In einer komplexitätserschließenden Welt
Bisher ist Komplexität nur verschieden reduziert worden, nun geht es darum, sie zu erschließen. Das ist die Kernaussage des neuen Buchs von Wolf Lotter. Das aber erfordert, neu zu lernen, in Zusammenhängen zu denken. Zusammenhänge neu zu denken. Und Verstehenwollen und Verstehenkönnen in den Mittelpunkt zu rücken.
Wenn viele Menschen meinen, die Welt nicht mehr zu verstehen - liegt das dann an der Welt oder an der Denkweise, mit der sie zu verstehen versuchen? Auf jeden Fall ist etwas verloren gegangen: das Gefühl, im Einklang mit der Welt zu sein. Der Zusammenhang zwischen Ich und Welt.
Zusammenhänge heißt das neue Buch von Wolf Lotter, und es will zeigen, wie diese sich in unserer unübersichtlich gewordenen Welt (wieder) herstellen lassen, ohne deren Komplexität zu verleugnen. Denn Komplexität ist die entscheidende Kategorie. Die Tür zum Verständnis der Welt. Bisher wurde Komplexität nur verschieden reduziert, es geht aber darum, sie zu erschließen. Der Schlüssel ist Kontextkompetenz. Denn Wissen entfaltet sich nur in Kontexten, in Zusammenhängen. "Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere", schreibt Lotter. Der deutsch-österreichische Journalist und Autor ist Gründungsmitglied des Wirtschaftsmagazins brand eins, für das er seit 2000 die Essays zu den Schwerpunktthemen schreibt. Mit seinen Grundsatzartikeln und Büchern ist er zum Vordenker der Entwicklung von der alten Industriegesellschaft hin zur neuen Wissensgesellschaft geworden.
Diese Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft bildet auch den großen Rahmen, in dem Lotter sein Thema aufhängt. Diese Transformation führt dazu, dass unser überkommenes Denken nicht mehr zu der sich verändernden Welt passt. Es brauche daher eine "Generalinventur unserer Weltsicht", so der Autor. Das bedeutet zuallererst, Komplexität anzuerkennen, verlangt aber auch ein Verständnis dafür, warum diese Denkweise an ihre Grenzen stößt. Beides will Lotters Buch vermitteln.
Neue Zusammenhänge schaffen
Der Industrialismus, so die zentrale These, hat in den letzten 250 Jahren unser Denken in einer extremen Weise zur Einheitlichkeit getrieben. Ein zur Einheit strebendes universalistisches Denken ist die Grundlage der materiellen Erfolge der Industriegesellschaft. Eindeutige Entscheidungsmodelle (Entweder-oder), durchgängige Arbeitsteiligkeit, Perfektion, Reproduzierbarkeit und die stetige Optimierung von Routinen sind die Prinzipien einer Produktionsweise, die nun nicht nur die Belastungsgrenzen des Planeten überschreitet. Sie hat auch ein Denken hervorgebracht, das mit der Vielfalt dieser Welt nicht mehr zurechtkommt. Die Vorstellung, Komplexität reduzieren zu können, folgt der Idee des Reduktionismus. Diese geht davon aus, ein System durch Zerlegung in seine Einzelbestandteile vollständig bestimmen zu können: indem man analysiert - und in der Konsequenz dies in immer weitergehender arbeitsteiliger Spezialisierung weitertreibt.
Hier hat der Autor den entscheidenden Punkt offengelegt: In diesem Denkmodell fehlen Synthese und Integration. Der Zusammenhang geht verloren. Es braucht daher eine andere Kulturtechnik, folgert Lotter: "die Fähigkeit, die Welt nicht mehr einfach zu reduzieren, sondern aus Möglichkeiten neue Varianten zu schaffen, neue Zusammenhänge". Komplexität sei die wichtigste Ressource der neuen Welt: Vielfalt, die Möglichkeiten eröffnet.
Die Zahl der Möglichkeiten vergrößern
Wolf Lotter weist auf einen weiteren zentralen Punkt hin: Erforderlich ist vor allem auch ein anderer Entscheidungsmodus: Statt Entweder-oder, das immer scheidet, zerlegt und einen Teil ausschließt, braucht es eine Logik des Sowohl-als-auch, die die Zahl der Möglichkeiten nicht reduziert, sondern erhöht. Das Prinzip Sowohl-als-auch ist dabei selbst auf Synthese und Integration ausgerichtet. Es schließt das Teilen und Reduzieren nicht aus, sondern schließt den vermeintlichen Gegensatz ein. Analytisches Denken und Arbeitsteilung sind Teil eines Ganzen, zu dem aber auch die Synthese gehört. Es gilt, wie der österreichisch-amerikanische Philosoph Peter Drucker gesagt hat, sowohl den Wald zu sehen als auch den einzelnen Baum. Das meint Zusammenhänge herstellen. "Wer also nicht sowohl (im Detail und Fach) als auch (im Kontext) denkt, denkt gar nicht, forscht nicht, sondern denkt nur, er denkt", das ist für Lotter die zentrale Wissensformel in der sich ausbildenden - und zu verstehenden - Wissensgesellschaft.
Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Denn meist wird die Formel "Sowohl-als-auch statt Entweder-oder" als großer Gegensatz wahrgenommen. Altes versus neues Denken. Verwischt wird dadurch aber, dass Sowohl-als-auch logischerweise auch für das Entweder-oder gelten muss. Es schließt, wenn es ernst gemeint ist, im Sinne einer Synthese den vermeintlichen Gegensatz mit ein. Das ist übrigens gute alte Dialektik. Was auf der Ebene abstrakter Prinzipien etwas sperrig wirkt, wird konkreter, wenn man es auf die Sachebene herunterdekliniert. Die Aufgabe lautet also, um Wolf Lotters oben zitierte Wissensformel noch einmal auszubuchstabieren, sowohl im Detail und im Fach als auch im Kontext zu denken. Alles andere sind falsche Gegensätze. Nicht zuletzt ist Lotters Interpretation des Sowohl-als-auch nicht bloß zeitgeistig schick, sondern erfüllt eine klare Funktion: nämlich neue Alternativen bereitzustellen und die Vielfalt zu erhöhen. Sowohl-als-auch vergrößert die Zahl der Möglichkeiten. Es schließt ein, nicht aus.
Verstehenwollen und Verstehenkönnen
Lotters Buch streitet für die Einsicht, dass "dass das Mehrdeutige, das Vielfältige, das Persönliche die Grundlage einer besseren Zukunft bildet". Das bedeutet: Die Transformation ist auch eine vom Universalen hin zum Persönlichen. Personalisierung ist für den Autor ein neuer bestimmender gesellschaftlicher Sinnzusammenhang. Hier mündet eine große Entwicklungslinie, die mit der Aufklärung begonnen hat: "die Aktivierung der Person". Selberdenken. Weil Menschen aber nicht nicht kooperieren können, wie Lotter schreibt, werden Verstehenwollen und Verstehenkönnen entscheidend: "Zusammenhänge entstehen, wo man aufeinander zugeht." Und hier wird der oft als abstraktes Prinzip proklamierte Humanismus dann plötzlich sehr, sehr konkret. Es geht um ein anderes Miteinander, eines, das den Beitrag eines anderen prima facie als Bereicherung sieht, also dem ersten Anschein nach von einer Kooperationsbereitschaft des anderen ausgeht. Was in einer durch und durch auf individuelle Leistungszurechnung getrimmten Gesellschaft sehr schwer ist. Umso wichtiger ist es, dieses Nicht-nicht-kooperieren-Können stark zu machen.
Mit seinem neuen Buch leistet Wolf Lotter wichtige Erklärarbeit. Wahrscheinlich eines der wichtigsten Bücher des Jahres.
Zitate
"Kontextkompetenz heißt, Komplexität zu erschließen, sie lauffähig zu machen für sich und für andere." Wolf Lotter: Zusammenhänge
"Zusammenhang braucht Zusammenarbeit, kollaboratives Denken und Kooperation." Wolf Lotter: Zusammenhänge
"Zusammenhänge gestalten ist Zukunft gestalten." Wolf Lotter: Zusammenhänge
"Es geht um Kommunikation, um Austausch, um gegenseitiges Verstehenwollen als Voraussetzung für das Verstehenkönnen." Wolf Lotter: Zusammenhänge
"Zusammenhänge entstehen, wo man aufeinander zugeht." Wolf Lotter: Zusammenhänge
changeX 17.12.2020. Alle Rechte vorbehalten, all rights reserved.
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Zum Buch
Wolf Lotter: Zusammenhänge. Wie wir lernen, die Welt wieder zu verstehen. Edition Körber, Hamburg 2020, 296 Seiten, 20 Euro (D), ISBN 978-3-89684-281-7
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Winfried KretschmerWinfried Kretschmer ist Chefredakteur und Geschäftsführer von changeX.
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