arbeit darin besteht, dass Menschen miteinander in Beziehung treten, ist ihre Ausführung immer weniger an einen festen Arbeitsort gebunden. Denn reden kann man auf der Couch, am Esszimmertisch, im Café, im Business Center oder auf einer Wiese im Park. Womit ziemlich vollständig die Arbeitsorte von Bettina Sturm umrissen wären.

Arbeiten im Möglichkeitsraum.


Bettina Sturm
Arbeiten im Möglichkeitsraum: Bettina Sturm sucht ungewöhnliche Orte - und macht sie zu ihren Arbeitsorten.
München, Georgenstraße. Ein kalter Wind weht durch die Straße mitten in Schwabing. Rechts und links Bürgerhäuser aus der Gründerzeit. Läden, Cafés, Eckkneipen im Erdgeschoss, in den Etagen darüber Wohnungen. Ein kleiner Designladen, hatte Bettina Sturm gesagt. Dort steht sie dann auch, eine zierliche Frau im weißen Daunenparka, und wartet vor dem Eingang. Und schaut ein wenig strafend: "Sie sind zu früh!" Derweil wird von innen die Ladentür aufgesperrt, es ist Alexander Schlicht, der Inhaber. Schlicht handelt mit ausgewählten Möbelstücken, sein kleiner Laden "Schlichtes Design" ist voll davon: Vitrinen mit Kunstobjekten darauf, Kommoden, Tische und Regale, alles handverlesene Stücke, arrangiert mit einer individuellen Note. Ein paar Stufen führen hinauf zu einer zweiten, etwas erhöhten Verkaufsfläche. Dort stehen ein Sofa, eine Kommode, ein kleiner Tisch und zwei Stühle - ein Laden, fast wie ein Wohnzimmer.
Doch an diesem Vormittag bleibt die Ladentür verschlossen, gehört der Laden Bettina Sturm. Sie stellt ihre große Tasche auf einen Stuhl und packt aus. "Eigentlich wollte ich das schon vorbereiten", sagt sie, "aber Sie sind ja schon da." Zu früh. Kurzerhand verpasst die zierliche Frau mit dem kurz geschnittenen Blondschopf dem Wohnzimmerambiente des Ladens ihre persönliche Note. Ein Glas mit Lollis darin, eine Schale mit Smarties, zwei große Tassen und eine Thermoskanne mit dampfendem Tee, schon ist der Besprechungstisch gerichtet. Heute für unser Interview, sonst für die Coachingsitzungen, die Bettina Sturm in dem kleinen Laden abhält. Und mit denen sie ihr Geld verdient. Bettina Sturm ist selbständig, ein Ein-Frau-Betrieb mit Schwerpunkt Karriere- und Führungskräfte-Coaching. "dein copilot" steht auf der in warmem Ocker gehaltenen Visitenkarte, daneben ein kleiner stilisierter Flieger. Eine kleine zweisitzige Maschine, wie man sie beim Kunstflug benutzt. Ihre Kunden sollen lernen, in ihrem Leben den Steuerknüppel selbst zu führen. Sollen fliegen lernen. Deshalb nennt sie sie Piloten. Sie versteht sich als Kopilotin. Klar ist aber: "Wenn der Pilot keine Eigenverantwortung übernimmt, dann wird das auch nichts." Sagt sie und nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse.

Ganz klassisch am Esstisch.


Mit ihrer eigenen Karriere hat sie einige Loopings hingelegt. Hotelfachfrau, Betriebswirtschaftsstudium, Fachkraft für Servicequalität und Prozessorientierung, Headhunterin, einige Auslandsaufenthalte, Personalleiterin, Babypause - und dann der Sprung in die Selbständigkeit als Coach für Fach- und Führungskräfte. Gegründet hat sie ihre Firma "vom Sofa aus". Ihre Coachingsitzungen hielt sie anfangs im häuslichen Wohnzimmer ab, "ganz klassisch am Esstisch, schön hergerichtet".
Leben und arbeiten am selben Ort, für viele Freiberufler, Freelancer, Solo- und Kleinunternehmer nichts Ungewöhnliches, doch haben die meisten dieser Homeoffice-Arbeiter keinen ständigen Kontakt mit Kunden. Beim Coaching aber ist das Voraussetzung. Dass die Sitzungen in ihrer Privatwohnung stattfanden, habe niemanden gestört, erinnert sich Bettina Sturm. Im Gegenteil: "Das gab Stoff für Gespräche." Sie war es dann, der die Liaison zwischen Geschäft und Privatem zu eng wurde. "Coaching neben dem Weihnachtsbaum", das war auf Dauer keine Perspektive. Bettina Sturm suchte nach Alternativen. Für Gruppen bot ein Business Center in der Münchner Innenstadt, ein Start-up wie das ihre, eine Alternative. "Aber Einzelcoaching in einem Zehn-Personen-Besprechungsraum mit Stahlmöbeln - so richtig sexy war das nicht!" Eine Ausweichmöglichkeit fand die findige Jungunternehmerin in Cafés, wo sich vormittags immer eine ruhige Ecke bot - und der Nachmittag gehört ohnehin dem Sohn.
Ihren Klienten gefiel die Kaffeehaus-Atmosphäre. Keine Büromöbel, keine sterilen Besprechungsräume, ein Ambiente abseits des gewohnten Arbeitsalltags. Für Bettina Sturm war das Bestätigung. Und Ermutigung, einen Schritt weiter zu gehen: "Dann kann ich auch in den Englischen Garten gehen", dachte sie. Coaching mit Kaffee, Croissants und Picknickdecke auf einer Wiese in Münchens großem Landschaftspark war Bettina Sturms ausgefallenste Idee. Dann kam die Sache mit dem Designladen, auch er nur eine Durchgangsstation. Bettina Sturm ist jederzeit bereit, weiterzuziehen, strickt an neuen Ideen, hält Ausschau nach neuen, ungewöhnlichen Locations: "neue, witzige Orte", an denen sie die Zelte ihres Büro-Nomadentums aufschlagen kann. Neuerdings hat sie bei einer Goldschmiedin Unterschlupf gefunden. Und Läden, die nur zeitweise geöffnet haben, gibt es zuhauf.
Arbeit hat sich für Bettina Sturm komplett von festen Arbeitsorten gelöst. Statt eines Büros oder einer Praxis hat sie sich ein Portfolio von Locations zurechtgelegt, das sie flexibel und klientenbezogen nutzt: Möglichkeitsräume für ihre Arbeit, ein Mini-Universum aus Orten, an denen sich arbeiten lässt. Orte, die erst dadurch, dass Bettina Sturm sie in Beschlag nimmt, zu Arbeitsorten werden. Und die dann, wenn sie ihren Kunden verabschiedet und ihre Utensilien wieder verstaut hat, wieder zu dem werden, was sie ursprünglich waren: ein Designladen, ein Café, eine Wiese, eine Goldschmiedewerkstatt. Vielleicht bald auch ein Hut- oder Taschenmacherladen.

Arbeit ist, wo ich bin.


Arbeiten an wechselnden Orten, das wird für immer mehr Menschen zur Normalität. Das gilt nicht nur für die mobilen Firmenmitarbeiter, die einen guten Teil ihrer Arbeitszeit auf Geschäftsterminen außerhalb der Firma verbringen und sich von jedem Internet-Anschluss in das Firmennetzwerk einloggen können, so als säßen sie am Schreibtisch. Vor allem gilt das für die wachsende Zahl von Solo-Selbständigen, die oftmals gar keinen festen, für die Arbeit reservierten Ort mehr haben. Wenn es hochkommt, gibt es ein Arbeitszimmer, dessen Tür sich zumachen lässt, wenn es Feierabend ist. Meist aber vermischt sich auch dort Privates und Geschäftliches, liegen die Sportklamotten neben dem Schreibtisch, wird der Esstisch zum Arbeitsort für die entspannteren Arbeitsstunden. Für viele hat sich die Ortsgebundenheit von Arbeit komplett aufgelöst. Für sie gilt: Arbeit ist, wo mein Notebook ist. Arbeit ist, wo es WLAN gibt. Arbeit ist, wo ich bin. Möglich wurde dies in dem Maße, wie Arbeit sich entstandardisiert und individualisiert, also die ganz persönliche Kombination von Fertigkeiten, Qualifikation und Wissen in den Mittelpunkt rückt. Aber sie ist nicht zuletzt auch ein Produkt der technologischen Entwicklung. Was da was bedingt hat, ist, wie so oft, alles andere als klar. Schon oft in der Historie traten technische Neuerungen eben zu dem Zeitpunkt auf den Plan, als sie von der Art zu arbeiten und zu produzieren her notwendig oder sinnvoll erschienen. Oder anders herum.
Die neuen Flexiblen kümmert's wenig Sie blicken nicht zurück auf das, was war. Sondern nutzen die neuen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, ja suchen sie: die Wiese, den Laden, den Strand unter dem Pflaster. So träumt Dorin Popa von einem neuen Pop-up-Store, Tom Eicher vom Office mit Meerblick. Und Bettina Sturm streift mit offenen Augen durch die Stadt, stets auf der Suche nach neuen ungewöhnlichen Adressen. Und unsere Arbeitswelt verändert sich alltäglich. Und täglich immer mehr.

Winfried Kretschmer ist leitender Redakteur und Geschäftsführer bei changeX.

© changeX [16.04.2008] Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.

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Autor

Winfried Kretschmer
Kretschmer

Winfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.

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